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Tschechow, makabre Lust, didaktisches Schlafwandeln und fantastisches visuelles Hörtheater |
Donnerstag, 10. Juni 2010 | |
Fußfrei – Theatertrips und -tipps von Willi Hengstler
Beengter Klassiker. Erinnerungen an die Nachkriegskindheit, als wegen des zerbombten Schauspielhauses zu große Stücke im zu kleinen Rittersaal des Landhauses gespielt wurden. Ähnlich beengt und handwerklich gediegen wirkt Anton Tschechows „Onkel Wanja“ auf der Grazer Probebühne von Ingo Berk. Der Regisseur, seit „Radetzkymarsch“ und „Gier“ die zuständige Fachkraft für melancholische Weite, löst (Bühne und Kostüm Magdalena Barbara Willi) das Problem der Enge, indem er die Zusehertribüne so knapp an die Spielfläche rückt, dass dahinter sogar noch ungenutzter Platz bleibt. Die elegischen Gestalten Tschechows sind nicht nur Gefangene ihres Schicksals, sondern auch dieses extremen Bühnenformats, das ihnen keinerlei Deckung bietet zwischen einer trüben Lichterkette, Stühlen, einem Tisch und dem Publikum gegenüber. Ein junges Mädchen liebt ohne Chance, eine Schönheit sieht ihr Leben ereignislos verblühen, ein nicht mehr ganz junger Verwalter merkt, dass er sein Leben für einen Blender geopfert hat, dessen Frau er nun (ebenfalls vergeblich) liebt. Und dieser Blender, ein eitler, leerer Professor Emeritus, hat sich nicht nur die schöne junge Frau gekrallt, jetzt will er mit greisenhafter Gier auch noch das Gut seiner Stieftochter (von dem er die längste Zeit lebt) verkaufen. Ein hässliches Mädchen liebt hoffnungslos einen Arzt, der zwischen grüner Vita Aktiva und Trunksucht oszilliert. Auch er wird wie alle anderen der Trägheit dieses Sommers verfallen… Ingo Berk dekonstruiert Tschechows Stück weder radikal (musikalische Witze wie „I’m So Lonely, I Could Cry“ oder „Bridge over Troubled Water“ genügen da nicht); noch sorgt er im Rahmen einer klassischen Interpretation für besonderes Timing und starke Stimmungen. Einzig Florian Köhler schafft – sogar auf dem Lichtgestänge turnend – den Spagat zwischen Werktreue und Coolness. Er ironisiert und widerspricht sich, und macht, indem er sich erst im Spiel zu entdecken scheint, neugierig auf seine Rolle. Franz Solar als Gutsverwalter Wanja ist angenehm robust, nur nicht besonders melancholisch, weshalb seine Revolte gegen den Professor auch mehr nestroyanisch denn tschechowianisch wirkt. Für Gerhard Balluch ist die Rolle des eitlen, egomanen Greises eine Vorlage, die er nicht verschenkt. Überraschend präsent ist Sophie Hottinger als Schönheit. Anrührend „sich selbst“ spielen diesmal Gerti Pall die Schwiegermutter und Otto David den verarmten Gutsbesitzer bzw. das Faktotum Waffel … womöglich haben die beiden schon damals im Rittersaal gespielt. Und wenn Solar und Katharina Klar als seine Nichte den Teppich aufrollen, ahnt man: alles wird weiter gehen wie bisher. Sehr gutes Bildungstheater, nicht nur für Nostalgiker. Makabrer Humor. Der erste Teil des Nietzschezitats mag für die Premiere des Liederabends auf der Probebühne noch hingehen: „Denn alle Lust will Ewigkeit“. Aber die Fortsetzung „...will tiefe, tiefe Ewigkeit“ hat Franz Wittenbrink mit seinem Liederabend von Purcell bis Bach, von Nina Hagen bis Meredith Monk, nicht ganz getroffen. Man ist unter Freund(inn)en an diesem heiter morbiden Abend, sogar wenn es um’s Sterben geht Und das durch Mark und Bein gehende Krachen von Jaschka Lämmerts Wirbelsäule, ein Zitat auf Meryl Streep in Zemeckis „der Tod steht ihr gut“, wird zu einem fröhlichen Running Gag. Dabei gab es im Vorfeld große Probleme: eine Protagonistin, Susanne Weber, infiziert sich die Stimm-, eine zweite, Verena Lercher, zerrt sich die