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Iranische Opposition: „Wir wollen nicht einfach eine liberal-kapitalistische Gesellschaft werden“ |
Donnerstag, 10. Juni 2010 | |
Im Landeanflug auf Teheran. In der Kabine kommt Bewegung auf, die weiblichen Passagiere verschwinden für kurze Zeit auf dem WC und kehren mit verschiedenen Kopftüchern oder Schleiern zurück. Die Minuten nach der Landung registriere ich ganz genau, der erste Kontakt mit iranischen Behörden macht mich etwas nervös. Bei der Passkontrolle ist die Schlange der Einreisenden mit iranischem Pass um ein Mehrfaches länger als jene der „Foreigners“, in gut 10 Minuten sind alle IranerInnen durch, während es bei uns nur sehr zäh weitergeht. Mehr als eine Stunde für gerade mal 30 Menschen. Ich frage mich, ob das eine spezielle Willkommensgeste für die „Nicht-Gläubigen“ sei. Kurz darauf geht doch ein weiterer Schalter auf mit einer etwas missmutigen Beamtin. Alles geht glatt. Verkehrsreich. Ich bin froh, dass mein Geschäftspartner wirklich zum Flughafen gekommen ist, um mich abzuholen. Mehr als 45 Minuten braucht es vom 35 km außerhalb von Teheran liegenden „Imam Khomeini Airport“ bis zum Hotel im Zentrum. Leichter Benzingeruch liegt in der Luft, mein erster olfaktorischer Eindruck. In Teheran herrscht starker Smog. Das weiß ich, seitdem mich ein iranischer Kollege im Herbst 2009 auf die gute Grazer Luft angesprochen hat. Damals wunderte ich mich noch. Wobei ich dieses Mal noch Glück habe, wird mir später gesagt, schließlich weht zu dieser Jahreszeit immer wieder mal Wind und es gibt keinen Hausbrand mehr. Auch in meinem Hotelzimmer riecht es leicht ölig, der um 5 Uhr früh noch immer sehr starke Verkehrslärm lässt an ein offenes Fenster gar nicht denken. Das Dröhnen nimmt kein Ende. Und es geht ungebrochen und verstärkt weiter, als ich ein paar Stunden später das erste Mal den Verkehr live miterlebe. Nächstes Mal nehme ich mir ein Aufnahmegerät mit, denke ich mir, mit den Geräuschen des Verkehrs würde ich dabei beginnen: Diese Wucht der Autokolonnen, dieses tiefe Dröhnen, ständig untermalt durch Hupgeräusche, diesen typischen Klang werde ich nicht mehr vergessen. Wie viele Millionen es genau sind, darüber schwanken die Schätzungen: 12, 15, 20 Millionen Menschen leben in Teheran und Umgebung, sie müssen transportiert werden bzw. versuchen selbst, von A nach B zu kommen. Die Stadt und mit ihr der Verkehr wachsen in rasantem Tempo. Das hat zur Folge, dass zweispurige Fahrbahnen grundsätzlich dreispurig benutzt werden, dass Schneiden, Reinzwängen, Drängeln, überraschende Wendungen zu ganz normalen Verkehrshandlungen zählen, die niemand besonders aufregen. Und dabei wird auf Zentimeter geschätzt und gefahren, zwischen überfüllter Rennstrecke und Autodrom. Als Fußgänger lebe ich dabei besonders gefährlich: Grüne Ampeln und Zebrastreifen sind kein Garant für das ungestörte Überqueren – tauchen doch noch die Motorräder von allen Seiten auf. Jedenfalls braucht es einiges an Mut, Schnelligkeit, Überzeugungskraft und Gestikulieren, um die Straße zu überqueren. Der damit einhergehende Adrenalinschub macht jedenfalls munter. Sicherheitsbedürfnisse. Adrenalinschübe gab es schon vor der Reise in den Iran – eigentlich schon bei der Einladung und bei der Frage, ob ich wirklich dorthin möchte: Als ich begann, mich mit der Frage der Sicherheit im Iran zu beschäftigen und ich auf diversen Botschaftsseiten und den Sicherheitswarnungen