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Live in Graz: Die MANUSKRIPTE-Saga
Mittwoch, 8. Dezember 2010
50 Jahre MANUSKRIPTE! In Zuschreibungen wie die „beste Literaturzeitschrift des deutschen Sprachraumes“ aus der „Hauptstadt der deutschsprachigen Literatur“ steckt ein bisschen heiße Luft, aber sie sind jedenfalls nicht Schnee von gestern. Immerhin kamen zu diesem 50-jährigen Jubiläum 140 Autoren – wegen der heftigen Schneefälle waren es vielleicht ein paar weniger – um den MANUSKRIPTEN und ihrem Herausgeber Alfred Kolleritsch  die Reverenz zu erweisen. Die Festlichkeiten begannen am 3. 12. im Literaturhaus mit der Eröffnung der Ausstellung „Peter Handke und die Grazer Gruppe“. Der 2009 von Katharina Pektor und Klaus Kastberger kuratierte Handke-Teil wurde von Wien übernommen, und Kurt Bartsch erweiterte ihn um die Grazer Gruppe. Die von Peter Karlhuber gestaltete Ausstellung ist sehr kompakt gehängt und absolut sehenswert. Mit ihren Manus- und Typoskripten, Briefen, Fotos und Bildern bietet sie eine Annäherung an den komplexen Schaffensprozess eines bedeutenden Schriftstellers. Und der Grazteil zeigt eine Durchgangsstation für den Autor, an der er sich rieb. Und, wie er sagt, sind es manchmal gerade Durchgangsituationen, die nachhaltig wirken; in diesem Fall zweifellos die Freundschaft mit Alfred Kolleritsch, die Handke motiviert hat, dieses Fest zu besuchen.
50 Jahre MANUSKRIPTE: Die Herausgabe dieses gewaltigen Textgebirges  über gut zwei Generationen wird plastisch gemacht durch eine mit  MANUSKRIPTE-Titelbildern tapezierte Längswand. Diese Herausgeberarbeit so lange geleistet zu haben, ist das schlichtweg inkommensurable Verdienst von Alfred, „Fredi“, Kolleritsch. Die meisten Jubilare erleben solche Jubiläen gar nicht; manche „über-leben“ es irgendwie. Aber Alfred Kolleritsch, voriges Jahr (allerdings im Liegen) dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen,  genießt die auf die Vernissage folgende Präsentation der Jubiläums-MANUSKRIPTE-Doppelnummer 189/190 im Literaturhaus sichtlich. Gelesen wurde Lyrik von Oya Erdogan (A/TR) und Lidija Dimkovska (SLO/MAK).  Die schöne Türkin machte mit geradezu virtuosem Vortrag ihrer Liebesgedichte – noch dazu auswendig! – staunen. Die anschließend von Daniel Doujenis mit Verve vorgetragenen Gedichte der Mazedonierin Dimosvska beeindruckten dagegen mit der unsentimentalen Kraft gleichzeitig banaler und anarchischer Bilder.  
 
Ein Text-Universum namens MANUSKRIPTE.
Die beste Kritik heißt es, bestünde in einer exakten Wiederholung des Textes. Bei diesen MEGA-MANUSKRIPTEN wirkt schon die Aufzählung aller Autoren wie ein Text. Das Doppelheft überträgt die Marketingstrategie des Überflusses auf die Literatur. In einer Art „literarischen Umkehrpraxis“ erleichtert gerade die Überfülle von 670 Seiten mit ihren unabhängig vom Bekanntheitsgrad alphabetisch gereihten Autoren den Lese-Zugang. Und die Bilder der für ihre Autorenporträts berühmten Isolde Ohlbaum bieten den Reiz (ganz abgesehen von ihrem gleichsam erkennungsdienstlichen Wert) nach den Entsprechungen oder Widersprüchen zwischen Text und Konterfei des Autors zu suchen. Einige Texte, vor allem der von Hedwig Wingler, setzen sich mit den MANUSKRIPTEN selbst auseinander und machen dieses Jubiläumsheft zu einer sich selbst reflektierenden Textmaschine; zu einem Text-Universum, in dem eine Nobelpreisträgerin und eher Unbekannte, Genies und bloße Literaturexperten, Großmeister und Debütanten zu finden sind. Das sind vermutlich nicht die einflussreichsten, aber sicher die am meisten unterhaltenden MANUSKRIPTE bisher.
Die MANUSKRIPTE-Saga lässt sich in vielen Varianten erzählen: Einmal als bittere Gründungslegende, in der Alfred Kolleritsch, affiziert von den Texten der Wiener Gruppe, den Mitbegründer Alois Hergouth verdrängt, um die Zeitschrift  für Autoren aus dem ganzen deutschen Sprachraum zu öffnen.
Aber auch als heroische Legende vom repressiven steirischen Kulturklima, das seinen Niederschlag im Pornografievorwurf gegen den Herausgeber wegen inkriminierender Abschnitte in Oswald Wieners „Verbesserung von Mitteleuropa“ findet  – zweifellos eine essenzielle Bedrohung für Kolleritsch, der im Brotberuf Mittelschullehrer war.
Man kann diese Saga aber auch als späte, bildungsbürgerliche Erfolgsgeschichte sehen: Alfred Kolleritsch hat  jahrzehntelang in einer zentral gelegenen Schule nicht nur Schüler für Literatur, ja für das Schreiben selbst begeistert, sondern gleichzeitig auch das kulturpolitische Image der Stadt selbst lange Zeit „operativ“ mit bestimmt.