Kniebänder, dann fällt noch unmittelbar vor der (verschobenen) Premiere der große HMI-Scheinwerfer aus und eine Nebelmaschine geht ein. Aber in Anne Weber von den Münchner Kammerspielen findet sich ein schöner Ersatz für Susanne Weber. Und es gibt eine zweite Nebelmaschine für den „Feuerwehrmann“ von Gustav Koenigs, der den drei sympathischen Todesgirlies mit seiner Elvis-Parodie beinah die Show stiehlt. Sogar ein Ersatz-HMI kann montiert werden; er wäre allerdings nicht abgegangen bei diesem Licht, das, leider muss man es sagen, bestenfalls neutral an diesem als so atmosphärisch angekündigten Abend war. Steffi Krautz als Todesgöttin bzw. Chef-Sandlerin der drei todesüchtigen, charmanten Singhühner schlägt kluge Effekte aus ihrer sängerischen Inkompetenz. Man muss den Schauspielerinnen nicht vorhalten, dass sie bei den klassischen Liedern nicht ganz stimmfest sind. Dafür punkten sie bei den Songs und vor allem ist es eine Freude, ihnen bei ihrer (scheinbar) lockeren Arbeit zuzusehen. Von schöner, beiläufiger Konzentration auch Theocharis Feslikidis am Klavier und vor allem die junge Maria Serafin am Cello. Klug hat Wittenbrink darauf verzichtet, nicht gleich jedes Lied groß als Geschichte zu inszenieren. Allerdings hätte eine sich über die unterschiedlichen Lieder erstreckende Gesamtstimmung, eine stärkere Subjektivität des Regisseurs, dem Abend vermutlich mehr von dem angekündigten Nietzsche-Sound verliehen. Wieder daheim entdeckt der Rezensent, dass zeitgleich im 3-Sat Christoph Marthalers Musikstück „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ gesendet wurde. Allerdings wird im 3-Sat wird nichts wiederholt. Also nichts wie hin ins Schauspielhaus, mit aller Lust zu den Livesongs über den Tod. Noch am 13, 15., 16., 18. Juni. „Jeder denkt nach“ – aber was? Der Appell ist an der Wand im ersten Akt von Bellinis Belcanto-Oper in der Grazer Inszenierung zu lesen. Auch die Opernkunst ist frei. Wenn Tobias Kratzer „La Sonnambula“ als Vorlesung für politische Philosophie instrumentiert – warum nicht? Die Frage ist allerdings, ob die Vorstellung visuell gleich derart … ungünstig ausfallen muss. Da der „Sonnambula“ ursprünglich ein Ballett zu Grunde lag, wird der Schweizer Gasthof des Librettos von Felice Romani in eine verspiegelte Ballettschule umfunktioniert. Und dann ist es nur logisch, dass im gemischten Chor neben den Mädchen auch die baumlangen Schweizer Kerle im Dutt herumstehen. Mit viel Engagement und inszenatorischem Eigensinn deutet Kratzer die Geschichte von der Schlafwandlerin Amina als Liebling des Dorfes (hier nicht völlig unrichtig: Graz) zu einer massenpsychologischen Veranstaltung um. In der Grazer Oper wird dieses Verhältnis mit einem als Österreichischer Bundesadler getarnten Donald Duck visualisiert, der nicht nur seine Honneurs macht, sondern sogar wie einst Jesus zum Bühnenhimmel hochsteigt, von wo er zerfleddert wieder kommen wird. Wenn der Chor schon die eigentliche Hauptperson von „La Sonnambula“ ist, dann hätte Tobias Kratzer ihm vor allem im ersten, ziemlich zähen Akt mehr Aufmerksamkeit widmen können; aber so geht es ja dem Volk meistens, wenn es zur Legitimation herhalten muss. Im weiteren Verlauf der weiträumigen Argumentation wird das Schweizer Dorf nicht nur zu Österreich, sondern Österreich auch gleich zum Modell der ganzen Welt. Das Dorf projiziert erst seinen Wunsch nach Reinheit auf das Findelkind Amina, macht es dann aber zum Sündenbock, als die Schlafwandlerin dem Bauernburschen Elvino mit Graf Rodolfo scheinbar untreu wird. Das Österreichische Volk – unter anderem inkorporiert durch Hermann Nitsch, Niki Lauda, Hans Moser, Elfried Jelinek und den Meinl-Mohren – lässt