landete, bekam ich doch etwas Sorge: Todesstrafe für Unzucht, strengste Strafen bei Alkohol- und Drogenmissbrauch, zivile Schlägertrupps, die es auf Ausländer abgesehen haben. Erst später finde ich heraus, dass es gefährlicher ist, nach Israel oder Ägypten zu reisen. Und dennoch bleiben Ängste, noch ein paar Tage vor meiner Abreise gibt es sachdienliche Sicherheitshinweise einer Exil-Iranerin: „Sei vor allem bei denen vorsichtig, die sich cool, lässig gebärden und ganz offensiv das Regime kritisieren, das könnte eine Falle sein. Stelle ihnen keine Fragen zur politischen Situation, sonst könntest du als Spion gelten und erzähle nicht zu viel von dir!“ Insgesamt begegnet mir in diesen Tagen viel Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, ohne jede Aufdringlichkeit. So etwa, als mir ein Fotohändler nach längerem Herumtelefonieren gratis ein Ladegerät für die Akkus meines Fotoapparats organisiert, dass ich ihm einige Stunden später wieder zurückgeben kann. Oder am Flughafen, als bei der Sicherheitskontrolle in meinem Handgepäck ein Taschenmesser entdeckt wird, das ich gedankenlos darin vergessen hatte: „Don’t worry, we keep it for you and you will get it back after the landing.“ Oder der Antiquitätenhändler im Bazar, der mich auf seinem Motorrad – mittlerweile bin ich bereit für dieses Abenteuer im Verkehr – zum Freitagsgebet in die Moschee mitnimmt. Oder der Fahrgast in der U-Bahn, der mich – nachdem mein Begleiter irrtümlich ohne mich ausgestiegen ist – wild gestikulierend darauf hinweisen will, dass der Zug in der nächsten Station ohnehin wendet. Letztlich bekam ich viel zu hören und zu sehen, weit mehr, als ich erwarten konnte. Und vielen IranerInnen ist wichtig, dass ich ein möglichst differenziertes Bild bekomme und es weiterkommuniziere. Freiraum im Gebirge. Der öffentliche Raum in Teheran empfängt mich mit hellem, fast gleißendem Licht. Ja, ich bin in einer Metropole. Beim Spaziergang durch die Boulevards erstaunen mich die durchgestylten Geschäfte mit Flachbildschirmen aller Marken. Später erzählt mir ein iranischer Student, dass der Iran ein Eldorado für DVDs aus aller Welt darstellt. Filme, die in den USA oder Europa gerade laufen, werden zu Spottpreisen verkauft, und auch der bei der Diagonale in Graz gezeigte und im Iran verbotene Film „Basar der Geschlechter“ kursiert bereits als „Raubkopie“. Allerdings nicht offiziell und öffentlich, sondern privat. „Zu Hause kannst du tun, was du willst, aber im öffentlichen Raum müssen wir den Schein wahren, uns an all diese Regeln zu halten, die eine religiöse Minderheit uns aufbürdet“, so der Kommentar einer jungen Iranerin. Klar, die Menschen stellen sich darauf ein, sie lernen damit umzugehen und sich ihre kleinen Freiheiten im Privaten zu behalten. „Aber irgendwann reicht es dir mit diesem Doppelleben, mit diesem Spagat – das nimmt so viel von deiner Lebensenergie und -freude.“ Ein Spagat, den vor allem Iranerinnen eigentlich nicht mehr vollziehen wollen. Und das betrifft besonders den Umgang mit dem Schleier bzw. dem Kopftuch: „Ich mache es mir manchmal zu einem abenteuerlichen Spiel, das Kopftuch nicht aufzusetzen, bis mein Herz so pocht, dass ich es nicht mehr aushalte. Und oft ist es dann gar nicht die Polizei, die mich ermahnt.