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„Entweder Arbeitszeitverkürzung oder Grundsicherung – daran führt kein Weg vorbei“
Archiv - KORSO Sozial FORUM - Schwerpunkt: Sozialstaat
Donnerstag, 1. Juni 2006
ImageMit dem steirischen Sozialreferenten LH-Stv. Dr. Kurt Flecker sprach KORSO-Herausgeber Christian Stenner über Perspektiven des Sozialstaates auf regionaler und europäischer Ebene – und welche Schritte aktuell zu seiner Rettung nötig sind.

Der Sozialstaat ist aus verschiedenen – v.a. politisch motivierten Gründen – in Verruf gebracht worden. Hand in Hand damit geht eine Begriffsumdeutung: Wenn der Sozialstaat überhaupt positiv gesehen wird, dann als Hilfsinstrumentarium für die Ärmsten der Armen – was aber nicht der ursprünglichen Idee entspricht.

Die herrschenden Kräfte sehen heute den Sozialstaat als Klotz am Beim im Standortwettbewerb – das ist eine perverse Umkehr humaner Grundsätze, weil diese Ideologie bedeutet: Die Wirtschaftsmächte bestimmen über den Menschen, Wirtschaft steht nicht im Dienst der Menschen, sondern ist nur profitbestimmt – und der Mensch muss sich diesem Gewinnstreben anpassen. Ich glaube, dass ein echter Gegenschub überfällig ist, und ich bin ein wenig bedrückt, dass die Gegenmodelle, die von der Sozialdemokratie kommen, rein defensiv sind. Die Entwicklung geht leider genau in die skizzierte Richtung: Die ganz Armen sollen vor dem Verhungern bewahrt werden, die Krankenkassen müssen in ihren Grundfunktionen erhalten bleiben und von der Pensionsversorgung soll nicht mehr als eine Grundvorsorge übrig bleiben.
Ich bin der Ansicht, dass auf europäischer Ebene in der Verfassung ein Gegenmodell zu diesen Entwicklungen festgeschrieben werden sollte – nur sehe ich leider derzeit die handelnden Personen nicht, die das durchsetzen könnten. Die Sozialdemokratie ist diesbezüglich nicht auf einer Linie, die Grünen sind in dieser Frage unberechenbar und den Linksparteien fehlt es an Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft. Das ist also ein eher pessimistischer Befund.

Sie haben jetzt eigentlich schon die Frage beantwortet, die ich abschließend stellen wollte – nämlich die nach der europäischen Dimension des Sozialstaates. Kehren wir also zur regionalen Ebene zurück: Als Sozialreferent versuchen Sie – so weit dies in einem Bundesland überhaupt möglich ist – eine Politik umzusetzen, die Anspruchsberechtigung auf soziale Leistungen gesetzlich festschreibt und diese nicht als Almosen versteht.

Ja, das haben wir im Behindertenbereich mit dem Steiermärkischen Behindertengesetz versucht und jetzt im Wohnbereich mit der Wohnbeihilfe Neu. Für den Bereich des Arbeitsmarktes habe ich ein neues Vorhaben in petto, das auch versucht, sozialstaatlichen Prämissen gerecht zu werden, und das vorerst in Form eines Pilotprojektes im Bezirk Bruck im Sommer umgesetzt werden soll. Damit sollen Langzeitarbeitslose, aber auch SozialhilfeempfängerInnen angesprochen werden. Ein Expertenkomitee soll sie bei der Lebensplanung unterstützen, sie sollen all jene Unterstützung bekommen, die sie benötigen – vom Entzug – falls es sich um Suchtkranke handelt – über psychologische Betreuung bis zu Schulungsmaßnahmen; alles, was sie benötigen, damit sie den Anforderungen des Arbeitsmarktes gewachsen sind.
Auch hier ist mein Ziel, dass letztendlich ein Rechtsanspruch auf diese Form der Unterstützung festgeschrieben wird.

Das entspricht dem finnischen Modell der Unterstützung so genannter Problemgruppen am Arbeitsmarkt.

