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„Es geht nicht nur um ökonomische Fragen, sondern auch um Demokratie"
Archiv - Eine Welt
Sonntag, 11. Juni 2006
Image Ruben Linares, einer der nationalen Koordinatoren der neuen venezolanischen Gewerkschaft UNT (Union Nacional de Trabajadores), weilte anlässlich des Wiener Lateinamerika-Alternativen-Gipfels „Enlazando Alternativas" in Wien und Graz. Die Präsident Chávez nahe stehende Gewerkschaft organisiert inzwischen nach eigenen Aussagen die Mehrheit der venezolanischen ArbeitnehmerInnen.
KORSO-Herausgeber Christian Stenner führte ein ausführliches Gespräch mit dem Gewerkschaftsführer, das wir im Folgenden auszugsweise wiedergeben.

Welche gesellschaftlichen Veränderungen hat es in Venezuela seit der Wahl von Chávez zum Staatspräsidenten gegeben – und welche sind zu erwarten?
Die drei wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre sind folgende: Erstens: Das Volk trifft die Entscheidungen und bestimmt die Gesetze mit. Der Präsident regiert, indem er sich dem Willen des Volkes unterordnet. Die zweite wichtige Veränderung bezieht sich auf das Gesundheitssystem. Vor dem Jahr 2002 waren 60 Prozent der Bevölkerung völlig von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen, sie hatten noch nie in ihrem Leben einen Arzt gesehen. Das Gesundheitssystem basierte auf privater Finanzierung, was soviel bedeutet, dass sich nur ein kleiner Teil der Menschen medizinische Versorgung leisten konnten. Jetzt hat die Bevölkerung einen 100-prozentigen Zugang zum Gesundheitswesen, sowohl was Prävention als auch was Heilung betrifft. Zum dritten haben die Vereinten Nationen vor kurzem erklärt, dass es in Venezuela keine Analphabeten mehr gibt. Das ist eine bedeutsame Änderung im Vergleich zu 2002, wo noch über zwei Millionen erwachsene VenezolanerInnen weder lesen noch schreiben konnten.

Nun erklärt zwar Chávez sich auf der einen Seite als Anhänger egalitärer Bestrebungen und verkündet, der Sozialismus werde die regierende Ideologie des 21. Jahrhunderts sein. Auf der anderen Seite gibt es aber Stimmen, die sagen, dass sich trotz eines immensen Wirtschaftswachstums – angeblich 17% im Jahr 2005 – nichts an der Einkommensverteilung geändert hat …
Ich denke, es wäre unfair, wenn gefordert würde, dass in wenigen Jahren das gutgemacht werden muss, was sich in vier, fünf Jahrzehnten verfestigt hat, während der es ein bürgerliches, offen rechtslastiges Zwei-Parteien-System gegeben hat, ein System, wo der Kapitalismus die Regeln vorgegeben hat und das verhindert hat, dass die immensen Rohstoffvorkommen wie Erdöl, Gold, Eisenerz und Bauxit der Bevölkerung zu Gute kommen. Ich habe vorhin die die Sozialprogramme zur Alphabetisierung und zur Gesundheitsversorgung erwähnt, wo viel passiert ist; aber es geht nicht nur um diese ökonomischen Fragen oder die Auswirkungen der Sozialprogramme, sondern auch um Politik, um Demokratie. Venezuela ist laut seiner neuen Verfassung keine repräsentative, sondern eine so genannte partizipative Demokratie, an der sich die gesamte Bevölkerung direkt beteiligen kann.

Wie stark ist die UNT eigentlich in jenen Sektoren, wo es lange Zeit gelbe Gewerkschaften gegeben hat wie in der Erdölindustrie? Wie wird sie sich als der Regierung nahe stehende Organisation verhalten, wenn es zu Konflikten mit dem Arbeitgeber Staat kommt?
Ich würde sagen, neun von zehn Arbeitern sind chavistisch, das bedeutet aber nicht, dass sie darauf verzichten würden für ihre Forderungen im Rahmen der Verfassung zu kämpfen, die dieser Präsident geschaffen hat und die wir akzeptieren. Unsere Forderungen stellen wir an alle, die den ArbeitnehmerInnen gegenüber als Chef auftreten, egal ob privat oder Staat. Die UNT ist ein autonomer Gewerkschaftsverband, der nach Einheit strebt und eine Klassenposition einzunehmen versucht, aber sie ist auch ein revolutionärer Gewerkschaftsverband. Wir verhandeln Kollektivverträge und Arbeitsverträge, aber wenn es nötig ist mit aller Härte in den Arbeitskampf zu ziehen, dann tun wir das und das erlaubt uns die Verfassung auch.

Mit Chávez in Venezuela und Morales in Bolivien sind zwei Männer an die Macht gekommen, die zumindest verbal versichern, dass sie Ernst machen wollen mit sozialen Reformen und Schluss mit der Abhängigkeit von den USA. Kirchner in Argentinien, Lula in Brasilien und Bachelet in Chile sind weniger radikal, aber stehen doch eindeutig links. In Mexiko und Peru könnten mit den nächsten Wahlen ebenfalls politisch ähnlich positionierte Mehrheiten zustande kommen … Was bedeutet das für die geopolitische Ausrichtung Lateinamerikas und die Integration nach innen?
Ein wichtiger venezolanischer Dichter und Liedermacher, Alí Primero, hat einmal gesagt. Der Kapitalismus ist letztlich die Ursache für all die Übel, an denen wir in Lateinamerika leiden. Unter Kapitalismus ist in Lateinamerika vor allem der nordamerikanische Kapitalismus und dessen imperialistisches Eingreifen in Lateinamerika zu begreifen, das zu einem ständigen Raub an den Reichtümern des Kontinents führt. Wenn wir uns etwa die Bodenschätze ansehen, so gehören sie den Lateinamerikanern, so lange sie unter der Erdoberfläche liegen, sobald aber ein Tropfen Erdöl oder ein Gramm Erz oder ein Korn Bauxit an die Erdoberfläche befördert wird, befindet es sich in der Hand amerikanischer Konzerne, die sich diese Rohstoffe aneignen; das ist der Grund für die unglaubliche Armut in Lateinamerika. Es ist zweifellos nicht uninteressant, welche Integrationsbewegungen es zwischen den Regierungen Lateinamerikas gibt, aber viel wichtiger erscheint mir die Integration, die hier auf viel allgemeinerer Ebene stattfindet: Die Integration von Menschen, von Individuum zu Individuum, von Bevölkerung zu Bevölkerung. Da gibt es eine dichte Vernetzung und einen immer regeren Austausch von Gütern und Ideen. Kuba ist noch immer nicht gefallen, Venezuela macht es jetzt auch anders, wir verkaufen Erdöl nicht mehr nur für Geld, sondern tauschen es gegen anderes, nach dem Motto: „Ich habe Erdöl, du hast Ärzte; ich brauche Ärzte, du brauchst Erdöl." Es gibt viele Regionen in Lateinamerika, die sich gegenseitig ergänzen – das streben wir an.

Wie werden die Wahlen im Dezember ausgehen?
Wenn sich überhaupt ein Kandidat der Opposition bewirbt – das ist noch nicht klar –, dann bekommt Chávez meiner Meinung nach 65 Prozent.

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