“ Alle Frauen müssen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch oder einen Schleier tragen, das ist offensichtlich. Doch der Umgang damit, so lasse ich mir erzählen, ist sehr unterschiedlich. Einige tragen es aus religiöser Überzeugung, sie sind leicht zu erkennen, weil zutiefst in Schwarz gehüllt. Andere tragen der Tradition wegen eines. Und dann gibt es welche, die das Kopftuch eher als Teil ihres modischen Gesamtkunstwerks verstehen und schließlich diejenigen, die damit kokettieren, trotz Kopftuch möglichst viel Haarpracht zu zeigen. Es ist wie ein Statement: Ja, ich halte mich an die Regeln, aber ich bestimme selbst, wie ich sie auslege. Dennoch: „Der Zwang, einen Schleier oder ein Kopftuch tragen zu müssen tut weh. Der Zwang, keinen Schleier tragen zu dürfen, tut auch weh. Der Westen muss hier aufpassen, nicht mit zweierlei Maß zu messen. Verbote allein können nicht zu einer Klärung oder Verbesserung beitragen“. Auch Bergsteigerinnen tragen Kopftücher, ansonsten begegnen mir Bergwanderer zahlreich in der auch für uns üblichen Ausrüstung in Darbad, im Norden Teherans auf etwa 1.900 Meter. Von dort türmen sich die die Gebirge bis zu 4.000 Metern (Tochal) und sogar bis zu 5.700 Metern (Darmavand, der höchste Berg des Iran). Ein beliebtes Ausflugsziel der Teheraner, zu dem die Sittenpolizei nicht ganz hinlangt und den viele junge Menschen daher als Freiraum hoch oben nutzen. Manche werden trotzdem erwischt: Nach einer Razzia der Polizei bei einer privaten Party in der Umgebung von Teheran während meines Aufenthalts wurden 80 Jugendliche verhaftet, sie werden der Unzucht und des Alkoholkonsums bezichtigt, beides schwere Verstöße gegen die Sharia, die mit drastischen Strafen bis zur Todesstrafe geahndet werden können. Mut gegen Repressionen. Mit drastischen Strafen müssen auch die politischen Gefangenen der „Grünen Bewegung“ rechnen, die vor einem Jahr und in den Monaten danach gegen den vermutlich betrügerisch errungenen Wahlsieg von Präsident Ahamadinejad protestierten. Viele von ihnen warten auf ihre Urteile. Einige konnten sich durch hohe Kautionen aus der Haft ‚freikaufen’, was nur durch die Verpfändung ihrer Wohnungen möglich wurde. Das heißt aber auch, dass ihre Wohnungen weg sind, wenn sie sich außer Landes begeben, um einem Urteil zu entgehen. Einer Reihe anderer Gefangener wird Anwalt oder jegliche Telefongespräche verwehrt – wie auch dem seit Kurzem in Hungerstreik befindlichen iranischen Filmregisseur Jafar Panahi, der nun gegen eine Kaution von 160.000 € aus der Haft entlassen werden soll. Und die Gefahr einer Verurteilung zu einer schweren Strafe ist sehr groß. Kritik am geistlichen Oberhaupt ist ein Tabu, sich Khamenei zu widersetzen wird damit gleichgesetzt, sich Gott zu widersetzen. Und sich gegen die Gewalt der Ordnungskräfte als Vertreter der religiösen Führung zu wehren heißt, die Waffen gegen Gott erheben. Darauf stehen die schärfsten Strafen. Ich bewundere den Mut der AktivistInnen: Zum einen wissen sie, dass es viele hunderttausende aktive Mitglieder der Grünen Bewegung gibt und daher nicht alle gleichzeitig kontrolliert und überwacht werden können. Gleichzeitig wissen alle, die sich engagieren, dass sie ausfindig gemacht werden können und dann mit ihnen zumeist eine Reihe von FreundInnen und Bekannten. Vielen sitzt der Schock der brutalen Gewalt des Regimes noch in den Knochen. Eine Mischung aus Wut, Trauer und Sorge. Das Misstrauen ist gewachsen. Wer steht auf welcher Seite? Wem kann ich vertrauen? Diese Fragen beschäftigen viele Menschen – auf der anderen Seite begegnen mir aber auch viele, denen es wichtig ist, mir einfach zu erzählen – trotz