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Polen: Präsidentschaftswahl „in schiefer Soziallage“
Montag, 19. Juli 2010
Österreich genießt seit 1955 die Souveränitat, Polen ist erst seit 21 Jahren ein nach den in der westlichen Welt geltenden Kriterien freies Land. Wer daran Zweifel zu hegen wagt, ist selbstverständlich kein Patriot – die NATO, der Polen doch seit 1999 angehört, gibt uns Schutz und Sicherheit und die EU, deren Mitglied wir seit 2004 sind, bürgt für den „Wohlstand für alle“. Im Euroland sind wir noch nicht, aber die Regierenden wollen so schnell wie möglich in die Geldgemeinschaft. NATO- und EU-Mitgliedschaften haben  Konsequenzen.  Davon sind zwei zu erwähnen. Um es ganz kurz zu fassen:
Mit der Zugehörigkeit zum Nordatlantischen Bündnis, in dem „unser zuverlässlichster Freund, die USA“, das Sagen hat, durften polnische Soldaten in zwei Kriege ziehen. Zuerst war es die „Mission“ im Irak, wo sich polnische Eliteeinheiten „Grom“ (Donner) als Kämpfer der „Koalition der Willigen“ für den „Sieg der Demokratie“ gegen die Al Quaida eingesetzt und die Welt – wie man argumentierte – vor Massenvernichtungswaffen des bösen Sadam Hussein gerettet hatten. Die Entscheidung, im Zweistromland militärisch mit einzugreifen, wurde durch den damaligen „linken“ Staatspräsident Aleksander Kwasniewski und den ebenso „linken“ Premier Leszek Miller unter Verfassungsbruch getroffen: über Kriegsteilnahme hätte nämlich nach dem Grundgesetz der Sejm befinden müssen, das Parlament. Vom „linken“ Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz mit US-amerikanischen Lügen betrogen, stimmte es erst post factum zu. Dann kam der Einsatz am Hindukusch, der bis heute andauert und dazu dient, das Land zu befrieden und es vor der fundamentalistischen Taliban zu schützen. Insgesamt 3000 polnische Kombattanten schlagen sich bereits das neunte Jahr für US-amerikanische Interessen.
Die polnische Bevölkerung war in übergroßer Mehrheit gegen die Kriegsteilnahme sowohl im Irak als auch in Afghanistan. Sie fordert den sofortigen Abzug der Truppe aus der Ferne, die dem „nordatlantischen Raum“ nicht zugehört. Die Polen waren ebenfalls mehrheitlich gegen ein anderes strategisches Projekt der USA, nämlich gegen den so genannten Antiraketenschild, der „zum Schutz vor einem nuklearen Angriff des Irans und Nordkoreas“ auf polnischem (und tschechischem) Gebiet eingerichtet werden sollte. US-Präsident Barack Obama hat diese neue Variante des „Kriegs der Sterne“ fallen gelassen und damit die Regierenden bei uns sehr betrübt. Sie ließen sich nur widerwillig mit einer Batterie von amerikanischen Patriot-Raketen trösten, was immerhin den „Vorteil“ hat, dass US-Truppen auf polnischen Territorium nach einem mit den USA ausgehandelten Status stationiert werden. Der reale Nachteil dieses Unterfangens besteht darin, dass es die Beziehungen mit Russland belastet, das auch vorher gegen besagten „Schild“ vehement protestierte.

Die Angst vor den zwei Geschwindigkeiten.
Die Behandlung des Themas der Beziehungen zwischen Warschau und Moskau würde die Rahmen dieses Textes sprengen. Ein Punkt verdient jedoch einen Vermerk, und zwar im Kontext des Krieges in Afghanistan. Es gibt dafür keine handfesten dokumentarischen Belege, aber 1979/80 wurde in Warschau über das sowjetische Konzept geflüstert, die polnische Armee, die ja damals zu den Streitkräften des Warschauer Paktes gehörte, an der sowjetischen Intervention in Afghanistan zu beteiligen. Mit dem Hinweis, der Warschauer Pakt betreffe nur den europäischen Raum – so das Geflüster – habe die damalige „kommunistische“ Führung Polens dem Moskauer Projekt widersprochen. Seit 21 Jahren ist Derartiges nicht mehr möglich. His Master’s Voice wird Folge geleistet. Es heißt ja: mit dem Beitritt zur NATO und dem Bündnis mit den USA (das militärisch formell nicht geregelt ist) habe sich der Traum von vielen Generationen der Polen erfüllt!
Gleiches wird über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gesagt. Hierbei fürchtet man allerdings die „verschiedenen Geschwindigkeiten“ in der Integration. Polen, das nicht einmal der G-20 der wichtigsten Länder der Welt zugerechnet wird, was man in Warschau schmerzlich empfindet. Besorgt beobachtet man die immer wieder aufflammende Debatte im Westen des Kontinents über einen „engeren“ und „weiteren“ Kreis der wirtschaftlichen Bande in der Gemeinschaft. Dass nun der für Polens Stimmrechte günstige Vertrag von Nizza durch das Abkommen von Lissabon ersetzt gelten soll, wurde von den Regierenden unter Zweifel hingenommen. Doch „doppelte Geschwindigkeiten“ wären eine horrende Ungerechtigkeit, gerade angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise im „Euroland“. Das Land zwischen Oder und Bug in der Mitte Europas habe doch die letzten zwei Jahre ökonomisch geradezu glänzend überstanden.

