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Die Mär von der Unfinanzierbarkeit des Sozialstaats |
Archiv - Soziales | |
Samstag, 8. Juli 2006 | |
Stadträtin Tatjana Kaltenbeck-Michl und Sieglinde Rosenberger bei „Forum Morgenrot". Foto Fischer
„Wir können uns den Sozialstaat nicht mehr leisten", tönt es von überall her. Die Zeitungen sind voll mit Berichten im Duktus dieser Behauptung. Jahrelanges „Über-die-Verhältnisse-leben" hätte den Staat Österreich dazu getrieben, den Sozialbudget-Gürtel enger schnallen zu müssen. Einleuchtend, oder? Die Wiener Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger, die auf Einladung von Stadträtin Tatjana Kaltenbeck-Michl im Rahmen von Forum Morgenrot zu Gast in Graz war, sieht die Sachlage differenzierter. „Wer zu viel Geld ausgegeben hat, muss sparen." Mit dieser Milchmädchenrechnung versuchen PolitikerInnen der Bevölkerung das Budgetloch zu erklären und stoßen dabei oft auf kritiklose Zustimmung. „Der Haushalt eines Staates ist aber nicht mit dem einer Familie zu vergleichen", so Rosenberger, deshalb gehöre die derzeitige Situation genauer hinterfragt. „Reformen mutieren zu Sachzwängen", erklärt Rosenberger, und diese „tauchen insbesondere in Politikfeldern auf, in denen Entscheidungen über sozialstaatliche Solidarität einerseits sowie Liberalisierung und Privatisierung andererseits verhandelt werden." Die Probleme dabei: Einerseits lenken diese „Reformen" die Aufmerksamkeit in bestimmte Richtungen und verstellen so den Blick auf Alternativen, andererseits gibt Rosenberger zu bedenken: „Politische Entscheidungen, die dieser Logik folgen, legen neben dem Fehlen von Alternativen auch ihre eigene Ohnmacht gegenüber der Globalisierung nahe. Politikverlust wird suggeriert, faktisch geht damit aber ein Demokratieverlust einher." Zwei Botschaften wurden so in den vergangenen Jahren unters (europäische) Volk gebracht: „Erstens der zwingende Rückbau des Sozial- und Leistungsstaates und zweitens die Durchdringung der Gesellschaft mit Marktlogiken." Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik driften auseinander, eine Tatsache, die laut Rosenberger dazu führt, dass die Politik so tut, als hätte sie keine Gestaltungsmacht mehr und alle Schuld der Globalisierung zuschreibt. Aber, so die Politikwissenschafterin, nicht der Kapitalismus oder der Neoliberalismus haben privatisiert, all diese Entscheidungen seien politischer Natur gewesen. „Globalisierung findet statt, aber es darf infrage gestellt werden, ob damit unausweichlich der Abbau der öffentlichen Dienstleistungen einher gehen muss, ob damit tatsächlich soziale Sicherungssysteme auf private Beine gestellt werden müssen oder ob nicht ein kollektives, öffentlich-rechtliches Sicherungssystem zu besseren Ergebnissen und Leistungen führen würde." Politische Alternativen. Im Hinblick auf die Arbeit brauche es verstärkt vereinheitlichte arbeitsrechtliche Standards. Diese Standards seien auf europäischer Ebene zu formulieren und sie müssen in allen Mitgliedstaaten gelten. Zweitens fordert Rosenberger eine bedarfsorientierte Grundsicherung, und parallel dazu eine mittelschichtorientierte Politik der öffentlichen Dienstleistungen. Der Mythos vom Ende des Sozialstaates am Ende? „Ich habe den Eindruck, dass nicht zuletzt angesichts verheerender Folgen von Armut – ausgelöst durch Steuersenkung und fortschreitende Privatisierung – wir vielleicht bereits an einem Wendepunkt angelangt sind, was den Glauben an die auch in Europa bisher so viel beschworenen Reformen betrifft; dass vielleicht der „Mythos Ende des Sozialstaates" bereits dabei ist, unglaubwürdig zu werden. Initiativen, die in der Armutskonferenz gebündelt sind, haben dazu zweifelsohne bereits eine Menge beigetragen", resümiert Sieglinde Rosenberger.
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