der Gefahr, einem Ausländer Informationen zu geben. Die besondere Tragik des letzten Jahres lag darin, dass die Bewegung zunächst gewaltlos und schweigend den öffentlichen Raum besetzte, das Regime aber überaus gewaltvoll und brutal reagierte. In den Wochen vor der Wahl herrschte noch ausgelassene Stimmung, wurde der öffentliche Raum vor allem von den Studierenden und jüngeren Erwachsenen in Beschlag genommen, gaben sie sich siegessicher, auch aufgrund der Tatsache, dass viele Menschen mobilisiert werden konnten, zur Wahl zu gehen. Umso größer die Enttäuschung über den Wahlausgang und die brutale Reaktion des Regimes. Die „Grüne Bewegung“ bleibt aktiv. Nach außen hin mag es ruhiger geworden sein, aber sowohl Regierung als auch Opposition sind massiv aktiv: Zwar gibt es nicht mehr so viele offensichtliche Proteste und Demonstrationen, aber viele andere Aktivitäten, die im Zusammenhang damit stehen, was Oppositionsfüherer Moussavi das „Jahr der Geduld und des zunehmenden Bewusstseins“ nennt, ein „Prozess, der Geduld, Beharrlichkeit und große Ausdauer gegenüber den bevorstehenden Schwierigkeiten und Herausforderungen erfordert.“ Die Regierung verschärft indes ihre Überwachungs- und Kontrollaktivitäten: Medienkanäle werden blockiert und gestört, Internetseiten gehackt und gefiltert. Im Umfeld der Wahl waren die Wände voll mit dem grünen „V“ Zeichen der Bewegung, die Polizei hat sie zum größten Teil übermalt, jetzt sind sie nur noch an manchen Stellen zu finden. Überhaupt ist die Farbe Grün – obwohl die Farbe des Islam – dem Regime ein Dorn im Auge: Über einen gewissen Zeitraum hinweg war es nicht möglich, SMS zu senden, in denen das Wort „Grün“ vorkam. Sie wurden automatisch gelöscht oder einfach nicht gesendet. So sagt Präsident Ahmadinejad in einem Werbespot zur Wahl: „Nicht alles Grüne ist gut, es gibt ja viel Unkraut“. Und es gibt fast schon lächerlich anmutende Versuche, in der Nationalflagge des Iran das Grün gegen ein Blau zu tauschen – letztlich ein Beleg für die Nervosität des Regimes. Ahmadinejad plant Privatisierungen. Auf den Straßen fanden in letzter Zeit weniger Versammlungen und Aufmärsche statt. Am 1. Mai wurde eine Demonstration im Uni-Gelände durchgeführt, zu der auch die Gewerkschaften aufriefen. Wieder werden Studierende festgenommen. Am Freitag darauf demonstrieren nach dem Freitaggebet verschleierte Frauen für die Regierung, für strengere Regeln und eine härtere Durchsetzung der Sharia. Für sie werden Straßenzüge großräumig abgesperrt trotz des starken Verkehrs, schwarz gekleidete Männer passen auf. „Das sind die, die uns bei den Demos verprügeln! Und solange weiter AktivistInnen verurteilt wurden, unzählige eingesperrt oder verschleppt werden und auf ihr Urteil warten, solange manchen von ihnen die Todesstrafe droht und zumindest elf von ihnen ums Leben gekommen sind, kann niemand davon sprechen, dass es ruhig geworden ist“, meint mein Gegenüber Nasrin R., eine knapp 30-jährige Aktivistin der „Grünen Bewegung“, etwas später. Sie ist, gemeinsam mit ihrer Kollegin Simin Y., bereit, mir etwas aus der Innensicht der RegimekritikerInnen zu erzählen und meine Fragen zur aktuellen Situation zu beantworten. Wir sitzen in einem Restaurant, das von meinen GesprächspartnerInnen als sicher bezeichnet wird. Noch etwas erzürnt meine GesprächspartnerInnen: Der von manchen westlichen Linken geäußerte Vorwurf, dass die grüne Bewegung eine Bewegung der urbanen Eliten sei, die in