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„Sozialabbau findet im Kopf statt“
Archiv - KORSO Sozial FORUM - Schwerpunkt: Sozialstaat
Donnerstag, 1. Juni 2006
ImageBeim 2. Round Table-Gespräch „Zukunft Sozialstaat Österreich" diskutierten am 17.5.2006 Klubobmann Mag. Christopher Drexler, ÖVP, Klubobmann Ernest Kaltenegger KPÖ, und Ass.-Prof. Dr. Gerhard Wohlfahrt, Universität Graz, unter der Moderation von Mag. Christian Ehetreiber (ARGE Jugend) über mögliche Wege zur Sicherung sozialer Standards angesichts der Bedrohung durch neoliberale Wirtschaftsmodelle.

Ehetreiber: „Sozialstaat" ist ein weiter Begriff, welche aufgaben muß er erfüllen?

Kaltenegger: Wichtig erscheint mir, dass die Grundbedürfnisse der Menschen abgedeckt werden. Der Sozialstaat muss die Voraussetzungen schaffen, um von Arbeit leben zu können.

Drexler: Ich stimme dieser Aussage zu. Entscheidend ist, dass durch Arbeit eine Existenzsicherung gefunden wird. Die Sozialpolitik muss daher für ausreichend Arbeit sorgen und jeder, der einen Vollzeitarbeitsplatz hat, soll auch davon leben können. Zum anderen sollte in schwierigen Phasen ein zuverlässiges System sozialer Sicherung da sein.

Wohlfahrt: Der Sozialstaat lässt sich mit der Netzmetapher beschreiben: Das Netz soll auf jeden Fall engmaschig genug sein, um alle Risiken abzufedern. Wenn sich jemand nicht durch Arbeit beteiligen will, dann ist der Konsens der, dass dieser nicht vom Netz getragen werden soll. Es bedarf daher manchmal engmaschigerer Absicherung. Vielleicht sind Teile des Netzes auch zu massiv ausgebaut.


Ehetreiber: Die Sozialstandards werden in Richtung südosteuropäischer Low-Level-Standards abgebaut. Nehmen Sie das ähnlich wahr?

Drexler: Ich würde gerne den Sozialstandard kennen, der sich bei uns in Richtung südosteuropäisches Niveau abgesenkt hat. Es wird eine Grundstimmung geschürt, als stünden wir kurz davor, unser Sozialsystem irgendwo zwischen Bulgarien und Bangladesch anzusiedeln, was definitiv nicht der Fall ist.

Kaltenegger: Aber die Richtung geht durchaus nach unten. In den Betrieben ist Lohnverzicht längst kein Fremdwort mehr. Es gibt Diskussionen um die 45-Stunden-Woche usw. In den neuen Bundesländern Deutschlands gibt es trotz niedriger Löhne eine wesentlich höhere Arbeitslosigkeit.

Wohlfahrt: Sozialabbau findet im Kopf statt. Beim Wort „Reform" denkt man kaum noch an Verbesserung, sondern nur an Einsparungen. Der Anstieg atypischer Beschäftigungsverhältnisse ist in vielen Fällen mit Sozialabbau gleichzusetzen. Wenn man die Reformen beim Arbeitslosenversicherungsgesetz verfolgt, das ist lupenreiner Sozialabbau. Zuschläge werden gekürzt und das Höchstarbeitslosengeld nicht angehoben, obwohl die Beiträge steigen. Viel schlimmer ist jedoch, dass die Rekordarbeitslosenzahlen ganz einfach akzeptiert werden.


Ehetreiber: Nach Eurostat 2005 lag die Arbeitslosigkeit in der EU bei 8,7 %, über 17 % der Jugendlichen hatten keinen Job. Pointiert formuliert: Auschwitz und der Zweite Weltkrieg scheinen vergessen zu sein.
Wir haben die höchste Beschäftigungsquote in Österreich, aber gleichzeitig auch die meisten Arbeitslosen. Was kann man als Landespolitiker tun, um die Vollbeschäftigungspolitik zu erneuern?

Drexler: Die erste Behauptung halte ich für keck. Gott sei Dank haben wir in Österreich viel bessere Daten. Außerdem bedeutet nicht jede ASVG-Novelle Sozialabbau. Das ist gewerkschaftliche Logik – wenn jetzt Eisenbahner mit 60 in Pension gehen, dann halte ich das für einen sozialpolitischen Fortschritt. Warum die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern so ist, darüber brauchen wir nicht diskutieren. Diesen Ländern wurden 40 Jahre ihrer Entwicklung von unmenschlichen Regimes gestohlen.

Kaltenegger: Das Land hat nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Beeinflussung der Arbeitslosigkeit. Einiges wird über Wirtschaftsförderung bewegt. Dabei sollte man lieber im öffentlichen Sektor für Arbeitsplätze zu sorgen, die noch dazu leichter zu sichern sind als jene mit Subventionen an Firmen.

