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Nicaragua: die vergessene Revolution
Dienstag, 5. Oktober 2010
Granada, Nicaragua, Februar 2009: Filmregisseur Clemens Haslinger (Mitte re.) muss sich erst an die neue Währung der Córdobas gewöhnen und zählt in der „Taberna Tomasita“ genau mit. Der wahre Grund, warum er so ernst ist, hat allerdings mit seinem Film zu tun: Dietmar Schönherr (84). Der Gründer des größten gemeinnützigen Kulturzentrums Nicaraguas sollte samt Lebenswerk vor Ort gefilmt werden. Nur dass Schönherr zwei Tage vor Abflug krank wurde und die lange Reise absagen musste. Das gesamte technische Equipment war schon per Spezialcargo nach Nicaragua verschickt worden. Das Team entschied, hinterher zu fliegen. So ist es zu diesem Foto gekommen: Erstes Mittagessen in Granada. Drückende Hitze. Man ist nicht ganz bei sich. Fliegen surren planlos über dem abservierten Tisch ... Aus dieser Vorgeschichte entstand schließlich ein ganz anderer Film, der am 18. September 2010 im Afro Asiatischen Institut seine Premiere feierte. „Nicaragua: die vergessene Revolution“ ist ein sanftes Abwägen zwischen dem, was sein sollte und dem, was ist.

Der Film.
Eigentlich wollte Clemens Haslinger der Frage nachgehen, was 30 Jahre nach der Revolution in Erinnerung geblieben ist ... von jener Musterrevolution, die in den 80ern die ganze Welt zum Fiebern brachte: aus allen Nationen waren Menschen angereist, um den Sandinisten zu helfen, und auch der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky unterstützte tatkräftig die Solidaritätsbewegungen. In einfachen Bildern kontrastiert der Film die sandinistischen Ideale der Vergangenheit, die Parteimythologie der Gegenwart und die Realität. Parolen aus der Revolution, Versprechen der sandinistischen Front nationaler Befreiung (FSLN) und Aussagen jener Spitzenkräfte der Revolution, die sich vom FSLN abgekehrt haben. Darunter die Weltbestsellerautorin und ehemalige sandinistische Revolutionskämpferin Gioconda Belli. Ein Bauer erzählt vor seiner Hütte, wie er von den Sandinisten eine Kuh, eine trächtige Sau und Hühner bekommen hat. Schnitt. Gioconda Belli zitiert den sandinistischen Präsidenten Ortega: „Wenn ein Bauer keinen Hunger mehr hat, wozu braucht er dann noch Freiheit.“ Belli sagt, das dürfe doch nicht sein und es entsteht der Eindruck, im System sei etwas stecken geblieben.
Nach der Filmaufführung folgte eine Diskussionsrunde. Haslinger erzählte, wie es war, als das 30. Revolutionsjubiläumsfest dokumentiert wurde. Wachpersonal hatte die Kameraleute bei Ankunft zum Podium begleitet, blieb hinter ihnen und beobachtete genau, was da mitgefilmt wurde. Als die Veranstaltung zu Ende war und alle anderen Medienleute das Feld verlassen hatten, verschwand auch das Wachpersonal schlagartig und plötzlich war niemand mehr da, den man auch nur etwas hätte fragen können. Alles so schnell vorbei wie ein Traum?