Wahrheit nur ihren ökonomischen und sozialen Status absichern wolle, wird scharf zurückgewiesen: „Die Aktiven kommen nicht nur aus der Bildungsschicht, aber für die ArbeiterInnen ist es einfach angesichts ökonomischer Probleme und des höheren Risikos, das sie dabei eingehen, besonders schwer, sich aktiv zu beteiligen. Es gibt nach wie vor große soziale Ungleichheit und Armut im Land, vor allem unter den ArbeiterInnen. Viele von ihnen haben erkannt, dass der Präsident zwar viel versprochen hat, das ihnen zu Gute kommen soll, dabei aber meist nur populistisch agiert“. Ahmadinejad inszeniere sich zwar als „Hero of the Poor“, diese werden aber für die Politik des Regimes instrumentalisiert. In diesem Zusammenhang ist es doch bemerkenswert, dass Ahmadinejad eine große Privatisierungswelle plant, was wohl den Revolutionsgarden und anderen regierungsnahen Organisationen zugute kommen werde. Umso wichtiger sei es, mehr Wissen über andere soziale, politische und ökonomische Optionen zu verbreiten und nicht nur jene, die über gleichgeschaltete und zensierte Medien zugänglich sind. Das Ziel: Eine starke Zivilgesellschaft. Die kurzfristigen Ziele der Grünen Bewegung, so die beiden AktivistInnen, bleiben weiterhin aktuell: sie fordern einen Staat, der seine Verantwortung wahrnimmt und den Wahlbetrug aufdeckt und alle Stimmen einbezieht, das Ende der Gewalt gegenüber Demonstrierenden, die Wiederherstellung der Versammlungsfreiheit für alle, die Aufhebung des staatlichen Monopols über Rundfunk und Fernsehen, Pressefreiheit, Freilassung der politischen Gefangenen, Versammlungsfreiheit, Anerkennung von Parteien und regierungsunabhängigen Organisationen und Autonomie der Universitäten. Mittelfristig geht es um Reformen innerhalb des bestehenden Systems, die die repressiven politischen Strukturen zugunsten einer Demokratisierung erneuern. Dabei besteht die wichtigste Strategie der Grünen Bewegung in der Ausweitung sozialer Netzwerke und der Verbreitung von Informationen als Grundlage für die Errichtung einer Zivilgesellschaft, wie sie unter dem vorherigen Präsidenten Kathami eingeleitet wurden. Wie wichtig dieser Reformprozess war, zeigte sich daran, dass sich über die acht Jahre, in denen Kathami Regierungschef war, eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen gebildet hat, die eine wichtige Grundlage nicht nur für die Wahlbewegung wurden, sondern für die Bewusstseinbildung im Land insgesamt. Ein wichtiges Ziel der Grünen Bewegung ist es, die Gesellschaft von innen zu revolutionieren und zivilgesellschaftliche Strukturen und Bewegungen aufzubauen und zu stärken. Die Schaffung von Bewusstsein habe eine sehr hohe Priorität. Dazu eine Schätzung eines Technikstudenten aus Shiraz: „Von 70 Millionen Iranern stehen 5 bis 10 Millionen auf der Seite des Regimes, 20 Millionen interessieren sich überhaupt nicht für Politik, sondern wollen nur, dass ihr Leben halbwegs läuft. Von den restlichen 35 bis 40 Millionen steht ein großer Teil auf der Seite der Grünen Bewegung, beteiligen sich aber nicht daran. Auf diese wird es aber speziell ankommen.