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Islam und Psychoanalyse oder Allah und der „nährende Andere“
Donnerstag, 10. Juni 2010
Angeblich nur 5% der ÖsterreicherInnen verbinden Positives mit dem Islam – Ergebnis einer beispiellosen Hetzkampagne, die das Bild der zweitgrößten Religionsgemeinschaft weltweit auf bärtige Taliban und SelbstmordattentäterInnen reduziert. Eine Engführung, die jener vergleichbar wäre, das Christentum auf Zöglinge missbrauchende Ordensbrüder (immerhin auch ein Massenphänomen) zu reduzieren.

Dabei springen Christian Eigner, Psychoanalytiker in Ausbildung und nach langen Jahren als Wissenschaftspublizist seit geraumer Zeit als Coach, Berater und Teamentwickler tätig, am Islam jedenfalls ganz andere Aspekte ins Auge als den Hasspredigern beider Seiten. Er geht hierbei von der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie aus, die erst nach Freud von AnalytikerInnen wie Melanie Klein und Wilfred Bion entwickelt wurde. „Diese Theorie untersucht, wie der andere in uns repräsentiert wird“, erläutert Eigner. Im Kindesalter sind diese Repräsentationen zunächst bloß emotional geprägt, mit der Adoleszenz wird ihr kognitiver Anteil stärker, Sprache und Symbolbildung spielen dann eine stärkere Rolle.
Diese Diagnose wirft natürlich die Frage auf, wo der Unterschied zum alttestamentarischen Gott liegt, der ja ebenfalls zwischen Barmherzigkeit und Rache oszilliert. Der Unterschied sei tatsächlich nicht allzu groß, gibt Eigner zu: „Der ursprüngliche Islam verstand sich ja nicht als eigene Religion, sondern als Reformbewegung.“ Einzigartig sei allerdings das dem Koran innewohnende Bestreben, die Repräsentation Gottes im Zusammenspiel zwischen Poesie und Denken „direkt zu produzieren.“ Auf der praktischen Ebene manifestiere sich dies etwa darin, „dass Menschen in alltäglichen Situationen Suren rezitieren.“

Überhöhung der Sexualität?
Dient bei aufgeklärter Betrachtung die Produktion eines „nährenden“ Schwellenobjektes nicht bloß dazu, ein Defizit zu kompensieren, das durch entfremdende Lebensbedingungen entsteht? „Ja, wir brauchen so etwas wie einen ,nährenden Anderen‘ in uns, wo er fehlt, entstehen die verschiedensten Leerstellen, die mitunter durch Religion gefüllt werden“, antwortet Eigner. Aber er beharrt auf der diesbezüglichen Einzigartigkeit des Islam: „Der Koran ist ein absolutes Sprachkunstwerk, er ,produziert‘ durch seine Sprachwirkung Gott quasi direkt; das mag auch die Tradition der Spontanbekehrungen erklären.“ Und: Psychoanalytische „Übersetzungsversuche“ zeichneten ein anderes Bild vom Islam als das herkömmliche und erleichterten den Dialog zwischen den Kulturen. In der islamischen mystischen Strömung des Sufismus gebe es zudem der Psychoanalyse durchaus verwandte heilende Traditionen.

| Christian Stenner

 

Christian Eigner war Initiator und Organisator des Symposiums „Psychotherapeutische Dimensionen des Islam, veranstaltet vom Grazer Arbeitskreis für Psychotherapie in Kooperation mit der URANIA (28./29. Mai 2010)

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