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„Die EU muss mehr soziale Kompetenz beweisen“
Archiv - KORSO Sozial FORUM - Schwerpunkt: Sozialstaat
Donnerstag, 1. Juni 2006
ImageDie Wanderausstellung „A-Sozial" bildete den Hintergrund für zwei Round-Table-Gespräche zur Zukunft des Sozialstaats. Die ARGE Jugend gegen Rassismus und Gewalt erinnert in dieser von jungen Menschen gestalteten Schau provokant an die Vorzüge eines starken Sozialstaats.

Wie muss sich unser Sozialstaat weiterentwickeln, um dem neoliberalen Ansturm Paroli zu bieten? Darüber diskutierten SpitzenvertreterInnen der Landespolitik, der Sozialpartner und der Wissenschaft moderiert von Mag. Christian Stenner (Korso) und Mag. Christian Ehetreiber (ARGE). Am 16.5.2006 bezogen Klubobmann Walter Kröpfl (SPÖ), Mag. Marcel Kirisits (AK Steiermark), Mag. Ewald Verhounig (WK Steiermark) und LAbg. Mag. Edith Zitz (Grüne) Stellung.
Die vollständigen Fassungen der Gespräche sind auf www.korso.at und www.argejugend.at nachzulesen.

Ehetreiber: Was assoziieren Sie mit dem Thema „Sozialstaat"?

Zitz: Der Grundgedanke ist Solidarität, Sozialpolitik ist auch ein wirtschaftspolitischer Motor. Die EU setzt ihre Priorität leider auf den Wettbewerb, soziale Regeln werden an die Mitgliedsstaaten delegiert.

Kirisits: Die Staaten nur als Standorte zu sehen, hat den Sozialstaat in den Hintergrund gerückt. Aber Schweden z.B. gehört trotz hoher Sozialausgaben zu den wettbewerbsfähigsten Staaten.

Kröpfl: Der Sozialstaat ist in Europa auf dem Rückzug. In Österreich erschreckt mich der Trend zu einer Zwei-Klassengesellschaft, denn das führt dazu, dass viele Menschen geringere Arbeitsmarktchancen haben.

Verhounig: Auch für UnternehmerInnen ist es wichtig, ein soziales Netz zu haben. Die Finanzierbarkeit sollte aber gegeben sein, denn höhere Steuern sind nicht geeignet, den Standort zu stärken.


Stenner: Wir haben aus politischem Kalkül trotz 2% Wirtschaftswachstum Einnahmenverluste, die zur Einschränkung sozialer Leistungen führen. Wie erklären Sie sich das?

Kröpfl: Ich sehe noch kein „überbordendes Sozialsystem". Bei der Finanzierung fehlt es an politischem Mut, denn jährlich werden 5 Mrd. Euro am Finanzminister vorbei geschoben. Ich sehe noch kein „überbordendes Sozialsystem". Bei der Finanzierung fehlt es an politischem Mut, denn jährlich werden 5 Mrd. Euro am Finanzminister vorbei geschoben.

Verhounig: Die Finanzierung wird ohne Eigenvorsorge nicht machbar sein. Bei der Besteuerung müssten wir bei den Konzernen ansetzen.


Ehetreiber: Unter welchen Bedingungen sprechen wir von einem Zuviel oder Zuwenig an Sozialausgaben bzw. Sozialleistungen?

Kirisits: Österreich gibt etwa 29% seines BIP für Soziales aus. Diese Quote ist in den letzten 10 Jahren konstant geblieben. Das Problem ist entstanden, weil sich die Löhne kaum entwickelt haben, aber alternativ könnte man die Sätze bei Gewinn- und Vermögensbesteuerung erhöhen.

Zitz: Die Gruppenbesteuerung ist diskriminierend für KMUs, die einen großen Teil der Lehrlinge ausbilden. Wir vertreten eine Ressourcenbesteuerung für fossile Energieträger.


Ehetreiber: Was motiviert PolitikerInnen und GewerkschafterInnen beim „Downsizen" des Sozialstaates mitzumachen?

Kröpfl: Es gibt die Kritik, dass nicht mehr die Politik regiert, sondern die Konzerne. Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass man die soziale Kompetenz in der EU wesentlich stärker spürt.


Ehetreiber: Wie sehen Sie die Stützung neoliberaler Politik, wenn Sie etwa an den Lehrlingsfonds denken?

Verhounig: Die Finanzierung müsste dann von anderen Betrieben kommen, aber es gibt bei uns Ansätze, dass man selbst Lehrlingsverbünde schafft.


Ehetreiber: Der Arbeiterkammer scheint bei der EU-Osterweiterung außer langen Übergangsfristen wenig eingefallen zu sein?

Kirisits: Hohe Lohnunterschiede und die regionale Nähe erfordern das. Es ist schwierig, bei der hohen Arbeitslosigkeit zusätzliche Arbeitskräfte unterzubringen. Es wäre toll, wenn Slowenien und Ungarn die gleiche Lohnhöhe hätten, nur haben sie nicht unsere Produktivität. Zur europäischen Dimension: Es ist gefährlich, wenn man den Staat aus rein betriebswirtschaftlicher Perspektive betrachtet.

Zitz: Fakt ist, dass die EU so viel Spielraum hat, wie ihr die Nationalstaaten zugestehen. Positiv ist, dass es durch die europarechtlichen Vorgaben leichter möglich ist zu verhindern, dass Menschen diskriminiert werden.