“ Gerade unter den BürgerInnen, die noch in der ,Grauzone‘ leben und weder die Grüne Bewegung noch das Establishment unterstützen, gelte es, Bewusstsein zu schaffen. „Wir wissen, wir sind überzeugt, dass sich etwas ändern wird, die Frage ist nur, wann und wie“, so Nasrin R. Worin sich viele einig sind: Was das Land um 10 bis 20 Jahre zurückwerfen würde, sind verschärfte Sanktionen oder sogar Militärschläge. Diese würden zu einer Stärkung des fundamentalistischen Regimes führen. Umgekehrt könne dieses aber auch das Fass zum Überlaufen bringen, formuliert Simin Y.: „Wenn das Regime seine Restriktionen so verschärft, dass es im Alltag der Menschen spürbar ist. Etwa, wenn z.B. von allen Frauen verlangt wird, schwarze Schleier oder Kopftücher zu tragen, dann gibt es einen Aufstand!“ Der Wunsch nach Solidarität auf gleicher Augenhöhe. Unterstützung von westlichen Staaten wird bei diesem Prozess sehr kritisch eingeschätzt. Sie berge mehrere Gefahren in sich, meint Nasrin R.: „Im Iran selbst wird uns das Regime unterstellen, dass wir das alles im Auftrag des Westens machen. Und von Seiten des Westens besteht die Gefahr, dass es nicht um unsere Interessen geht, sondern darum, dass dessen politischen und ökonomischen Strategien im Vordergrund stehen, mehr Einfluss zu gewinnen und letztlich die eigenen Interessen durchzusetzen.“ Viel wichtiger wäre es, das Regime auf staatlicher Ebene zu boykottieren und die vom Westen geduldeten und unterstützten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen sichtbar zu machen, die – im Gegensatz zur politischen Abgrenzungsrhetorik – das Embargo umgehen. Hier wird vor allem von JournalistInnen mehr Recherche und Aufdeckungsarbeit gefordert. Simin Y.: „Die beste Form der Unterstützung besteht im Austausch und in der Zusammenarbeit auf Augenhöhe“. Wirkliche Solidarität sei sehr wichtig, dem stehe die eurozentristische und postkolonialistische Mentalität oft entgegen. „Unterstützen würde uns, diese Aufmerksamkeit, dieses Bewusstsein zu verbreiten, das wir nicht einfach eine westlich liberal-kapitalistische Gesellschaft werden wollen. Der Menschenrechtsdiskurs wird von den europäischen Ländern vielfach zu reduziert und selektiv geführt: Es ist nicht die Aufklärung allein, um die es dabei gehen kann, Menschenrechte haben eine tiefer- und weitergehende Bedeutung und es gibt andere politische und gesellschaftliche Konzepte jenseits kapitalistischer Demokratien westlicher Prägung.“ Zuletzt äußert Simin noch einen Wunsch an die Botschaften in aller Welt: Sie mögen Iraner und Iranerinnen bei ihren Visumanträgen nicht „wie Tiere, sondern wie Menschen behandeln – Respect our Humanity“! | Jürgen Weilheim Nachsatz: Auf einem Inlandsflug von Teheran nach Shiraz am Nachmittag wird ein üppiger, süßer und pickiger Snack angeboten, noch dazu grell eingefärbt – besonders das Gelee hat es in sich. Es erinnert vom Design her an vertraute Produkte, allein der Geschmack und die Qualität halten da nicht ganz mit. Ein Nachbar im Flugzeug klärt mich auf: Aufgrund des Embargos muss der Iran nahezu alles selbst produzieren. Das gelingt schlecht und recht. Problematisch wird es wohl bald bei den Ersatzteilen und der Wartung bei den Flugzeugen. Aber das betrifft wohl nicht die Maschine, mit der wir fliegen. Jürgen Weilheim ist Geschäftsführer eines steirischen Betriebes. Er schrieb diesen Bericht nach einer mehrtägigen Reise in den Iran im Frühjahr 2010, bei der er auch Kontakt zu AktivistInnen der „Grünen Bewegung“ aufnehmen konnte. Der Name des Autors wurde auf seinen Wunsch – ebenso wie die Namen seiner GesprächspartnerInnen – geändert, um letztere zu schützen und um weitere geplante Reisen in den Iran und die Kooperation mit den iranischen PartnerInnen des Autors nicht zu gefährden.
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