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Moshe Zuckermann: „Israelkritisch kann man sein, ohne deswegen antisemitisch zu sein“
Montag, 19. Juli 2010
Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel-Aviv und ist wissenschaftlicher Leiter der Sigmund-Freud Privatstiftung in Wien. Bis 2005 leitete der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender zudem das Institut für Deutsche Geschichte in Tel-Aviv. Im Herbst dieses Jahres erscheint sein neues Buch „‚Antisemit!‘ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“ im Wiener Promedia-Verlag. Über die Langzeitfolgen der Erstürmung der „Free Gaza“-Flotille und darüber, warum Kritik an der israelischen Politik höchst notwendig ist, sprach er mit Samuel Stuhlpfarrer. Was darf man sich von der angekündigten Untersuchungskommission zur Kaperung der Free-Gaza- Flottille erwarten?
Die Regierung wollte keine Untersuchungskommission, musste aber eine wegen des internationalen, vor allem US-amerikanischen Drucks einrichten. Entsprechend ist davon auszugehen, dass es sich um eine der Regierung genehme Nominierung handelt. Die hinzugenommenen Kommissionsmitglieder von außen haben lediglich ein Beobachtermandat.

Was ist von den Lockerungen der Gaza-Blockade zu halten?
Die Lockerung der Gaza-Blockade ist ja von Israel selbst angekündigt worden. Auch sie verdankt sich dem Handel, den die Netanyahu-Regierung eingehen muss, um dem internationalen Druck beizukommen. Am Gesamtzustand wird die Lockerung nur graduell etwas ändern.

Laut einem aktuellen Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des deutschen Bundestags könnte die Kaperung der Mavi Marmara rechtmäßig gewesen sein. Wie beurteilen sie diese Einschätzung?
Die Kaperung mag „rechtmäßig“ gewesen sein; sie war deshalb dennoch ein Desaster – und zwar sowohl in ihren Resultaten als auch in der Absicht, die der gesamten Aktion zugrunde lag. Dass sie darüber hinaus auch fehlgeplant war, kommt hinzu.

Nach der Kaperung kam es in Tel-Aviv zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern des Angriffs. Zuletzt beschloss die Knesset Sanktionen gegen die arabische Abgeordnete Hanin Soabi. Trügt der Schein oder ist der innerisraelische Diskurs zunehmend spannungsgeladen?
Es radikalisiert sich in dem Maße, in dem die Regierung radikaler wird. Dass es etwa zu Sanktionen gegen die arabische Knesset-Abgeordnete kommen konnte, hat damit zu tun, dass wir im Moment die am weitesten rechts stehende Regierung in der Geschichte Israels haben. Das ist eine Koalition der rechten und ultrarechten Parteien, die ihrerseits die Stimmung natürlich hochpeitschen.

Könnten Sie sich vorstellen, dass die israelische Linke die Regierung eines Landes unterstützen würde, deren Premier vom Schlag Netanyahus, deren Vizepremier vom Schlag Liebermanns ist?
Die Frage ist, was verstehen Sie unter „israelische Linke“. Wenn sie damit eine genuine Linke meinen, eine, die sich um die Befreiung des Menschen, um die Befreiung der Gesellschaft und um Menschrechte im Allgemeinen bemüht, dann würde eine solche Linke nirgendwo Politiker wie Netanyahu und Liebermann unterstützen.

Die Frage zielte ja vor allem auf den Zugang hierzulande ab. Im deutschsprachigen Raum gibt es noch immer Menschen, die sich als „fortschrittlich“ oder „links“ verstehen und gleichzeitig unbedingte Solidarität zu Israel geloben.
Auch hier gilt es zu differenzieren. Wenn Sie darunter eine Linke mit einem universellen, antiimperialistischen Anspruch verstehen, ist das eine Sache. Die so genannte „antideutsche“ Linke hingegen hat mit Links-Sein nichts mehr zu tun; sie ist längst im Fahrwasser der bürgerlichen Presse und des Neokonservativismus angekommen.
Ich würde mir erwarten, dass sich diejenigen, die sich mit Israel solidarisieren, vergegenwärtigen, womit sie sich solidarisieren. Nämlich mit einem rechtsextremen Israel, dass das zionistische Projekt selbst in Gefahr bringt. Ich fürchte nur, die begreifen das nicht.

Warum begreifen sie es nicht?
Das Problem beginnt da, wo das Konkrete unzulässig abstrahiert wird. Diesen Leuten geht es nur mehr um ein abstraktes Israel und ein abstraktes Judentum, welches sich für sie im Wesentlichen von Auschwitz ableitet. Das ist ja auch ganz in Ordnung, nur hat es mit der Realität Israels und der Juden nichts mehr oder nur noch wenig zu tun. Die Realität ist, dass die israelische Politik die gesamte Region in Gefahr bringt. Und wer sich mit dieser Politik solidarisiert, muss es dann eben auch in Kauf nehmen, dass irgendwann Haifa und Tel-Aviv in Schutt und Asche liegen könnten, und somit auch Damaskus und Beirut.

Wie reagiert die israelische Linke auf die vermeintliche Solidarität aus Europa für die ultrarechte Regierung?
Diejenigen aus der radikalen Linken, die sie wahrnehmen, empfinden die „Antideutschen“ als mittlere Pest. Mit ihnen hat die israelische Linke gar nichts am Hut.