Die Geschichte ... und immer die USA.
Ohne Weiteres über den Film zu verraten, muss man historisch etwas ausholen. Geografisch ist Nicaragua gespalten: In die eher trockene, oft karge Westseite an der Pazifikküste und die dschungelverwachsene, schwer zugängliche Ostseite mit ihrer von Hurricanes und Plastikmüll verunstalteten Atlantikküste. Hier in der Karibik gibt es so romantisch klingende Ortsnamen wie „Lagune der Perlen“ oder den gruseligen „Hafen der Schädel“ (Puerto Cabezas). Piraten trieben es hier bunt. Englische Seeleute aus dem nordamerikanischen Kolonialgebiet fuhren in den Süden und nahmen in Puerto Cabezas rebellische, unabhängig gewordene Sklaven auf, die dann freudig die Indianer und die ehemaligen „Herren“, meist Spanier, ausraubten. Bis heute wird an der Ostküste ein englisches Kauderwelsch gesprochen, Spanisch ist dort ungern gehört.
Dann begann der Goldrausch. Nordamerika brauchte einen Weg, um von der West- an die Ostküste zu gelangen. Eine natürliche Verbindung zwischen den beiden Ozeanen läuft über den Río San Juan bis zum riesigen Nicaraguasee. Von dort sind es dann nur mehr 16 Kilometer bis zum Pazifik. 1848 sicherte sich der legendäre US-Eisenbahnmillionär Cornelius Vanderbilt auf zwölf Jahre die exklusiven Transitrechte dieser Strecke und die USA erhielten das ausschließliche Recht zum Bau des Nicaraguakanals. 1894, in der liberalen Revolution, besetzt José Santos Zelaya die karibische Miskitoküste und gewinnt sie aus dem englischen Protektorat zurück. Er verfügt eine Reihe fortschrittlicher Programme zur Verbesserung der Bildung, im Straßenbau und er führt die Dampfschifffahrt ein. Nicht ganz uneigennützig beschließt er, die Privilegien der USA zu beschränken und das Exklusivrecht auf den Bau des Kanals zu begrenzen (so kam er nach Panama). Zwischen Zelaya und der US-amerikanischen Regierung kommt es immer öfter zu Unstimmigkeiten. 1907 besetzen US-Kriegsschiffe einige Häfen Nicaraguas. 1909 exekutieren Zelayas Offiziere einige gefangen genommene Rebellen, unter ihnen auch zwei US-Söldner. Die US-Regierung nimmt dies zum Anlass für eine formale Intervention und Marines landen an der Karibikküste. Zelaya tritt zurück und geht ins Exil nach Mexico. Ein US-unterstütztes Regime ersetzt ihn. Die Bevölkerung wird unterdrückt, die Ressourcen des Landes ausgebeutet.

Sandino.
Nun war die Zeit gekommen für den nicaraguanischen Nationalhelden schlechthin. Der Plantagenknecht und Rumlager-Bewacher Augusto Sandino aus dem nicaraguanischen Miniaturdorf Niquinohomo erlebt als Migrant in Mexico, wie dort seine Landsleute auf den Erdölfeldern von den Nordamerikanern absurderweise als Vaterlandsverräter geneckt werden. Er entschließt sich, in seine Heimat zurückzukehren und gegen die nordamerikanische Besatzung zu kämpfen. Als General Augusto César Sandino initiiert er 1926 den ersten Guerillakrieg des Kontinents. Er wird zum Symbol der nationalen, aber auch lateinamerikanischen Identität und Rebellion gegen die ewige Fremdkontrolle, fast wie ein zweiter Simón Bolívar. Die völlig neue Guerrillataktik ist gegen die konventionelle Kriegsführung der US-Truppen erfolgreich.
Sandino setzt sich vor allem für die Bauern ein, gründet landwirtschaftliche Kooperativen, organisiert Bergbaugenossenschaften und verlangt, dass das Volk Land besitzen darf, eine Forderung, die bis heute nicht in Erfüllung gegangen ist. Die internationale Unterstützung für Sandino nimmt zu, selbst in den USA bilden sich Solidaritätsgruppen. Der französische Schriftsteller Henri Barbusse nennt ihn auf dem „Ersten Antiimperialistischen Kongress“, der 1928 stattfindet, den „General freier Menschen“. Die USA gründen die Nationalgarde mit nicaraguanischen Militärs, doch viele Soldaten laufen zu Sandino über. Anastasio Somoza García wird von den USA als Befehlshaber über die Nationalgarde eingesetzt. Er verwüstet ganze Dörfer und lässt Sandino-SympathisantInnen, vor allem Bäuerinnen und Bauern, foltern und massenweise hinrichten. Verheiratet ist er mit der Nichte des charakterlosen Präsidenten Juan Bautista Sacasa. Sandino trifft sich mit Sacasa 1934, um die „Säuberungen“ Somozas zu verurteilen und um einen Friedenspakt zu schließen. Und hier entfernt er sich vom Leben und nähert sich dem Mythos. Es gibt zwei Versionen zu seinem Tod: Eine besagt, er und seine Leute seien in einen Hinterhalt gelockt und von Somozas Truppen erschossen worden. Eine andere spricht von einer Einladung Sacasas zu einem Bankett und dass dort die Morde passiert seien. Der genaue Ort seines Todes ist bis heute unbekannt.

