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„Wir bilden 6000 BotschafterInnen gegen den Neoliberalismus aus“
Archiv - Soziales
Samstag, 8. Juli 2006
ImageHorst Schmitthenner, IG Metall: „Die Defensive des ÖGB ist nicht nur auf die BAWAG-Krise zurückzuführen"

Von 15. bis 17. Juni fand in Graz das Austrian Social Forum mit mehreren hundert TeilnehmerInnen statt. Bei über 100 Workshops und Veranstaltungen wurden Alternativen zur neoliberalen Politik und Ökonomie diskutiert und präsentiert.

Einer der vielen internationalen Referenten war der deutsche Gewerkschafter Horst Schmitthenner; bis 2003 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und seitdem Beauftragter des Vorstands dieser Organisation für das „Verbindungsbüro mit den sozialen Bewegungen". Mit Schmitthenner sprach KORSO-Herausgeber Christian Stenner über die notwendige Neuorientierung der Gewerkschaften.

Auch wenn wir vom Spezialfall Österreich absehen, wo die Gewerkschaften am Rande der Selbstzerstörung dahintaumeln, kann man doch feststellen: Überall in Europa gibt es Orientierungskrisen und Neuformierungsprozesse in der Gewerkschaftsbewegung. Neu-
orientierung kann aber auch eine Chance dafür darstellen, dass die Arbeitnehmervertretungen neue Bündnispartner finden …
Ja, in diesem Zusammenhang sind zwei Dinge zu bedenken: Allenthalben im neoliberal orientierten Europa werden Angriffe auf die Gewerkschaften geführt, weil sie die Durchsetzung der Marktradikalität behindern. In einer solchen Situation ist es äußerst nützlich für die Gewerkschaften, wenn soziale Initiativen und NGOs sich mit ihren Positionen auseinander setzen und zu dem Ergebnis kommen, dass Gesellschaften ohne Gewerkschaften nicht vorstellbar sind – das ist z.B. die Position der Sozialforen.
Zum Zweiten: In vielen europäischen Ländern hat die Sozialdemokratie als der traditionelle politische Arm der Arbeiterbewegung ihre Beziehung zu den Gewerkschaften aufgekündigt. Das führt einerseits möglicherweise zu neuen Parteigründungen links von der Sozialdemokratie wie in Deutschland, macht es aber für die Gewerkschaften notwendig zu begreifen, dass allein über die Arbeitskontakte zu den Parteien Politik nicht ausreichend im Interesse der Lohnabhängigen beeinflusst werden kann. Auch so gesehen brauchen die Gewerkschaften Bündnisse mit Sozialinitiativen und NGOs, um über zivilgesellschaftliche Mobilisierungen im Bündnis mit anderen Organisationen die Politik beeinflussen zu können.

Gibt es in Deutschland dafür konkrete Beispiele?
Ja, die IG Metall hat eben beschlossen, 6000 „BotschafterInnen gegen den Neoliberalismus" auszubilden. Das sind FunktionärInnen, die sich vor Ort in Veranstaltungen mit der neoliberalen Theorie und Praxis auseinander setzen werden. Das Spannende daran ist, dass Konzept und Ausbildung gemeinsam mit ATTAC, der katholischen Arbeitnehmerbewegung, der Caritas und der Diakonie erarbeitet wurden und dass wir auch die Veranstaltungen gemeinsam organisieren werden.

Die aktuelle Schwäche der Gewerkschaften hat auch strukturelle Gründe …
Die defensive Haltung beruht auf der hohen Arbeitslosigkeit und der Zunahme der prekären Beschäftigung, weil sich prekär Beschäftigte wesentlich schwieriger organisieren lassen als Beschäftigte in so genannten Normalarbeitsverhältnissen. Dort, wo Gewerkschaften in Europa zugelegt haben, nämlich in den skandinavischen Ländern und in Frankreich, geht das einher mit dem Zuwachs normaler Beschäftigung. Nicht, dass die Gewerkschaften den Beschäftigungszuwachs hundertprozentig organisieren konnten – aber es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Stärkung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades und der Beschäftigungszunahme. Von diesem Zusammenhang gibt es eine Ausnahme, und das ist Österreich. Hier hat die Beschäftigung zu- und der gewerkschaftliche Organisationsgrad abgenommen. Das zeigt, dass die Defensive des ÖGB nicht nur auf die BAWAG-Krise zurückzuführen ist.
In der IG Metall konnten wir übrigens den Mitgliederrückgang dadurch abbremsen, dass wir unser politisches Mandat als Reformkraft verstärkt wahrnehmen, dadurch sind wir auch für prekär Beschäftigte und Arbeitslose attraktiv.

