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"Der Sozialstaat des 21. Jhdt. kann nicht mit den Mitteln des 19. Jhdt. finanziert werden" |
Archiv - KORSO Sozial FORUM - Schwerpunkt: Sozialstaat | |
Donnerstag, 1. Juni 2006 | |
Leistungsspektrum und Mittelaufbringung des Sozialstaates müssen den aktuellen Erfordernissen angepasst werden, fordert der Wiener Politologe und Sozialstaatsexperte Univ.-Prof. Dr. Emmerich Tálos im Gespräch mit Christian Stenner.
In Österreich gibt es eine starke sozialstaatliche Tradition, die über lange Zeit sozialpartnerschaftlich abgesichert war. Ja, auf politischer Ebene herrschte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Konsens darüber, dass staatliche Steuerung und staatliche Eingriffe nötig sind, um breiten Bevölkerungsschichten die Chance der Teilnahme an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dieser Konsens hat sich unabhängig von der jeweiligen Regierungskonstellation in einer starken Expansion sozialstaatlicher Leistungen niedergeschlagen. Vor allem der Adressatenkreis der Sozialversicherung hat sich in dieser Periode beträchtlich vergrößert, die Pensions- und Krankenversicherung wurden auf immer mehr Gruppen wie Bauern oder Selbstständige ausgeweitet. Welche Ursachen stehen hinter der Abkehr vom jahrzehntelangen sozialstaatlich orientierten politischen Konsens? In den achtziger Jahren kam es in den USA und Europa zu einer Wende des gesellschaftspolitischen Mainstreams in Richtung neoliberaler Positionen, die in Zusammenhang mit geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie Standortwettbewerb und Druck auf die öffentlichen Budgets stand – wobei das nicht als Automatismus verstanden werden darf: Man hätte politisch auch anders reagieren können. Erste Sparpakete gab es zwar – auch unter dem Druck des EU-Beitritts und der Übernahme der Maastricht-Verpflichtungen – schon unter der großen Koalition der neunziger Jahre; der eigentliche Bruch mit dem Nachkriegs-Konsens erfolgte aber erst mit dem schwarz-blauen Regierungsprogramm 2000 – einem eindrucksvollen Dokument eines Mixes von neoliberalen und konservativen Positionen. Besonders aussagekräftig ist der darin enthaltene Passus, der Sozialstaat solle in erster Linie den Bedürftigen zugute kommen – wer so formuliert, grenzt sich von den Positionen ab, die bis in die neunziger Jahre von allen politisch relevanten Kräften geteilt wurden. Warum hat die ÖVP, deren ursprüngliche Kernschichten wie Bauern und kleine Gewerbetreibende ja auch vom sozialstaatlichen Konsens profitierten, diese Wende vollzogen? Während der Anteil der Bauern an der Gesamtbevölkerung signifikant zurückgegangen ist, sind auf der anderen Seite im Zug der Globalisierung die Interessen des international agierenden Kapitals in den Vordergrund gerückt. Dazu gab es wenig Gegengewicht, weil die SPÖ nach 30 Jahren Dominanz inhaltlich ausgelaufen und zu einer pragmatischen Partei mutiert war, die in erster Linie an der Machterhaltung interessiert war. Als zentrales Argument gegen die Beibehaltung bestehender sozialstaatlicher Leistungen – von den Pensionen bis zum kostenfreien Bildungswesen – werden immer die Finanzierungsschwierigkeiten genannt. Es gab zwar vom Beginn der 50er bis zum Beginn der 80er Jahre einen Anstieg der Sozialausgaben von 17% auf 27% des BIP – aber ungeachtet dieses Anstiegs war der Saldo positiv, die Einnahmen haben die Ausgaben überstiegen. Das hatte natürlich auch mit der Tatsache zu tun, dass eine Politik der Vollbeschäftigung die Ausgaben aus der Arbeitslosenversicherung begrenzt hielt. Es ist unstrittig, dass heute in bestimmten Bereichen der sozialen Sicherheit die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben aus unterschiedlichen Gründen aufklafft. Am schärfsten tritt dies bekanntlich bei der Finanzierung der Pensionen zutage. Die Zahl der PensionsbezieherInnen ist stärker gestiegen als jene der Beitragszahlenden, das durchschnittliche Pensionsantrittsalter ist gesunken, die Bezugsdauer hat sich wegen der gestiegenen Lebenserwartung erhöht. Mit dem Anstieg der Erwerbslosigkeit ist auch die Zahl der Invaliditätspensionen angestiegen, und schließlich ist das Leistungsniveau bei den Neuzugängen höher als bei den Abgängen. Zwischen 1980 und 2003 sind die Einnahmen der