Ein Drittel unter der Armutsgrenze, 20 Prozent am Existenzminimum.
Auch 2010 gehe es dem Lande bestens, behauptet der Chef der regierenden rechts-liberalen „Bürgerplattform“, Premier Donald Tusk, der sich des Öfteren auf Pressekonferenzen vor einer Europakarte postierte und auf den grün leuchtenden Fleck Polen unter den 26 rot gekennzeichneten übrigen EU-Ländern hinwies. Polen, sagte stolz der Regierungschef, sei das einzige Unionsmitglied, das nicht in die Rezession gefallen ist, sondern einen bescheidenen, doch realen Zuwachs des BIP ausweist. 2010 soll er sogar bis 3 Prozent betragen. Im Inlandkonsum wurden 2 Pluspunkte notiert, der Export sei infolge der Abschwächung des Zloty gestiegen. Mit den schwindenden Investitionen (minus 12 Prozent gegenüber den bereits negativen Vorjahrsergebnissen) prahlt der Premier ebenso wenig wie mit der um die 12 Prozent kreisenden Zahl der offiziell Arbeitslosen. Nachdem im April noch 2,3 Millionen Polinnen und Polen ohne Beschäftigung waren, sind es im Juni noch immer 1,9 Millionen, über 220.000 mehr als im Vorjahr. Die offiziell Arbeitslosen unterstützt der Staat mit 740 Zloty (ca. 185 Euro), der so genannte Durchschnittslohn beläuft sich derzeit auf 3400 Zloty. Beide Zahlen sind brutto, 18 Prozent werden vom Fiskus einkassiert. Vier Millionen Bürger sitzen in der Schuldenfalle, insgesamt stehen sie bei den Banken mit 108 Milliarden Zloty in der Kreide. Auf der anderen Seite sind die Arbeitgeber ihren Beschäftigten über 150 Milliarden schuldig. Wegen der Krise wurden Löhne und Gehälter nicht ausgezahlt. In 43 Prozent aller Firmen werden nach einem Report der staatlichen Arbeitsinspektion vom Juni 2010 die Tarifverträge missachtet.
Nach etlichen Meinungsumfragen ist ein Drittel der Bürger Polens davon überzeugt, dass die Krise, die es nicht gegeben haben soll, mit einem Wortschwall des Finanzministers Rostowski übertüncht wurde, fast die Hälfte der Befragten sieht eine Krise erst auf sich zukommen. Nach Eurostat ist ein Drittel der polnischen Bevölkerung von materieller Armut betroffen. 20 Prozent befinden sich an der Grenze des Existenzminimums. Für ebenso viele Menschen reicht das Geld nicht für die Heizung im Winter, sie sind wegen Geldmangels nicht in der Lage, einmal in der Woche Fleisch, Geflügel oder Fisch für das Mittagsessen zu kaufen. Nach Angaben eines Reports der OECD leiden 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche an Armut, unter 32 Mitgliedern dieser Organisation wird in Polen am wenigsten Geld für Kinder ausgegeben. UNICEF ergänzt: unter 21 europäischen Ländern sind die polnischen Kinder am ärmsten dran. Das ist die Lage im grün leuchtenden Fleck zwischen Oder und Bug.