Somoza.
Anastasio Somoza begründet einen Clan, der fünf Familienmitglieder an die Macht bringt. Er geht auf ein nordamerikanisches College, arbeitet für die Rockefeller Foundation, verfällt dem Glücksspiel und befasst sich mit Geldfälscherei. Seine Englischkenntnisse verhelfen ihm immer wieder zu nordamerikanischen Kontakten und Aufträgen im Heimatland. Schließlich kürt ihn die Frau eines wichtigen US-Diplomaten zum Liebhaber. Dann heiratet er die Nichte des späteren Präsidenten Sacasa, den er 1936 zum Rücktritt zwingt. Ab 1937 regiert er das Land und lässt seine Nationalgarde weiter wüten. Freie Meinung und demokratische Rechte werden mit Füßen getreten. Die Währung sackt ab, das Volk hungert, weil die Kaffee- und Baumwollexporte stagnieren. Somozas Amtszeit währt mit Unterbrechungen bis 1956; am 21. September dieses Jahres fällt er einem Anschlag zum Opfer. Während seiner Herrschaft häufte er 100 Millionen Dollar in bar, unzählige Unternehmen und Landbesitz an. Seine Söhne – einer von ihnen, Luis Somoza Debayle, wird trotz Wahlbetrugs mit US-Unterstützung sein Nachfolger als Staatspräsident – eignen sich ein Viertel der gesamten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Nicaraguas an. Als 1972 ein Erdbeben Managua verwüstet, widmen sich die Somozas der dadurch angeheizten Bodenspekulation und reißen die internationalen Hilfsgüter an sich, um sie profitabel zu verkaufen.

Die Revolution.
Als Reaktion auf die Diktatur hatten Carlos Fonseca, Tomás Borge und Silvio Mayorga bereits 1961 den „Frente Sandinista de Liberación Nacional“ (Sandinistische Front zur Nationalen Befreiung – FLN, später FSLN) gegründet. Es war die Zeit, in der die linken Ideologien aufblühten und Befreiungsaktionen gegen Kolonialmächte Erfolge gezeigt hatten. 1959 waren die Revolutionstruppen in Havanna eingedrungen um Batista zu stürzen und in Algerien war ebenfalls eine FLN gegründet worden, um die Unabhängigkeit von Frankreich zu erkämpfen. Die nicaraguanische Guerilla handelte im Untergrund und organisierte sich in urbanen, universitären, Arbeiter- und bäuerlichen Sektoren. Dabei holten sie sich Hilfe aus Kuba sowie bei der palästinensischen Fatah. Das Volk wurde versammelt, gruppiert und instruiert. Gerne wird von „der schönsten aller Revolutionen“ gesprochen, eine Volkserhebung im wahrsten Sinne des Wortes, weil ganze Familien, von den Kindern bis zur Großmutter, an Bomben bastelten. 1974 schreitet der FSLN von kleinen Guerilla-Aktionen zur Offensive. 13 Guerilleros stürmen das Haus eines wichtigen somozistischen Politikers und nehmen bei einer diplomatischen Feier Geiseln, die gegen Lösegeld und politische Gefangene eingetauscht werden. Die Somozas verhärten darauf die Fronten und gehen massiv u.a. gegen die Bauern vor, der Sympathie mit den Rebellen Verdächtige werden u.a. aus Hubschraubern geworfen. Konzentrationslager für Somoza-GegnerInnen wurden eingerichtet. Der FSLN gewinnt an Boden und 1979 rufen die USA die Organisation amerikanischer Staaten (OEA) zur Hilfe auf, um die Sandinisten zu bremsen, erhalten jedoch keine Unterstützung. Am 19. Juli 1979 übernehmen die Sandinisten die Macht, Luis Somoza flieht nach Miami.