Pensionsversicherung um 235% gestiegen, die Ausgaben um 239%; die Beitragszahlungen sind in diesem Zeitraum aber nur um 196% angewachsen, somit hat sich der Bundesbeitrag deutlich erhöht. Die demografische Entwicklung hat in diesem Zusammenhang keine Rolle gespielt. Ein wesentlicher Grund für den Einnahmenausfall besteht auch darin, dass im genannten Zeitraum der Anteil der Löhne am Volkseinkommen wegen der zunehmenden Erwerbslosigkeit und des Anstiegs der Teilzeitbeschäftigungen gesunken ist. Der Rückgang der Lohnquote stellt vor allem die Finanzierung der Leistungen aus der Krankenversicherung in Frage. Hier sind die Einnahmen von 1997 bis 2003 um 16,8% gestiegen, die Ausgaben aber um 27,9%. Ein weiterer Grund für die Finanzknappheit liegt in der abnehmenden Zahlungsmoral und -fähigkeit vieler Unternehmen: Mit 31.12.2005 betrugen die Rückstände aus Sozialversicherungsbeiträgen in den Gebietskrankenkassen 925,9 Millionen Euro. Das zentrale Problem der Finanzierung liegt also darin, wie die Mittel aufgebracht werden … Ja, seit der Einführung der Krankenversicherung 1888/89 sind die Beiträge der Unternehmen an die Lohnsumme gekoppelt, ein Finanzierungsmodus, der übrigens schon 1933 von Dollfuss kritisiert wurde, weil zu Zeiten wirtschaftlicher Krisen – also dann, wenn die Sozialversicherung am dringendsten gebraucht wird – auch die Einnahmengrundlage wegbricht. Für eine einschneidende Änderung bei den Unternehmensbeiträgen plädierte auch Sozialminister Dallinger in den 1980er Jahren. Der Finanzierungsmodus des 19. Jahrhunderts kann im 21. Jahrhundert nicht aufrechterhalten werden, wer das tun will, schädigt sehenden Auges den Sozialstaat. Das heißt also Finanzierung der sozialstaatlichen Leistungen aus anderen Quellen, etwa aus dem allgemeinen Steuertopf; in Großbritannien leidet aber das auf diese Art finanzierte National Health Service auch unter chronischer Knappheit der Mittel. Das hängt aber damit zusammen, dass die Politik nicht genügend Geld in den Sozialbereich lenkt – ein positives Gegenbeispiel wäre etwa Dänemark, wo der Sozialbereich auch aus Steuergeldern finanziert wird. Eine zweite Möglichkeit wäre die Finanzierung über eine Wertschöpfungsabgabe, deren Höhe sich nicht allein an den Löhnen, sondern eben an einer breiteren Bemessungsgrundlage orientiert, in die Gewinne, Abschreibungen, Mieten und Pachten usw. eingerechnet werden. Während ursprünglich geplant war, parallel zum Wirtschaftswachstum noch mehr gesellschaftliche Gruppen ins System der Sozialversicherung aufzunehmen, fallen jetzt immer mehr davon aus dem sozialen Netz … Ich sehe es umgekehrt: Jene sozialen Gruppen, die nur zum Teil ins System der Sozialversicherung integriert sind – wie neue Selbständige, freie DienstnehmerInnen oder geringfügig Beschäftigte – werden mehr. Noch einmal zum Problem der Finanzierung: Als Königsweg aus der vorgeblichen Knappheit der Finanzmittel preist der neoliberale Politik-Mainstream die Privatisierung der sozialen Vorsorge an … Am Beispiel des Gesundheitswesens lässt sich leicht erkennen, dass das pure Ideologie ist. Das – zur Gänze privat finanzierte – Gesundheitswesen der USA verschlingt 15% des BIP, das – so gut wie ausschließlich öffentliche – System Österreichs benötigt nur zwischen 8 und 9 Prozent. Auch Systeme mit öffentlicher Finanzierung, aber freier Versicherungswahl wie etwa in Deutschland sind teurer als unser System der Pflichtversicherung. Abschließend eine Frage, die sich angesichts der aktuellen Dominanz neoliberalen Denkens aufdrängt: Hat der Sozialstaat Ihrer Ansicht nach Zukunft, und wie sollte diese aussehen? Der Sozialstaat ist im 21. Jahrhundert nötiger denn je, weil die individuellen Risken beträchtlich gestiegen sind. Seine Finanzierung muss, wie schon erwähnt, wegen des Rückgangs der Lohnquote auf eine andere Basis gestellt werden – an erster Stelle bietet sich hier die Verbreiterung der Einnahmenbasis in Richtung einer Wertschöpfungsabgabe und zusätzlicher öffentlicher Mittel an. Zum Zweiten muss das Leistungssystem in Richtung einer Grundsicherung erweitert werden, weil eine steigende Zahl von Menschen die Voraussetzungen für die Integration in das bestehende Sozialversicherungssystem nicht erfüllt und/oder zu niedrige Sozialleistungen erhält und somit nicht gegen das