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Männergesundheit: „Ausschlaggebend ist die Lebensweise“
Dienstag, 5. Oktober 2010
Trotz massiver Aufklärung herrschen in den Medien nach wie vor Klischees über Männergesundheit und Sexualität vor. Dr. Wolfgang Hinkel ist Facharzt für Urologie und Andrologie und räumt mit Vorurteilen auf. Mit Karina Liebe-Kreutzner hat er über Hormone, Sexualstörungen, soziale Zwänge und Partnerschaft gesprochen. Den Begriff Andrologie hört man viel seltener als Gynäkologie, warum ist das ein weniger bekanntes Gebiet?
Es ist historisch gereift und geht in die Tiefe. Andrologie ist sehr interdisziplinär aufgebaut, sie vereint das Wissen um Urologie, Erektionsstörungen, hormonelle Probleme und natürlich die männliche Reproduktionsmedizin sowie die Sexualität.

Aber man kann nicht sagen, dass ein fixer Prozentsatz der Männer zum Andrologen kommt, während Frauen regelmäßig zu GynäkologInnen gehen. Welche Patienten kommen zu Ihnen?
Jene, die von mir in Foren gelesen und sich vorinformiert haben. Dem Mann, der zu mir kommt, ist seine Sexualität etwas wert. Ein anderer kommt gar nicht. Die Dunkelziffer der Verdränger ist enorm. Die meisten schlucken sehr viel runter, verstecken ihre Sensibilität und versuchen zu kompensieren. Sie reagieren sich im Fitnesscenter ab oder lassen sich am Stammtisch mit Märchen berieseln.

Sie haben sich u.a. auf dem Gebiet der Hormone und hormonellen Störungen spezialisiert. Wie beeinflussen die Hormone die Menschen wirklich, wenn man von den typischen Klischees einmal absieht?
Jedes Geschlecht produziert auch das Haupthormon des anderen in sich, von daher sind wir nicht so verschieden. Östrogene sind z.B. für die Beweglichkeit der Spermienfäden verantwortlich, Testosteron ist  z.B. wichtig für die Libido der Frau.

Auf die Mischung kommt es an

Kann man bei Problemen eindeutig die Sexualhormone identifizieren oder geht es in einem gesunden Organismus einfach um die richtige Konzentration aller Botenstoffe, von Glücks- Stress- bis hin zu Stoffwechselhormonen?
Es kommt auf den Cocktail an, auf das Zusammenspiel. Man kann nicht von vornherein sagen, ein Mann leidet unter Erektiler Dysfunktion (ED), weil sein Testosteronspiegel zu gering ist. Genau das Gegenteil kann passieren, nämlich dass jemand mit hohem Testosteronwert unter Potenzstörungen leidet. Das ist nicht klar zu differenzieren. Wenn jemand sich z.B. in der Andropause befindet – die gibt es beim Mann genauso wie bei der Frau die Menopause – oder wenn jemand sich abgespannt fühlt und einen niedrigen Testosteronwert aufweist, dann kann man sagen, es könnte daran liegen. Dann gilt es den Lifestyle zu wechseln.

Lebensweise ausschlaggebend

Das heißt, vor einer Hormontherapie empfehlen sie erst einmal eine Änderung der Lebensweise?
Richtig. Studien haben bewiesen, dass Sport, eine Umstellung der Ernährung und eine Entwöhnung von Zigaretten und Alkohol viel verbessern können. Wenn sich danach auch nichts ändert, kommt die Hormonkontrolle, da wird eine Kaskade von Hormonwerten geprüft. Dann folgt eine Substitutionstherapie in Form eines Hormons.

Woran liegt es, dass Hormone aus dem Gleichgewicht geraten?
Aufgrund einer Kombination von vielen Faktoren. Die Ernährung ist da ganz wichtig. Man weiß, dass adipöse Menschen hormonelle Schwierigkeiten haben. In Nahrungsmitteln sind zu wenige Nährsubstanzen enthalten. Allgemeine Umwelteinflüsse sind auch relevant.

Gibt es da auch psychologische Faktoren?
Hormonelle Störungen sind Stoffwechselprobleme. Wechselwirkungen zwischen Psyche und Stoffwechsel sind möglich, aber nicht fix untersucht. Was anderes sind Sexualstörungen. Das muss man unterscheiden.