Sandinisten und Contras.
Der FSLN versammelte in seiner Regierung Mitglieder aus den unterschiedlichsten Sphären der nicaraguanischen Gesellschaft. Journalistin Violeta Chamorro, Schriftsteller Sergio Ramírez, den Befreiungstheologen Ernesto Cardenal, Daniel Ortega ... Als erstes standen die Abschaffung der Todesstrafe, die Garantie der Meinungsfreiheit, umfangreiche Reformen im Gesundheits- und Bildungswesen und eine Agrarreform zu Gunsten landloser Bauern auf der Tagesordnung. Die Reichtümer der Somozas und anderer Großgrundbesitzer wurden enteignet, die Banken und Minen verstaatlicht, schätzungsweise im Wert von 40% der nationalen Ökonomie. Das Team war handlungswillig, schnell und kompetent. Allerdings drifteten die Ideen auseinander, wie man die Volkshegemonie umsetzen sollte.
Eineinhalb Jahre nach dem sandinistischen Triumph behaupteten die USA, Nicaragua unterstütze Guerrilleros in San Salvador. Unter diesem Vorwand wurde ein Embargo bewirkt und 10.000 „Contra“(-revolutionäre) ins Land geschickt. Die Mehrzahl von ihnen waren Mitglieder der nach Honduras geflüchteten somozistischen Nationalgarde. Ganze Landstriche wurden vermint, die Contras sabotierten Fabriken, folterten und töteten wie unter Somoza Bauern und Mitglieder von Landkooperativen, Lehrer und Ärzte öffentlicher Gesundheitszentren, sprengten Pipelines, Getreidesilos, Bewässerungsanlagen, Straßen, Brücken und Schulen. Um die Contra-Ausstattung zu finanzieren, griffen die USA auf illegale Geldverschiebungen zurück: Der Ertrag aus völkerrechtlich verbotenen Waffenlieferungen an den  Iran wurde in die Contra-Ausstattung investiert (Irangate); der Drogenhandel wurde angekurbelt und die Erträge in Waffen gesteckt. 38.000 Tote forderte der Contra-Krieg, die meisten unter der Zivilbevölkerung. Oft hört man aber auch von insgesamt 100.000 Opfern. Während sich die Fronten verhärteten, schickten Kuba und die Sowjetunion massive Unterstützung. Aus der ganzen Welt kamen freiwillige Helfer, doch die Auseinandersetzungen währten 10 Jahre lang. Jewgenij Yushchenko, ein berühmter russischer Dichterrebell, der mit 500 Landsleuten nach Nicaragua gekommen war, um die Sandinisten zu unterstützen, brachte beim nicaraguanischen Poesiefestival 2009 die Problematik aus der Vergangenheit auf den Punkt: „Wie Bomben zünden und Kugeln schießen, dass man den Richtigen trifft und nicht Frauen und Kinder? Menschlichkeit ja, aber lasst Eure Ehre nicht beflecken mit Blut – Blut – Blut.“ Das Gefecht wurde immer brutaler. Man musste stets genau wissen, welche Truppen wann wo eintrafen, denn Contras wie Sandinisten nahmen alle mit, die sich nicht auf ihre Seite stellten. Kritik am FSLN war nicht mehr erlaubt. Ein eigenes „Generalgesetz über soziale Kommunikationsmedien“ schaltete mit dem Artikel 13 die Zensur wieder ein: Sämtliche Medien hatten ihre Produktionen vor Veröffentlichung der neu eingerichteten „Direktion für Medienkommunikation“ vorzulegen. Darauf hin verließ Violeta Chamorro den FSLN. Ihr Mann und Besitzer der Zeitung „La Prensa“ war von Somoza umgebracht worden. Sie war als ausgebildete Journalistin eine Verteidigerin der freien Meinung und Sandinistin der ersten Stunde gewesen, doch dieser Sinneswandel innerhalb der Partei war ihr zu viel. Sergio Ramírez, Schriftsteller und Menschenrechtler zerwarf sich mit Daniel Ortega, der Erschießungen von Parteigegnern in Auftrag gab.