Ehetreiber: Wie kann man die Massenarbeitslosigkeit nachhaltig entspannen?

Verhounig: Erst über 2,5 % Wachstum werden neue Jobs geschaffen. Eine Reform der Steuersysteme müsste weg von den direkten Steuern führen. Wichtig wäre eine politische Steuerung auf EU-Ebene, vor allem von der Ausgabenseite.

Kirisits: Leider gibt es hier keine Einigkeit. Zudem ist die EZB ein Gremium, das als oberstes Ziel die Geldwertstabilität hat. Arbeitsmarktziele spielen eine untergeordnete Rolle.


Stenner:
Was spricht jetzt gegen eine gemeinsame Steuerpolitik, die eine Bandbreite an zulässiger Besteuerung festsetzt? Ein Bericht der Generaldirektion Beschäftigung kommt zu zwei Thesen: 1. Es wird genügend Arbeitsplätze geben, wenn die Löhne nach unten flexibel werden und 2. wenn die soziale Absicherung eine vernünftige Höhe nicht übersteigt.


Kröpfl: Das ist der falsche Weg. Wir leisten uns arbeitslose Lehrer und finanzieren auf der anderen Seite Arbeitslosigkeit, statt den Bildungsbereich zu erneuern. Die Konzerne haben kein Interesse daran, dass ein europaweites Finanz- und Steuersystem funktioniert. Wir müssen mehr Leute in Beschäftigung kriegen und wenn die Gewinne in die Betriebe investiert würden, dann hätte man sicher mehr Arbeitsplätze.

Zitz: Ich glaube, dass vor allem die Qualität der Arbeitsplätze wichtig ist. Aus unserer Sicht braucht es Investitionen in den zweiten Arbeitsmarkt. Die massiven Überstundenleistungen vieler Vollzeitkräfte sollten genutzt werden, um jüngeren Leuten den Eintritt in das Berufsleben zu ermöglichen.

Kirisits: Gegen die egoistische Steuerpolitik der Nationalstaaten gäbe es ein Mittel, nämlich die Regionalförderungen der EU mit einem solidarischen Modell zu verknüpfen.

Verhounig: Bei den Regionalförderungen kann man auf jeden Fall ansetzen. In Zukunft sollte auch die Arbeitsmarktkomponente betont werden.

Zitz: Ich befürworte eine EU-weite steuerliche Regelung zur Finanzierung von Arbeitsmarkt- und Sozialprojekten.

Kröpfl: Es wäre ein Ansatzpunkt, die Förderungen danach auszurichten, wie viele neue Arbeitsplätze geschaffen werden.


Ehetreiber: Das Projekt „A-Sozial" hat Forderungen zur Verbesserung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik formuliert, u.a. Abschaffung der Rückzahlungspflicht von Sozialhilfe; voraussetzungsfreies Grundeinkommen; einen eigenberechtigten zweiten Arbeitsmarkt. Wie beurteilen Sie die Forderungen?

Zitz: Das Land müsste auf 96 Mio. Euro verzichten, aber dadurch würden Menschen entlastet, die ohnehin geringe Einkommen haben. Ich bin für Grundsicherung, aber es sollte eine Verknüpfung mit dem Arbeitsmarkt geben, weil man sonst nur weiter ausgrenzt. Es muss einen Anreiz zur Erwerbstätigkeit geben. Beim zweiten Arbeitsmarkt sollten mehr Ressort übergreifende Projekte umgesetzt werden.

Kröpfl: Auf die Rückzahlungspflicht wird man kaum verzichten. Ein Anreiz durch die Differenz zwischen Mindestlohn für Arbeit und Grundsicherung muss gegeben sein. Die Schaffung eines zweiten Arbeitsmarktes wird eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben sein.

Kirisits: Die Abschaffung der Rückzahlungspflicht wäre ein Anreiz für „arbeitsmarktferne Personen", wieder in den Erwerb einzutreten. Im zweiten Arbeitsmarkt muss das Gefühl sinnloser Arbeit vermieden werden. Das voraussetzungsfreie Einkommen liegt in weiter Ferne. Das Arbeits- und Versicherungsrecht ist noch nicht ausreichend angepasst. So sind die Ersatzraten bei Arbeitslosenversicherung zu gering und zu kurz.

Verhounig: Früher hat man mit der Aktion 8000 viele Arbeitslose in Bereichen beschäftigt, die später marktfähig geworden sind. Beim zweiten Arbeitsmarkt muss eine Koppelung mit Ausbildungsschienen gegeben sein. Wichtig ist es diese Arbeit zu akzeptieren. Ein voraussetzungsfreies Grundeinkommen ist in Österreich allein sicher nicht implementierbar. Auf europäischer Ebene muss ein Anreiz da sein, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Land auf 96 Mio. Euro verzichtet.

Kirisits: Die Gemeinden haben keine beschäftigungspolitische Kompetenz und man müsste sie über den Finanzausgleich besser ausstatten.

Ehetreiber: Es muss klare Budgets geben, die vor Ort im Sinne von Regionalentwicklung koordiniert sind, unter Einbezug der KMUs, der NGOs und der Gemeinden. Nur ein deutlich höherer Mehrmitteleinsatz in Kooperation mit dem ersten Arbeitsmarkt wird Erfolg haben.

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