Standing Ovations für Alfred Kolleritsch.
Ihren Höhepunkt fanden die Festlichkeiten tags darauf am 4.12. mit einer Gala im Schauspielhaus, die neben den Ansprachen von Kulturstadtrat Karl-Heinz Herper und Bundesministerin Claudia Schmied Gelegenheit gab, Schriftsteller und Literaturmenschen, die ansonsten nur aus der Ferne bzw. im überregionalen Feuilleton zu erleben sind, live zu sehen. Der Abend selbst bot dann dem mit Zählkarten für 2 Euro 50 zugelassenem Publikum mit seinen knapp vier Stunden wahrscheinlich mehr, als es sich wünschte. Viel Zeit haben die Zwischenspiele von „Broadlahn“ mit einer Art steirischen World Musik gekostet. War das nicht ein bisschen der regionale Ansatz, gegen den sich seinerzeit Alfred Kolleritsch für eine literarische Überregionalität entschied?  Der Verleger/Autor Jochen Jung konferierte jedenfalls so gebildet wie herzlich, und eine größere Truppe, gemischt aus Kräften des Hauses und freiberuflichen Schauspielern, nahm sich der Texte an.
Gerhard Melzer, Leiter des Literaturhauses, hatte sehr diplomatisch jeweils fünf Autoren für einen fünf Jahrzehnte aneinanderreihenden Parcours ausgewählt – ein Spiel mit Autoren-Eitelkeiten, das er nicht gewinnen, nur sehr klug verlieren konnte. Für die ersten Jahrzehnte wurden unvermeidlicherweise mehr verstorbene, in den späteren mehr weibliche Autoren gelesen. Vermisst bei dieser Gala hat man allenfalls Helmut Eisendle und den sonst immer als sprachtheoretischen Säulenheiligen angerufenen Oswald Wiener. Julia Reichert, die Prinzipalin des Kabinetttheaters, präsentierte zwischendurch drei Minidramen von H. C. Artmann, Wolfgang Bauer und Antonio Fian – eine logische, schöne Idee, die leider mit dem Handicap der kleinen, intimen Puppenbühne im großen Saal des Grazer Schauspielhauses zu kämpfen hatte. Stimmig waren die wenigen, filmischen Einspielungen. Dieter Glawíschnig setzte seine bereits 1960 mit Ernst Jandl bzw. 1980 mit Gunter Falk begonnene Integration von Jazz und Texten fort, und der Pianist Markus Schirmer steuerte Klassisches bei: musikalische Lösungen, die beinah ideal mit den Texten amalgamierten; davon hätte man sich mehr gewünscht. Alfred Kolleritsch, der Held des MANUSKRIPTE-Jubiläums, las zum Ein- und Ausklang als einziger Autor je ein Gedicht: stehende Ovationen für ein Lebenswerk, das hoffentlich noch lange nicht zu Ende ist.

Dass 145 Autoren für die Jubiläumsnummer Texte schrieben, dass viele von ihnen der Einladung nach Graz Folge leisteten (in einem Alter, wo das Reisen keinen willkommenen Thrill mehr bedeutet), zeigt das Ausmaß dieser mit Respekt gemischten Zuneigung. Der Abend, etwas unentschlossen zwischen Event und Freundestreffen, lässt sich auch als Motiv wie von Adalbert Stifter lesen: Der unbeirrbare, junge Mann,  der aus der Südoststeiermark aufbricht und sich nach jahrzehntelanger, beharrlicher Arbeit  als schöner Greis von Söhnen, Autoren und Wegbegleitern beim Einfahren der Ernte umringt sieht. Weiterschreiben!

| Willi Hengstler
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