Gründe für Sexualstörungen

Was gibt es da für Faktoren?
Der Stress im Alltag und in der heutigen Gesellschaft ist ganz akut. Männer stehen unter enormem sozialen Druck. Der Großteil der Männer ist sehr sensibel, darf es aber nicht zeigen oder traut sich nicht. Einerseits gibt es da noch die Mentalität, man müsse alles kontrollieren, andererseits ändert sich die Gesellschaft rapide. Da kennt sich keiner mehr aus und es fehlt an Flexibilität. Weiters: Druck bei der Arbeit und vor allem sozialer Stress, wie z.B. Familienprobleme. Manchmal reicht es, dass ein Kind krank ist. All das führt zu sexuellen Störungen bei beiden Geschlechtern. Jede seelische Überforderung kann Sexualität beeinträchtigen oder sogar verhindern.

Was sind die häufigsten Probleme, mit denen Patienten zu Ihnen kommen?
Erektionsstörungen und Libidoverlust. Meist ist beides in Kombination vorhanden und es ist anfangs schwer zu sagen, was zuerst da war. Wenn der Mann nicht kann, als Versager dasteht und das wiederholt sich, dann geht er nicht mehr auf die Partnerin zu und die Partnerin nicht auf ihn. Da beginnen die zwischenmenschlichen Probleme, die meist die Ursache für dauerhaften Libidoverlust sind. In jedem Fall müssen organische Erektile Dysfunktionen (EDs) ganz gründlich abgeklärt werden. Oft können EDs Vorboten schwerwiegender Erkrankungen sein wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Parkinson oder Alzheimer. Es gibt Fälle von langsam beginnender ED, die typisch für Diabetiker sind.

Fortpflanzungsmedizin

In Spanien und anderen EU-Ländern werden regelmäßig Studien zur Überprüfung der Spermienqualität durchgeführt und Jahr für Jahr fallen die Ergebnisse schlechter aus.
Ja, die Spermienqualität nimmt überall ab, das ist bekannt. Die Ursachen sind multifaktoriell: Umwelt, Ernährung, Gesellschaftsdruck etc. ...

Heißt das, eine bedrückte Psyche kann Spermien lahmlegen?
Vereinfacht könnte man sagen, da könnte es solche Zusammenhänge geben. Jedenfalls muss man bei solchen Untersuchungen das Ejakulat der 20-jährigen Männer heranziehen. Evolutionsgenetisch sind wir mit 40–50 Jahren über den Berg und die Spermienqualität ist dann einfach schlechter.

Aber es gibt Fälle von 80-Jährigen, die noch drei junge Kinder haben – sind da die Frauen fremdgegangen?
Das sind oft falsche Mutmaßungen. Selbst wenn er ein ganz schlechtes Sperma hätte, so reicht eine Spermie bei einer sehr fruchtbaren Frau für eine Schwangerschaft aus. Es sind eben über 20 Millionen Spermien pro Milliliter im Ejakulat, weil das für das Fortbestehen der Art besser ist, aber es reicht ein Spermium für eine Schwangerschaft.

Sind Vasektomien wirklich sichere Maßnahmen, oder kann es da minimalprozentig zu Schwangerschaften kommen?
Männer, die ihre Verantwortung in der Reproduktion wahrnehmen und keine Kinder mehr zeugen möchten, unterziehen sich immer öfter diesem Eingriff. Nach der Operation sind nur zwei Nachkontrollen nötig, ab da ist die Verhütung vollkommen sicher. Die Menge und Beschaffenheit des Ejakulats bleibt exakt gleich, nur unter dem Mikroskop kann der Mangel an Samenzellen festgestellt werden.

Problem Prostata

In Bezug auf die Gesundheit älterer Männer ist in den letzten Jahren immer öfter die Rede von Prostataoperationen. Sind das notwendige Eingriffe oder ist das ein gutes Geschäft?
Die Prostata ist sicher ein Organ, dass die Männer zunehmend beschäftigen wird. Harnhalten, Harnstromprobleme betreffen fast jeden, manchmal sogar Junge, wobei das allein nichts Ernstes sein braucht. Aber man muss wissen, dass Prostatakarzinome mit Abstand die häufigsten Karzinome des Mannes sind und dass die Erkrankungen immer mehr zu den jüngeren Jahrgängen hingehen. Patienten ab 40-45 Jahren sollten zur Prostatavorsorge. Die Vorsorge ist eine schmerzlose Untersuchung plus Messung des PSA-Wertes. Durch Früherkennung werden viele Krebspatienten herausgefiltert. Die Gegner der Prostatavorsorge argumentieren:  Die Prostatabiopsie kann weh tun oder zu Blutungen führen und nur bei jedem fünften Biopsierten sind Karzinomzellen zu finden, während 80% der Patienten für nichts untersucht wurden. Man kann es aber auch so sehen, dass ohne Vorsorge und Abklärung jene 20% der Patienten übersehen werden und bei einem Teil der Erkrankten (vor allem der jüngeren Patienten) kann ein unbehandelter Tumor zum Tod führen. 50-Jährigen würde ich eine Operation raten, bei über 70-Jährigen wählt man eher andere Therapieformen (z.B. Hormontherapie etc.).