sich in seiner Verunsicherung von falschen Anschuldigungen und einem starken Führer blenden, bis Aminas Treue durch ihren somnambulen Seiltanz vom Schlossberg bis zur Pestsäule augenscheinlich wird. Endlich Hochzeit, endlich kommt es nach Tobias Kratzer zu einer politischen unio mystica. Aber Amina hat vermutlich das Programmheft ebenfalls gelesen (gute Kunst ist immer selbsterklärend), sich das Bulletin zu Herzen genommen, und fackelt, statt zu heiraten, in einem antifaschistisch-emanzipatorischen Befreiungsakt (endlich) das potthässliche Grazer Rathaus ab. Das könnte anarchische, lustvolle Trashqualitäten haben, wenn es nicht als Lehrmittel daherkäme. Und Tobias Kratzers politischer Unterricht rennt, wie Lehrplan und Lehrer meistens, viel zu spät noch dazu offene Türen ein – leichter Mangel an Mimesis, schwerer Diskursüberhang. Die musikalischen Leistungen im Rahmen der Lehrveranstaltung waren durchwegs erfreulich. Paul O’Neills Elvino, erst in Lederhosen, dann als junger Kaiser Franz Josef, sang kraftvoll seinen Part; berührend das Duo im ersten Akt mit der fast immer brillianten Amina (Anna Siminska). Hyon Lee singt verlässlich ihre Gegenspielerin Lisa, die sich in dieser Version am Ende umbringen muss. Luca Dall’Amicos Graf Rodolfo (als Siegmund Freud verkleidet) überzeugte mit einem voll tönenden Bass und Dshamilja Kaiser als Ziehmutter Teresa agierte optisch und gesanglich solid. Interessant mit leichten Vorbehalten; weitere Vorstellungen am 9., 11., 13., 17., 19. und am 25. Juni. Hermann Hesse meets Franz Kafka … Die große Wand im dramagraz wird fugendicht von einer wundersamen Projektion (Videos: Gabriele Nagel) eingenommen. Ansonsten agieren im Dunkel oder Halbdunkel noch drei Personen (Juliane Werner, E-Bass/Sprache, Astrid Rashed, Violine/Sprache, Roman Leitner-Shamov, Perc./Sprache) Der Abend nennt sich „Am Anfang Heiss Ich Ende“ und der Titel ist wirklich Programm. Einerseits bezieht er sich auf eine Lebenssinnreise mit den vier Berlinern als Fremdenführern. Andererseits stammt die gespielte Textcollage aus „Der Spiegel im Spiegel“, „Zettelkasten“ und dem Nachlass des einschlägig bekannten Michael Ende (!). HOR verbindet mit seiner österreichischen Erstaufführung stimmige, oft schattenhafte Videos mit Musik und der labyrinthischen Ende-Collage zu neuen, offeneren Theaterformen, wie sie (bloß aggressiver) auch im letzten steirischen herbst gezeigt wurden. „Ich bitte dich, lege dein Ohr dicht an meinen Mund, wie fern du auch sein magst, jetzt noch oder immer. Anders kann ich mich nicht verständlich machen…“ Imaginiert werden Leere, ein Wartesaal, ein proteushaftes Gebäude, ein endloser Schiffsmast, ein zugefrorener Himmel … Bei letzten Weisheiten gibt es keine Storyline, auch keine eindeutige Aussage; dafür haben die Gleichnisse, oft leitmotivisch wiederholt, den süßen Horror von Märchen. Die Gestalt des HOR, gleichzeitig Name des Künstlerkollektivs, wird immer wieder angesprochen. Handelt es sich um poetisches Programm wie Baal für Brecht? Oder einen Engel? Oder ist der Pharao Hor aus der „Zweiten Zwischenzeit“ (1732 vor Chr.) gemeint? Jedenfalls kann der Besucher von der Grabkammer des dramagraz aus seine Reise durch die Zeit in das Innere seines Selbst antreten. Das ist nicht ganz der harte Stoff der Moderne. Aber der Besucher kommt auch auf seine Kosten, wenn er den Abend einfach als ästhetische Struktur, als reine Abfolge von Sprache und Bildern, als Begegnung mit ganz jungen, ganz ernsthaften Schauspielern nimmt. Eine sehr atmosphärische kulturpolitische Initiative von Ernst Binder. In Graz noch täglich vom 9. bis 12.6. und vom 16. bis 19.6.
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