Das Ende des gelebten Sandinismus.
Ab 1986 unterstützte die Sowjetunion den FSLN nicht mehr. Der Irangate-Skandal flog auf und die USA mussten jede Finanzierung der Contras einfrieren. Mit Nicaragua wurde als Lösung eine Präsidentschaftswahl vereinbart. Daraus ging 1990 Violeta Chamorro als Siegerin hervor, ihr wurde USA-Treue vorgeworfen. Sie verhandelte geschickt mit den Sandinisten, schaffte den Wehrdienst ab, machte Verstaatlichungen rückgängig und führte wieder eine umfassende Marktwirtschaft ein, privatisierte das Gesundheitssystem, machte viele der unter der FSLN-Regierung eingeführten Sozialleistungen rückgngig und übergab nach Ablauf ihrer Legislaturperiode ein Land, das zwar die Inflation besiegt hatte, in dem aber Auslandsschulden, Arbeitslosigkeit, Analphabetenrate und Kindersterblichkeit wieder kräftig stiegen. Ihr Nachfolger wurde Arnoldo Alemán von der rechten Alianza Liberal, der am Ende seine Amtszeit wegen Korruption zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt wurde, die er aber – auch dank Absprachen mit den Sandinisten – nie antreten musste.

Der Danielismus ersetzt den Sandinismus.
Nachdem er in zwei Wahlen durchgefallen war, verbündete sich Daniel Ortega mit Aléman in einem Pakt zum wechselseitigen Vorteil der beiden Parteien, der sich z.B. in gegenseitiger Unterstützung bei Postenbesetzungen äußert, und wurde 2007 wieder zum Präsidenten gewählt. Ab da wird in Nicaragua nicht mehr vom Sandinismus, sondern nur mehr vom Danielismus gesprochen.
Der ehemalige Sandinistenanführer rühmt sich u.a.verschiedener Errungenschaften, die es in der Realität nicht gibt: Am 30. Jahrestag der Revolution verkündet er, der Analphabetismus gehöre endgültig der Vergangenheit an. Reale Zahlen: 1980 bewirkte die sandinistische Alphabetisierungskampagne, dass der Analphabetismus innerhalb eines Jahres von 52% auf 12,9% sank. Im Jahr 2009 betrug er wieder über 30%, wobei gemunkelt wird, 40% sei realistischer, möglicherweise sind es auch 60%, die nicht lesen oder schreiben können ... Die Alphabetisierungsmaßnahmen werden mehrheitlich von Privatinitiativen oder Vereinen durchgeführt, der Staat setzt sich nicht massiv dafür ein. Zwar ist die Schulbildung gratis, aber für Schulverweigerer gibt es keine Strafmaßnahmen und so ist Straßenarbeit rentabler, vor allem wenn die Eltern ihre Kinder auf die Straße schicken. Dazu kommt die Uniform-Pflicht an allen Schulen – die Armen können sich das nicht leisten.

Keine Meinungsfreiheit.
Ein weiterer Fake des aktuellen FSLN: Die Freiheit. In bestimmten Positionen ist Parteizugehörigkeit eine Selbstverständlichkeit. Jede Form von Kritik gegenüber dem System steht da im Weg. Interessant ist, wie LeiterInnen und Moderierende freier Radios denken. In den 80ern hat der Sandinismus systematisch die freien Radios unterstützt und sie schossen wie Schwammerl aus dem Boden. Kultursendungen, Bildungskampagnen und Erziehungssendungen wurden ausgestrahlt. Argentina Olivas (54), die langjährige Radiomacherin und Vorsitzende von AMARC Nicaragua: „Viele erlernten in dieser Zeit den Radiojournalismus, das war das Wiederauferstehen der partizipativen Communities und des Sendens im revolutionären Kontext. Viele der damals entstandenen Radios existieren heute noch.“ War es in den 80ern möglich, die Regierung zu kritisieren? „Nein. Aber es war alles neu und sah so schön aus, da fehlte uns die kritische Einstellung. Jetzt haben wir schon andere Erfahrungen gemacht und sehen das nicht mehr so rosa. In allen Statuten sandinistischer Radios ist die Meinungsfreiheit verankert, aber dem Statut kann nicht risikofrei nachgekommen werden. Das ist traurig.“ Alle freien Radios nennen sich nach wie vor „sandinistisch“, doch Ausländern gegenüber sprechen ältere ModeratorInnen skeptisch über das jetzige System. Azucena Castillo (59), Leiterin des Universitätsradios in Managua, sagt dazu: „Die Ideologie war richtig. Es ist auch viel geleistet worden. Aber die Ausführung war falsch. Die Reformen sind nicht fertig gebracht worden, in den Straßengräben lagen die Leichen, zu viele Leichen.“