Ganz genau. Das ist auch im Rahmen der Kompetenzen des Landes möglich. Das zentrale Problem der Landessozialpolitik liegt ja darin, dass wir in eine Situation gedrängt werden, die ursprünglich nie so gedacht war: Wir sollen das subsidiäre Instrument der Sozialhilfe quasi als Grundsicherung einsetzen. Noch einmal: Das war nie so gedacht, und das übersteigt auch die finanziellen Möglichkeiten der Länder und Gemeinden.

Hier ist klarerweise die Bundespolitik gefragt, und weil sich die Problemlage ja überall ähnlich darstellt, auch die gesamteuropäische Politik ...

Ja, die Diagnose ist ohnehin klar: Es gibt zunehmend Working Poor, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt – also jener Menschen, die einfach nicht mehr ins System der Sozialversicherung hineinkommen. Hier muss nachjustiert werden. Wenn das Versicherungssystem nicht mehr funktioniert und nicht mehr ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sind, dann muss man über eine differenzierte Grundsicherung nachdenken – ich treffe mich da über weite Strecken mit den Grünen. Differenzierte Grundsicherung heißt für mich, dass die Menschen einerseits für den Arbeitsmarkt fit gemacht und gehalten werden sollen – ich glaube, das sollte immer noch das erste Ziel sein – dass aber für jene, die es trotzdem nicht schaffen, ein menschenwürdiges Grundeinkommen geschaffen werden muss.

Die Forderung nach einem Grundeinkommen wirft auch immer die Frage nach dessen Finanzierung auf – und im Kontext unseres Gesprächsthemas stellt sich da natürlich auch die generelle Frage nach der Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen.

Ja, und ihre Beantwortung setzt eine grundsätzliche Entscheidung voraus: In den letzten 20 Jahren ist die Produktivität in der Industrie gewaltig angestiegen, es wird nur mehr ein Bruchteil der Arbeit für die gleiche Produktionsmenge benötigt. Sollen nur der Eigentümer vom Fortschritt profitieren oder auch die arbeitenden Menschen? Wenn wir diese Frage mit ja beantworten, führt kein Weg an einer Arbeitszeitverkürzung vorbei. Damit kämen mehr Menschen in Arbeit, viele Sozialausgaben würden überflüssig. Der zweite Finanzierungsweg führt über eine Wertschöpfungsabgabe und der dritte muss dort ansetzen, wo mit Geld Geld gemacht wird. Heute zahlen ja fast nur mehr die Arbeitnehmer Steuern, alle anderen flüchten in Finanzanlagen, für die fast keine Abgaben mehr bezahlt werden müssen. Eine Besteuerung von Finanztransaktionen ist heute zwar bereits in aller Munde – ihre Realisierung scheint aber nach wie vor weit entfernt.

Noch einmal: Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht mehr, und darum funktioniert auch das auf der Erwerbsarbeit beruhende Sozialversicherungssystem nicht mehr. Wenn man nicht bereit ist, dieses Problem durch Arbeitszeitverkürzung zu lösen, dann muss man eben eine Grundsicherung einführen. Und das ist Aufgabe des Bundes, weil Länder und Gemeinden das finanziell nicht schaffen werden.

Wenn die Grundsicherung nur deswegen kommt, weil die Arbeitnehmervertretungen zu schwach waren, die Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen – ist dann nicht zu befürchten, dass sie auch nicht stark genug sind, eine Grundsicherung in menschenwürdiger Höhe zu erreichen? Wenn sie überhaupt eingeführt wird, würde sie dann wahrscheinlich bloß das nackte Überleben sichern …

Nun, ich denke schon, dass die Sozialdemokratie dafür sorgen würde, dass die Grundsicherung nicht allzu elend ausfällt.
Und ich denke, dass auch in der ÖVP Mehrheiten für ein solches Modell zustande kommen könnten, wenn auch aus anderen Gründen – und sei es nur, dass befürchtet wird, dass Menschen, die aus der Gesellschaft rauszufallen drohen, zu radikalen Antworten gelangen könnten.

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