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Südafrika: „Das Gefühl der nationalen Einheit war nur eine Blase“
Sonntag, 14. November 2010
Der südafrikanische Linguist Neville Alexander nahm Ende Oktober auf Einladung der Akademie Graz und verschiedener Partnerorganisationen als Keynote-Speaker am Symposium „Unity in Plurality“ über die Förderung von Mehrsprachigkeit teil. Der heute 74-jährige Neville Alexander ist aber nicht nur Sprachwissenschafter und Berater der ANC-Regierung in Sachen Mehrsprachigkeit, er war auch einer der wichtigsten Anti-Apartheid-Kämpfer seines Landes und während des Apartheid-Regimes – gemeinsam mit Nelson Mandela – zehn Jahre lang auf der Gefängnisinsel Robben Island eingekerkert. Und er ist weiterhin ein scharfer Analytiker der politischen und sozialen Verhältnisse seines Landes.
Mit Alexander sprach KORSO-Herausgeber Christian Stenner über die aktuelle Situation in Südafrika nach der WM.

Als wir 2007 das letzte Mal zusammengetroffen sind, haben Sie unter Verweis auf die zunehmende soziale Radikalisierung in Südafrika befürchtet, das Militär könnte putschen, um die Macht des Kapitals zu restaurieren. Es hat sich nicht so entwickelt.
Zum Militärputsch ist es nicht gekommen, aber die Radikalisierung ist nicht vorbei. Inzwischen halte ich aber die Gefahr eines Militärputsches für geringer. Das Black Economic Empowerment Programme hat dazu beigetragen, dass die Schwarzen im ANC sich dagegen wehren würden, wenn das Kapital die Militärs dazu benützen würde, um eine Anti-ANC-Regierung an die Macht zu bringen. Ich glaube, sie werden alles versuchen, um das zu vermeiden, auch um den Preis von Zugeständnissen, die ja tatsächlich auch passieren. Es ist ja noch immer so, dass z.B. die früheren Apartheidgeneräle und -technokraten die Luftwaffe und die Marine in Südafrika kontrollieren. Vielleicht gilt das nicht im gleichen Maße für die Armee selbst, aber es ist wichtig, dass man diese Kräfteverhältnisse richtig erkennt; die schwarze Führungsschicht würde sich allein aus diesem Grund gegen einen Putsch wenden, weil ein solcher für auch für sie keine angenehmen Folgen hätte.

Das heißt, die Black-Empowerment-Programme waren wirksam?
In dem Sinn, als eine Elite innerhalb des ANC und überhaupt innerhalb der schwarzen Bevölkerungsgruppe, eine schwarze Mittelklasse, deren Ursprung schon in den letzten Jahren der Apartheid liegt, durch diese Programme beschleunigt gewachsen ist. Aber es handelt sich dabei, wenn man sämtliche Angehörige der Mittelklasse einbezieht, um weniger als zwei Millionen Menschen. Für die große Mehrheit der Bevölkerung bringt Black Empowerment überhaupt nichts.

Vor wenigen Monaten war die südafrikanische Gewerkschafterin Beauty Ntombizodwa Zibula in Graz, sie berichtete, dass die Black-Empowerment-Programme insofern geändert wurden, als sie nun stärker auf genossenschaftliche Betriebe hin fokussiert werden, weil sie in den großen privaten Betrieben, die Weißen gehören, offenbar nicht gegriffen haben.
Ich glaube, dass dies in der Rethorik der relevanten Ministerien so gesehen wird, dass aber in der Praxis die genosssenschaftliche Entwicklung vor allem auf dem Lande, ein Misserfolg ist. Dennoch halte ich das für den richtigen Weg. Und ich bin noch immer hoffnungsvoll, dass auf diesem Gebiet sich auch tatsächlich etwas ändern könnte. Und was meiner Ansicht nach ganz wichtig ist, ist, dass viele weiße Farmer sich unter dem Imperativ der Nahrungsmittelsicherheit veranlasst sehen, die so genannten neuen Farmer, also die Schwarzen, darin zu unterstützen, wissenschaftlich  Agrarwirtschaft zu betreiben.

Also eine Art Technologietransfer?
Ja, und der hat sehr positive Auswirkungen.

Um noch einmal auf meine einleitende Frage zurückzukommen: Gibt es einen Zusammenhang der sozialen Radikalisierung von 2007 mit den xenophoben Ausschreitungen 2008?
Ja. Diese Ausschreitungen sind die im ideologischen wie auch im sozialen Sinn negativen Auswirkungen dieser Radikalisierungen. Es ist wirklich ganz verheerend für uns, die wir am Anti-Apartheidkampf teilgenommen haben, zu hören, wie viele junge Leute heute xenophobe Argumente benutzen. Es gibt aber auch Bürgerinitiativen, die gegen diese Xenophobie ankämpfen, und die Regierung unterstützt sie sehr entschlossen. Ich glaube, die Regierung weiß, dass diese xenophobe Haltung zu weiteren Ausschreitungen führen könnte, die für ein neues Südafrika verheerend wären.  

Wie stark hat die Weltmeisterschaft zu einer klassenübergreifenden Einheit und, darüber hinausgehend, zu einer Stärkung der nationalen Einheit geführt?
Das ist ganz künstlich vor allem vom ANC hochgespielt worden – ganz künstlich deswegen, weil dieses Nationalgefühl wieder völlig verschwunden ist.
Heute wollen die Menschen z.B. wissen, warum alle diese Stadien gebaut wurden anstatt Häuser und Wohnungen. Dieses Gefühl der nationalen Einheit und des nationalen Stolzes, das vom ANC und auch vom Kapital aufgebläht wurde,  das war tatsächlich nur so eine Art Blase – die ist weg.

Die vielbeschworene Nachhaltigkeit hat also nicht stattgefunden.
Nein, überhaupt nicht. Deswegen meine ich noch immer, dass nationale Projekte, wenn sie nicht der Arbeiterklasse direkt zum Vorteil gereichen, nicht zu diesem Gefühl der nationalen Einheit beitragen werden. Und ich glaube, dass die jetzige Regierung das weiß, aber sie sind Gefangene des Großkapitals; bestimmte Möglichkeiten stehen ihnen gar nicht offen. Im Buch von Friedrich Engels über den deutschen Bauernkrieg gibt es einen wunderschönen Absatz, wo er meint, dass der Prinz, der zu früh an die Macht gekommen ist, die Pläne der gegnerischen Klasse ausführen muss. Das passiert dauernd bei uns. Viele Personen in der Führungsschaft des ANC würden sich gerne für die Arbeiterklasse einsetzen, aber sie können das nicht.

Sie sind dazu verurteilt, eine nachholende Modernisierung durchzuführen. Wird das erfolgreich sein? Derzeit wird Südafrika in einem Zuge mit Brasilien, Russland und Indien genannt …
Im Makrosinne auf jeden Fall, würde ich sagen.
Das heißt, die Wirtschaft wird boomen, aber die wenigsten haben etwas davon?
Genau. Die Verteilung der Ressourcen wird immer ungleicher, der Gini-Koeffizient ist in Südafrika sehr hoch.

Das heißt, dass die globale Wirtschaftskrise sich besonders stark auf die unteren Schichten auswirkt – geht es dieser Bevölkerungsgruppe jetzt schlechter als noch vor wenigen Jahren?
Zum Teil trifft das leider zu. Dazu kommt, dass viele wichtige Institutionen, vor allem das Gesundheitswesen, stark an Qualität eingebüßt haben. Die Lebensqualität ist tasächlich für viele Menschen – ich würde sogar sagen, für eine große Minderheit – viel schlechter geworden.
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