Ist die Operation risikobehaftet?
Man muss den Patienten über die Folgen aufklären: Inkontinenzprobleme kann er innerhalb einer Woche in den Griff bekommen. Erektile Dysfunktionen (EDs) können nach paar Wochen therapiert sein, sofern man früh genug mit PDE5 Hemmern (Viagra, Cialis, Levitra etc.) anfängt. Eine sexuelle Rehabilitation kann aber auch bis zu drei Jahren dauern und es können auch bleibende ED-Probleme auftreten.
 
Sex-krank

Wir haben über die Störungen gesprochen, die den Geschlechtsverkehr erschweren oder verhindern. Gibt es auch den umgekehrten Fall, dass jemand im wahrsten Sinne des Wortes Sex-kank ist, wie das angeblich der Fall war bei J.F. Kennedy, der unter einem Nebennierenrindenproblem litt?
Es gibt z.B. Nebennierenrindentumore. Man muss wissen: 90% des Testosterons wird in den Hoden, 10% wird in der Nebennierenrinde (NNR) gebildet. Nebennierenrindentumore können gutartige Gewächse sein, aber diese Adenome können wiederum zusätzliches Testosteron produzieren. Dadurch kann sich ein extrem hoher Testosteronspiegel ergeben. Gleichzeitig findet in der Nebenniere die Katecholaminproduktion statt, die auf das Herz-Kreislaufsystem wirkt. Im Extremfall können Herzrasen, Schwindel, Rückenstörungen usw. mit einer erhöhten Testosteronproduktion zusammentreffen. Diese Nebennierenprobleme sind bekannt. Ja, das gibt es.

Die Beschaffenheit des Schwellkörpers

Kann exzessive sexuelle Betätigung beim Mann zu Potenzstörungen oder sexueller Ermüdung führen, wie das früher behauptet wurde?
Das ist eine vollkommene Mär, ganz im Gegenteil. Wer das sagt, kennt die Schwellkörperanatomie nicht. Ich habe Fälle, da ist die Partnerin gestorben und nach zwei Jahren hat der Mann sich neu verliebt, aber er kann nicht. Wenn man aufhört, kommt es zu EDs und Problemen.

Aber ist Erregung nicht auch eine Reizreaktionen, die mit Nervenendchen zu tun hat? Dort wo Nervenendchen sind, bleiben sie doch auch?
Ja, sie sind immer da, aber die Synapsenbildung ist anders, die Erregungsübertragung ist stärker, wenn die Nervenendchen genützt werden. Alles, was in Arbeit ist, funktioniert – aber es verkümmert, wenn es stillgelegt wird. Ausschlaggebend ist aber die Beschaffenheit des Schwellkörpers: er ist nur optimal mit Blut und Sauerstoff versorgt, wenn er in Erektion ist. Die Tumeszenzphasen in der Nacht sind ein ideales natürliches Training. Nur wenn der Penis steif ist, erfolgt eine maximale Durchblutung und die glatte Muskulatur wird optimal mit Sauerstoff versorgt. Nur da lebt er, da wächst er. Aber wenn er nicht versorgt wird, atrophiert er. Er wird zu Bindegewebe, das ist wie Narbengewebe. Da kann man nur sagen: Use it or loose it!

Pornografie und falsche Vorstellungen

Kann man die Sexualisierung der Gesellschaft oder die Pornographisierung der Medien für Sexualstörungen verantwortlich machen?
In den Medien wird sehr viel Druck verbreitet und das spiegelt sich dann in der Gesellschaft. Was da bei Stammtischrunden geredet wird, das kann es gar nicht geben. Auch wenn Jugendliche Pornos anschauen, dann sehen sie sportliche Betätigung, die hat nichts mit Sexualität oder Partnerschaftlichkeit zu tun. Aber das beeinträchtigt natürlich die sexuellen Fantasien und verzerrt die Erwartungen. Zu mir kommen 18-, 19-Jährige mit EDs, denen fehlt nichts, die haben einfach eine falsche Vorstellung und glauben dies oder jenes muss man heutzutage machen. Da muss man ansetzen: Das, was da kolportiert wird, ist nicht die Wirklichkeit.