Wohlfahrt: Es ist richtig, dass es sinnvolle Reduktionen geben kann. Deshalb habe ich auf die Verschlechterung in der Arbeitslosenversicherung hingewiesen. Jetzt, wo so viele Leute keine Chance auf einen Arbeitsplatz haben, wird stärker am einzelnen festgehakt. Selbst wenn alle freien Stellen besetzt werden, haben wir noch immer 90 % der Arbeitslosen. Einerseits die Arbeitslosenversicherung zu kürzen und andererseits einen Wechsel zu individueller Verantwortung vorzunehmen, ist sicher der falsche Weg.

Kaltenegger: Das ist ein Widerspruch, dass man jenen, denen es schlechter geht, die Latte ein wenig höher legt, damit sie arbeiten, wohingegen den Reichen immer mehr gegeben wird, um sie zu motivieren.


Ehetreiber: Es gibt viele Menschen, die nicht mehr in der modernen Arbeitswelt mithalten können. Wir haben daher drei Vorschläge entwickelt: Die Abschaffung der Rückzahlungsverpflichtung für Sozialhilfe; voraussetzungsfreies Grundeinkommen sowie einen eigenberechtigten zweiten Arbeitsmarkt. Wie beurteilen Sie diese drei Forderungen?

Kaltenegger: Die Abschaffung der Rückzahlungsverpflichtung der Sozialhilfe unterstützen wir zu 100%. Es ist hoher Verwaltungsaufwand damit verbunden und auch demotivierend, wenn die Sozialhilfe später wieder zurückgezahlt werden muss.
Mit dem voraussetzungsfreien Grundeinkommen habe ich ein Problem. Ich befürchte einerseits, dass dieses sich auf Sozialhilfeniveau einpendelt. Andererseits besteht die Gefahr, dass sich die Schattenwirtschaft stärker entwickelt, sodass noch weniger Einnahmen für soziale Leistungen zur Verfügung stehen. Es muss ein Recht auf Arbeit geben, sonst würde die Zweidrittelgesellschaft endgültig fixiert. Mit einem eigenberechtigten zweiten Arbeitsmarkt kann man den Menschen die Möglichkeit geben, wieder in den Arbeitsprozess rein zu kommen.

Drexler: Die Rückzahlungsverpflichtung ist ein zweischneidiges Schwert. Wenn wir jetzt wirklich nur über die allgemeine Sozialhilfe reden, sehen wir aus der Statistik, dass 95 % der Rückzahlungsverpflichtungen wahrscheinlich nie schlagend werden.


Ehetreiber: In der Steiermark handelt es sich laut Auskunft von LAbg Zitz um rund 96 Mio. Euro.

Drexler: Ich bin der Meinung, dass z.B. die Unterbringung in einem Pflegeheim aus dem Sozialhilfebudget zu zahlen ist. Man muss aber den Missbrauch durch Überschreibungen von Vermögen verhindern und zu Unrecht bezogene Leistungen zurückfordern. Zum voraussetzungslosen Grundeinkommen teile ich die Bedenken. Erstens glaube ich, dass es da erhebliche Streuverluste gibt und zweitens, dass wenn man es einführen würde, andere Leistungen gekürzt werden müssten. Wir haben insgesamt ein sehr gutes, ausdifferenziertes Sozialsystem.
Ich bin für einen zweiten Arbeitsmarkt, aber warne davor, darin ein Allheilmittel zu sehen. Man muss durch Qualifizierungen Anreize geben, denn der zweite Arbeitsmarkt darf kein Dauerparkplatz sein.


Ehetreiber: Der zweite Arbeitsmarkt soll beim Einstieg in den ersten helfen. Weil viele Menschen aber nicht mehr mithalten können, bestehen wir aber auf dem „eigenberechtigten zweiten Arbeitsmarkt".

Wohlfahrt: Die Rückzahlung der Sozialhilfe sollte zum Großteil abgeschafft werden. Es kann aber nicht sein, dass die Allgemeinheit für jemanden zahlt und das Haus wird dann vererbt. Der Einwand von Drexler hat mich positiv überrascht, dass man an den guten Staat glauben soll. Ich hege große Bedenken gegen ein voraussetzungsfreies Grundeinkommen, auch bezüglich der Finanzierbarkeit, wenn man dann andere Leistungen kürzt. Ich favorisiere ein anderes Instrument: Arbeitszeitverkürzung ist angesagt, wenn es nicht genug Arbeit gibt. Man muss sich überlegen, ob man die Wochen- oder die Lebensarbeitszeit verkürzt. Das Ganze wird natürlich nicht mit vollem Lohnausgleich möglich sein. Dieses Instrument haben wir leider in den letzten 20 Jahren vernachlässigt, und das tut unserer Gesellschaft nicht gut.
 
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