Sie veröffentlichen im Herbst ihr Buch „Antisemit“ - eine Auseinandersetzung mit dem Antideutschtum. Warum kommt diese Veröffentlichung gerade jetzt?
Das „Antideutschtum“ an sich ist eine Randerscheinung.  Aber was ich schon seit einiger Zeit wahrnehme, ist, dass in Deutschland, aber auch in Österreich der Antisemitismus-Vorwurf zu einem Herrschaftsinstrument avanciert ist. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist zweifelsfrei wichtig. Sie geht einher mit der Bekämpfung von Rassismus und Xenophobie. Was wir im Moment erleben, hat mit Antisemitismus-Bekämpfung aber nichts mehr zu tun, sondern dient nur mehr dazu, alles zu denunzieren, was nicht auf der ideologischen Linie des „Antideutschtums“ liegt. Es ist ja ungeheuerlich, wie gewisse deutsche Publizisten nur kurz „Antisemit“ zu sagen brauchen, und schon fallen die Leute in Ohnmacht. Das ist auch genau das, was für mich als Jude so unerträglich ist. Erstens wird der Begriff des Antisemitismus entstellt. Zweitens wird die Shoah trivialisiert und banalisiert, und zwar – wie mir scheint – auf eine Weise, als wäre ihr einziger historischer Zweck der, dass sich heute junge Deutsche und Österreicher als Antisemitenjäger profilieren können. Das ist unerträglich, das kann man nicht akzeptieren.

Tatsächlich hat die Erstürmung der Mavi Marmara zu einer erklecklichen Anzahl antisemitischer Reflexe geführt.
Antisemitismus gehört bekämpft und zwar überall dort, wo er auftritt. Allerdings ist die Frage zu stellen, welchen Beitrag die hohe Politik Israels selbst an solchen Ressentiments hat. Oder anders formuliert: Warum gibt es heute mehr antisemitische Reflexe, als vor drei Wochen? Das ist die Frage.

Indes hat eine Reihe von Künstlern, darunter etwa die Pixies und Elvis Costello, Auftritte in Israel gecancelt. Henning Mankell hat angekündigt, seine Bücher nicht mehr ins Hebräische übersetzen zu lassen und sich damit gleich auch den Vorwurf eingehandelt, Antisemit zu sein. Wie stehen Sie zu einem künstlerisch-universitären bzw. wirtschaftlichen Boykott Israels?
Die Vorstellung, wer Israel wirtschaftlich schädige, schädige gleichzeitig auch die Juden, geht davon aus, dass Israel und die Juden das Gleiche seien. Israelkritisch kann man sein, ohne antisemitisch zu sein, genauso wie man antizionistisch sein kann, obwohl man Jude ist.
Ich bin nicht der Meinung, dass die Pixies oder Mankell Antisemiten sind, und ich halte den Boykott als politische Forderung für vollkommen legitim, obgleich ich mich selbst dieser Forderung nicht anschließe. Und ich füge hinzu: Israel gehört so stark kritisiert, wie nur irgend möglich, weil Israel im Moment eine menschenrechtswidrige und verbrecherische Politik betreibt.
Ich frage mich aber, ob ein künstlerisch-universitärer Boykott die Richtigen trifft, weil die wenigen Protestoasen, die es in Israel gibt, gerade auf den Universitäten und im Kulturbereich angesiedelt sind. Wenn also europäische Linke die Veranstaltungen der israelischen Linken boykottiert, sind Netanyahu und Liebermann die letzten, die damit ein Problem haben. Die Randständigkeit der Linken hingegen würde dadurch noch verschärft.

Wie schätzen Sie die Langzeitfolgen der Kaperung der Free-Gaza-Flotte sowohl in Bezug auf die israelische Gesellschaft, als auch in Bezug auf den Friedensprozess ein?
Auf die israelische Gesellschaft wird sich dieses Ereignis nicht größer auswirken. Sie wird weiterhin dem folgen, was die hohe Politik vorgibt. Es ist ja in der Tat so, dass sich die israelische Linke vor zehn Jahren in den Winterschlaf begeben hat und seither nicht mehr aufgewacht ist. Die Meretz-Partei *
ist im Grunde genommen zusammengebrochen und die Arbeitspartei ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Diejenigen, die nach wie vor eine linke Politik betreiben, sind eine verschwindende Minderheit und haben absolut nichts zu bestellen.
Was den Friedensprozess anlangt, wird es auch kaum Auswirkungen haben. Die indirekten Friedensgespräche sind auch davor schon ziemlich lustlos dahingeplätschert.  Eine Veränderung gibt es, die nämlich, dass man mit der Erstürmung der Mavi Marmara den Rest dessen, was die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei ausgemacht hat, geopfert hat.
Wenn wir uns die Frage stellen, wie man den Konflikt lösen kann, dann geht es im Moment im Interesse aller Beteiligten darum, zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu finden, die die Flüchtlingsfrage und die Frage Jerusalems miteinschließt. Und es bräuchte eine föderative oder konföderative politische Struktur, die neben Israel und Palästina auch Jordanien und Syrien umfasst, um die realen Probleme und Sorgen in dieser Region anzugehen. Das ist die stringenteste und rigoroseste Realpolitik. Ansonsten steuern wir auf ein großes Unglück zu, das die ganze Region untergehen lassen könnte.

* Meretz: Linkssozialistische Partei, drei Sitze in der Knesset, unterstützt die Forderung nach einem eigenen Palästinenserstaat.
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