Eine schwierige Kohabitation.
In derartig schiefer Soziallage musste im Juni der Staatspräsident gewählt werden. Termingerecht hätte diese Wahl erst im Herbst stattfinden sollen. Weil am 10. April bei Smolensk in Russland bei einer Flugzeugkatastrophe der seit 2005 als Staatsoberhaupt amtierende Lech Kaczynski und 95 weitere wichtige Personen des staatlichen Establishments ums Leben kamen, musste die Kür des Präsidenten vorverlegt werden.
Im politischen System Polens spielt der Präsident eine gewichtige Rolle. Er ist nicht nur der oberste Vertreter des Landes, was dessen Auslandsbeziehungen betrifft, auch innenpolitisch verfügt er über etliche  Befugnisse, u.a. über das Recht, bereits von zwei Kammern des Parlaments, dem Sejm und dem Senat, verabschiedete Gesetze zu blockieren, also seine Unterschrift zu verweigern. Von seiner Haltung hängt ab, ob zwischen zwei Machtzentren der Exekutive Einvernehmen besteht oder ob es ständig kriselt. Das war seit 2007 der Fall.
Sehr oft musste das Oberste Gericht angerufen werden, um den Streit zwischen der Regierung unter dem von der Bürgerplattform (PO) gestellten Premier Donald Tusk und dem aus der oppositionellen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) hervorgegangenen Lech Kaczynski zu entscheiden. Es war eine sehr schwierige Kohabitation.
Als das Flugzeugunglück passierte und daraufhin das Land in ein gesamtpolnisches geradezu hysterisches Trauma verfiel, meldeten sich mitten in der organisierten Trauer gleich zehn Anwärter auf die  Nachfolgschaft. Von Anfang an war klar, dass es zu einem Duell zwischen den Hauptmatadoren der politischen Bühne kommen wird. Zu betonen ist dabei, dass die zwei wichtigsten Kämpfer Parteien aus dem „Post-Solidarnosc-Lager“ vertreten. Beide stehen rechts – eine ist „liberal-konservativ“, die andere „national-sozial-konservativ“. Die erste, die PO,  nominierte den nun als amtierendes Staatsoberhaupt fungierenden Parlamentspräsidenten Bronislaw Komorowski, die, zweite, die PiS, den „natürlichen“ Nachfolger, nämlich den Zwillingsbruder des Verunglückten, Jaroslaw Kaczynski.

Bei all dem ist das National-Atmosphärische nach dem Desaster von Smolensk mitzudenken. Die Insassen der auf dem Smolensker Flughafen aufgeprallten TU-145 befanden sich auf dem Weg nach Katyn, einem Waldstück in der Nähe von Smolensk, wo im April 1940 auf Stalins Befehl über 20.000 polnische Offiziere, die nach dem sowjetischen Überfall am 17. September 1939 in sowjetische Gefangenschaft geraten waren, erschossen wurden.
Die jahrzehntelang, bis zum Eingeständnis des Mordes durch Gorbatschow und jetzt auch durch Putin währende „Katyn-Frage“ spielt im Bewusstsein der Polen eine ganz besondere Rolle. So verwunderte nicht, dass nach dem 10. April 2010 Katyn und Smolensk in einem Atemzug genannt wurden. Dies war für den Kandidaten des Vertreters „aufrichtig patriotischer Polen“, als den sich Jaroslaw Kaczynski selbst nominierte, die Ausgangslage für seinen Wahlkampagne.
Hinzu kamen im Mai und Juni zwei Flutwellen in den Flussgebieten der Weichsel und Oder: eine weitere Tragödie. Brechende Dämme und Deiche, über 700 Ortschaften, hunderttausende Hektar unter Wasser, Verlust von Hab und Gut für unzählige Menschen – all dies lieferte genug Stoff für eine Kritik der Regierung und der PO, die tatsächlich für die Vernachlässigung des Hochwasserschutzes verantwortlich waren.
Trotzdem errang im ersten Urnengang am 20. Juni (bei 54 Prozent Wahlbeteiligung) Bronislaw Komorowski den ersten Platz mit 41,2 Prozent, verfehlte aber die absolute Mehrheit und musste sich dem um 5 Prozent unterlegenen Jaroslaw Kaczynski in der Stichwahl am 4. Juli stellen. Im Westen wie Osten wollte man lieber den Sieg Komorowskis – also die Allmacht der „Bürgerplattform“, die eine, wie man argumentiert, Stabilität des Landes verspricht. Kaczynski gilt bei aller im Wahlkampf gezeigten Besonnenheit hingegen als harter, unbequemer „Populist“.
Den zweiten Wahlgang am 4. Juli hat Komorowski mit 53 Prozent für sich entschieden.

l Julian Bartosz

Julian Bartosz, Jahrgang 1934.  Dr. der Geschichtswissenschaft (Uni Wroclaw), seit 1950 als Journalist tätig (Magisterium der Journalistischen Fakultaet der Uni Warschau), Dozent am Politologischen Institut der Uni Wroclaw (Breslau), Kommentator und Chefredakteur (1981/82) von „Gazeta Robotnicza“, nach dem Kriegsrecht Gründer und Chefredakteur der Wochenschrift „Sprawy i Ludzie“, die er nach 1990 als private Monatsschrift fünf Jahre weiterführte. Seit 1993 Polen-Korrespondent des „Neuen Deutschland“ (Berlin). Autor von 22 Büchern, vorwiegend über polnisch-deutsche Beziehungen. Bis zu deren Einstellung Mitarbeit an den „Ost-West-Gegeninformationen“ (Graz).
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