Freude an der Freude des anderen

Was sagen Sie diesen Männern über die Wirklichkeit?
Sexualität zwischen zwei Menschen ist immer partnerschaftlich. Sobald etwas einseitig wird, passt es nicht mehr. Was für einen normal ist, kann für den anderen abartig sein. Aber wenn jemand nur einmal im Jahr Sex haben will und das für beide in Ordnung ist, dann ist das gut so. Andere wollen es jeden Tag, aber es muss für beide passen und es muss kommuniziert werden. Gute Sexualität und Partnerschaft beinhaltet immer die Freude an der Freude des anderen.

„Jeder Topf findet seinen Deckel“ ist ein Spruch, der besagt, es gibt die ideale Partnerschaft, aber  mit der/dem Erstbesten klappt es meistens nicht. Das mit der Partnerschaft ist ja nicht so leicht - gibt es da eigentlich Patienten, die ihre Partnerinnen in allem lieben, aber auf körperlicher Ebene Probleme mit der sexuellen Kompatibilität haben?
Sie meinen die Kompatibilität wie sie z.B. im Kamasutra steht: Ein Pferdmann passt nicht zu einer Rehfrau und umgekehrt ...?

Ja, zum Beispiel. Aber auch einfach Unterschiede in der Empfindsamkeit.
Ich habe oft überlegt, warum nicht mehr Paare mit solchen Problemen kommen – es sind erstaunlich wenige und wenn, dann sprechen sie schon miteinander darüber und benützen Hilfsmittel. Ich glaube, dass die meisten sich zum richtigen Typ hingezogen fühlen, das regelt der Instinkt. Anatomische Probleme kann es aber vor allem nach schweren Operationen von Mann oder Frau geben.

Was Männer wirklich wollen

Zusammengefasst und im Hinblick auf Klischees und Missverständnisse, welchen Rat würden Sie Männern für ein besseres Leben geben?
Ganz wichtig: mit der Partnerin sprechen, verbalisieren, nicht runterschlucken. Und generell: Die Männer sollten sich nicht danach richten, was in den Medien verbreitet wird. Medien verlautbaren eine falsche Wirklichkeit, die konstant in Metamorphose ist, denn der Markt muss sich ja drehen. Das, was vor 10 Jahren noch aktuell war, ist jetzt veraltet – auch im Verhalten und im Umgang miteinander.

Was hat es mit dem Beziehungszwang auf sich, beklagen sich die Männer über Bindungsängste?
Na ja, das wird medial so aufgebaut. So viel Sex wie möglich, aber nicht binden und schon gar nicht heiraten, weil dann bist du schon verloren. Sie bilden sich ein, etwas zu versäumen, aber das ist eine Chimäre, der sie hinterherlaufen. Diese Berufsjugendlichen, die da mit 50 noch Angst vor Verantwortung haben, vergessen zu leben. Leben kann man nur, wenn man sich auf etwas einlässt, alles andere ist Trockenschwimmen und gerade das kann sehr unbefriedigend sein. Aber abgesehen davon wird in den Medien ja nur über Scheidungen und Ehekatastrophen berichtet. Wie sich die Leute verliebt haben, oder dass es irgendwann mal schön war, steht nirgends. Es wird auch nie die Sicherheit erwähnt, die ja für beide Partner und für die Kinder viel bedeutet. Alles wird nur negativ dargestellt und das Tragische ist: Es geht nur mehr um Geld. Die Gefühle zählen nicht mehr und auch nicht, dass man etwas für jemand anderen tut, sondern nur: „was kriege ich dafür“.
Da müssen Männer eine gewisse Stärke haben und sich davon trennen und fragen, was möchten sie und wer möchten sie sein. Danach müssen sie ihr Selbstbild aufbauen, egal wie aktuell oder veraltet es sein mag. Sie sollten in sich gehen und sich fragen, was sie wirklich wollen.

Was glauben Sie, was Männer wollen?
[Lange Pause] Ich glaube, dass die meisten Männer eine glückliche Partnerschaft mit einer Partnerin leben wollen.
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