Gibt es in Deutschland Ansätze zur Organisation prekär Beschäftigter?
Diesbezüglich gibt es wenig entwickelte Konzepte, zumindest hat aber das Problembewusstsein stark zugenommen. So hat etwa bei uns die Bauarbeitergewerkschaft den Verband der Wanderarbeiter gegründet – das sind diejenigen, die aus verschiedenen Ländern kommend über ganz Europa verteilt arbeiten. In meiner Organisation gibt es eine Diskussion darüber, wie man die Konkurrenzsituation zwischen fest Angestellten und den immer mehr zum Einsatz kommenden Leiharbeitern verringern kann. Vor allem gehen die Diskussionen aber, wie schon gesagt, dahin, über eine stärkere politische Profilierung deutlich zu machen, dass Gewerkschaften auch die Interessen von Arbeitslosen, Teilzeitbeschäftigten und von 1-Euro-Job-InhaberInnen auf der ökonomischen und politischen Ebene vertreten.

In Österreich wird die Gewerkschaft jetzt zusätzlich zu den selbst verschuldeten Kalamitäten von der Spitze der Sozialdemokratie geschwächt; führende SP-GewerkschafterInnen dürfe nicht mehr Abgeordnete sein…
Ja, das bedeutet aber, dass es für die Gewerkschaften noch schwieriger werden wird, z.B. prekär Beschäftigte zu gewinnen, weil sie diese ja primär auf der politischen Ebene vertreten müssen. Es ist also umso mehr notwendig, dass die Gewerkschaften diese Lücke durch eine eigenständige Positionierung schließen.

Worin liegen ihrer Ansicht nach die systemimmanenten Ursachen für den BAWAG-Skandal, wie kann man sie bekämpfen?
Als Bundesrepublikaner kann ich auf die Gründe für die Neue-Heimat-Affäre des DGB verweisen und auf die Konsequenzen, die daraus gezogen wurden. Die Gründe liegen primär im falschen Glauben, dass man durch die Nische der Gemeinwirtschaft die kapitalistische Ökonomie beeinflussen könne; in Wirklichkeit dringen über kurz oder lang die Bedingungen des Kapitalismus in diese Nische ein. Die wichtigste Konsequenz bestand darin, dass man die Kontrollelemente – was geschieht mit den Beiträgen, was wird wofür ausgegeben, welche Entscheidungen werden in Unternehmen getroffen, die den Gewerkschaften gehören – gestärkt werden müssen und dass darüber eine offenen Diskussion geführt werden muss. Die demokratischen Strukturen in den Gewerkschaften müssen verbessert werden, das bezieht sich einerseits auf die Debatte über die inhaltlichen Positionierungen, aber auch auf die Verwendung der Mittel. Und schließlich muss es demokratische Wahlen zu den Vorständen geben, diese nach Fraktionsstärke zu besetzen halte ich nicht für den richtigen Weg.

Wie steht es in Deutschland um die Geheimhaltung des Streikfonds?
Der ist natürlich auch bei uns geheim; 10% der Beitragseinnahmen gehen in diesen Streikfonds. Der Unterschied zu Österreich besteht darin, dass ein von Gewerkschaftstag zu Gewerkschaftstag gewähltes Kontrollgremium Einblick in die Höhe und Anlageform dieser Gelder hat. Es ist also nicht möglich, dass ein einzelnes geschäftsführendes Vorstandsmitglied über die Anlage entscheidet.

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