Armutsrisiko abgesichert ist. Das Geld dafür ist vorhanden – das österreichische Brutto-Inlandsprodukt wird auch heuer wieder um 2 Prozent steigen. Der Wiener Caritas-Direktor Michael Landau hat das so formuliert: Es geht nicht darum, ob wir uns eine solche Absicherung leisten können – sondern nur darum, ob wir sie uns leisten wollen. Im Übrigen entlarven sich die Behauptungen, es sei kein Geld für die Aufrechterhaltung und den Ausbau öffentlicher sozialer Leistungen vorhanden, ohnehin von selbst, wenn etwa auf der anderen Seite die private Pensionsvorsorge steuerlich oder durch Prämien der öffentlichen Hand subventioniert wird. Wissenswertes zum Thema Wertschöpfung 1. Was ist die Wertschöpfungsabgabe? Die Wertschöpfungsabgabe leitet ihre Bezeichnung davon ab, dass die Wertschöpfung eines Betriebes alternativ zur Lohn- und Gehaltssumme als Beitragsbasis für Sozialleistungen dienen soll. 2. Welche Komponenten enthält die Wertschöpfung? Die Wertschöpfung enthält nach wie vor als größte Komponente die Lohnsumme, dazu kommen Abschreibungen, Gewinne, Fremdkapitalzinsen, Mieten und Pachten, Steuern. 3. Warum Wertschöpfungsabgabe? Die hohe Besteuerung des Faktors Arbeit im Verhältnis zur Besteuerung des Faktors Kapital vermindert den Einsatz von Arbeit in der Produktion bzw. führt zu seiner Ersetzung durch Maschinen. Probleme bei der Finanzierung der Sozialversicherung haben dazu geführt, dass nach zusätzlichen und breiteren Finanzierungsquellen gesucht wurde. 4. WIFO-Studie: Umstellung der Finanzierung des FLAF (Familienlastenausgleichsfonds) Die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe zur Finanzierung von Sozialleistungen kann aufkommensneutral erfolgen. In diesem Fall kann der Beitragssatz gesenkt werden, da er auf einer breiteren Bemessungsgrundlage angewendet wird. So ist eine aufkommensneutrale Umbasierung der Beiträge zum FLAF auf die Wertschöpfung mit einer Senkung des Beitragssatzes von derzeit 4,5 Prozent auf 2,5 Prozent verbunden. 5. Wer verliert, wer gewinnt durch eine Wertschöpfungsabgabe? Mehr Beiträge hätten kapitalintensive Branchen wie Energiewirtschaft, Banken, Versicherungen sowie die Landwirtschaft zu leisten, entlastet würden Industrie und Gewerbe insgesamt, der Handel sowie der Bausektor. 6. Positive Beschäftigungswirkung der Wertschöpfungsabgabe Da die Abgabenbelastung der Arbeitskosten gesenkt und jene auf das Kapital erhöht wird, kommt es zu einer relativen Verbilligung der Arbeit, die deshalb vermehrt in der Produktion eingesetzt wird. In einer WIFO-Studie wurde die Beschäftigungswirkung einer Umstellung der FLAF-Finanzierung untersucht. Mittelfristig könnte die Beschäftigung aufgrund dieser relativ geringfügigen Änderung um 21.000 Arbeitsplätze zunehmen. 7. Entsteht die positive Beschäftigungswirkung nicht auch durch Lohnverzicht? […] Die beschäftigungserhöhende Wirkung der relativ billiger gewordenen Arbeit würde nicht eintreten, da gleichzeitig die Lohnempfänger ihre Nachfrage vermindern würden. 8. Weitere Argumente: Sinkende Lohnquote Wenn die Lohnquote wie in den letzten 15 Jahren eine sinkende Tendenz hat, so hätte eine zum Zeitpunkt der Umstellung aufkommensneutrale Einführung der Wertschöpfungsabgabe mittel- und längerfristig auch eine Steigerung des Beitragsaufkommens zur Folge, da die erweiterte Bemessungsgrundlage rascher zunimmt als die Lohnsumme. 9. Beitrag der Unternehmer zur Finanzierung des Sozialstaates sinkt nicht so stark im Falle von Kündigungen bzw. Entlassungen. Jene Unternehmen, die nur Rationalisierungsinvestitionen vornehmen und Arbeitnehmer kündigen, entziehen sich dadurch auch einer adäquaten Finanzierung des Sozialstaats. Durch eine Wertschöpfungsabgabe ist dies nicht so leicht möglich. 10. Ist die Wertschöpfungsabgabe ein Maschinenkiller? Die Wertschöpfungsabgabe wird mitunter auch als »Maschinensteuer« bezeichnet. Dies ist insofern unzutreffend, als durch eine Wertschöpfungsabgabe zwar die Abschreibungen besteuert werden sollen, nicht aber einseitig Maschinenankäufe. Günther Chaloupek, AK, Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung / Georg Kovarik, ÖGB Volkswirtschaftliches Referat (mit freundlicher Genehmigung der Steuerinitiative im ÖGB, www.steuerini.at, red. gekürzt)
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