Abkehr von der Landreform.
Zwar wurden in den 80ern die Großgrundbesitzer enteignet und die Bauern durften die Flächen nützen, doch die Regierung vergaß, die neuen Nutznießer im Grundbuch einzutragen. Nun fordern einflussreiche Wiedereinwanderer mit alten Grundbuchauszügen ihre Besitzungen zurück. Jetzt ist es Daniel Ortega, der die Armen erneut vertreiben lässt, damit die Reichen aus dem USA-Exil ihren Besitz zurück bekommen. Die Ortegas werden übrigens beschuldigt, die Situation ausgenützt zu haben, um sich selbst Grundstücke anzueignen.
Mit seinem neuen politischen Freund Aléman, der den Somozismus verteidigt, plant Ortega  angeblich gemeinsame Projekte ... arunter auch eine Wiederauflage des Nicaraguakanals, die Alemán schon seit 1999, als er als Nachfolger Chamorros im Präsidentenamt saß, ins Auge fasste. Der Anschlusshafen an der Atlantikküste, Monkey Point, sollte zu einem riesigen Hafen umgebaut werden. Hier befindet sich jedoch die Heimat des vom Aussterben bedrohten Indianerstammes der Rama, die von Bewaffneten von ihrem Land vertrieben werden. Im Oktober 2009 verhandelte Ortega bereits mit dem Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Sheikh Abdullah bin Zayed, über eine Finanzierung des Kanals durch die VAE.

Präsident auf Lebenszeit?
Schließlich und endlich gibt es noch einige persönliche Details, die das Privatleben Ortegas überschatten. So hat er widerrechtlich seine Frau Rosario Murillo im Mai 2010 zur Premierministerin ernannt. Sie wird somit für die Präsidentschaftswahlen 2011 zur zweiten Alternative des FSLN, sofern Ortega nicht wieder kandidiert.
1998, als Ortega Abgeordneter der Nationalversammlung war, wurde er von seiner Stieftochter, Zoila Narváez Murillo, wegen Vergewaltigung angezeigt. Nach ihrer Aussage habe er sie seit ihrem 11. Lebensjahr bis 1998 belästigt und missbraucht. Die Anschuldigungen wurden nicht einmal dementiert, Ortegas Anwältin schickte an das Gericht eine Aufforderung, die Klage zu verwerfen, da ihr Mandant Immunität genieße. Weiters seien diese Taten nur von 1978 bis 1982 begangen worden und somit jetzt verjährt.
Die Frauenrechte zu fördern war auch einer der Schwerpunkte der sandinistischen Revolution. 1980 verließen die Mütter und Hausfrauen das Heim, um mit Waffen zu kämpfen und in formelle Arbeitsprozesse eingegliedert zu werden. 2006 wurde eines der befremdlichsten Gesetzte überhaupt in Nicaragua erlassen: Das Parlament stimmte zu, die therapeutische Abtreibung abzuschaffen. Seither müssen Frauen, deren eigenes Leben durch eine Schwangerschaft bedroht ist, bei Abtreibung mit einer Haftstrafe rechnen – ebenso die beteiligten ÄrztInnen, denen zudem die Lizenz entzogen wird. Auf diese Art gewann Ortega die Unterstützung des erzkonservativen nicaraguanischen Klerus für die Präsidentschaftswahl.
Ortega sägt aber weiter an der sandinistischen Verfassung. Nach den somozistischen Erfahrungen wurde es PräsidentInnen verboten, sich ein zweites Mal in Folge für Wiederwahlen aufzustellen. Am 20. Oktober 2009 wurde beschlossen, dieses Verbotsgesetz abzuschaffen. Ab nun können sich PräsidentInnen unendlich oft hintereinander wählen lassen. Hat Ortega vor, auf immer im Amt zu bleiben?

|Karina Liebe-Kreutzner
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