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Die Gemeinschaftsschule als Mittel gegen „Motivationskiller“
Donnerstag, 10. Juni 2010
„Schule als Entwicklungsrisiko und Bildungschance“ und „Schule kann gelingen“: unter diesen Themenstellungen wandten sich zwei Bildungsveranstaltungen in Graz an ein nicht nur fachspezifisches Publikum.

Die Arbeiterkammer Steiermark hatte die bekannte Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und Legasthenie-Spezialistin Dr.in Brigitte Sindelar eingeladen, um einer an Schulreformen interessierten Runde zu erklären, wie es gelingen könnte, Schulangst, Demotivation und Notenstress aus der Schule draußen zu halten und stattdessen die natürliche Lernfreude und Neugier der Kinder zu bewahren. Dem interkulturellen Bildungs(kinder)garten ist es gelungen, die deutsche Schulreformerin Enja Riegel nach Graz zu holen, die über ihre bisherigen, erfolggekrönten Erfahrungen und über ihre neuen Projekte detailliert berichten konnte.

„Es gibt kein Lernen ohne Gefühle“.
Brigitte Sindelar zeichnete ein sehr ernstes Zustandsbild der psychischen Gesundheit unserer Schulkinder. Sie zitierte mehrere Untersuchungen (Steinhausen, 2006, und Resch, 1999), wonach jedes fünfte Kind im Zeitraum eines Jahres an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung leidet. Besonders zwei Altersgipfel – die 6- bis 10-Jährigen und die 13- bis 16-Jährigen – machen deutlich, dass schon die Volksschulzeit und noch mehr die Pubertätszeit mit vielen Stressfaktoren belastet ist. Konzentrationsstörungen, Aggressionshandlungen, Lernschwierigkeiten, soziale Probleme, Angststörungen und Depressionen – so unterschiedlich wie Kinder sind, reagieren sie auch bei Problemen, die ihnen über den Kopf wachsen. So wissbegierig wir die kleinen Kinder kennen, bei denen Spielen und Lernen untrennbar verbunden sind: Schon während der ersten Schuljahre vergeht vielen die Freude am Lernen. In der Schule sinkt die Lernbegeisterung, weil die Kinder – so Sindelar – durch das ständige Hinweisen auf ihre Fehler demotiviert werden.

„Aus Fehlern lernen wir – aber was?“
Sindelar berichtete aus ihren Forschungen über Motivationskiller. „Die Behaltensleistung steigt mit den positven Gefühlen beim Lernen, die mit dem Lernen verbundene Emotion entscheidet, ob wir uns das Gelernte merken und später zur Verfügung haben.“ So wirkt sich die Farbe Rot noch im Erwachsenenalter negativ auf das Selbstvertrauen aus, denn mit dem roten Korrekturstift sind für viele negative Gefühlserinnerungen verbunden. Dabei weiß man längst: das falsche Wortbild wird durch die Hervorhebung im visuellen Gedächtnis erst recht abgespeichert.  Unter Stress und Druck kann zwar gelernt werden, das Gelernte steht aber nur kurzfristig zur Verfügung, nur bei einem positiven Lernklima stabilisiert sich das Wissen langfristig. So konnte bei einem  Versuch an drei Wiener Volksschulen nachgewiesen werden, dass das Vermeiden der Wörter „Fehler“ und „falsch“ und stattdessen das Markieren richtiger Wörter zu einer signifikant höheren Lernmotivation führte. Die Ergebnisse dieser Forschungen bleiben jedoch nicht unbeachtet, streute Sindelar den Pädagogen auch Rosen, „immer mehr Schulen und LehrerInnen setzen die Erkenntnisse um und richten ihren Unterricht danach aus.“

„Kinder, die nicht wollen, gibt es nicht“.
Als herausragende pädagogische Visionärin und Praktikerin kann man wohl Enja Riegel bezeichnen, die als  Leiterin die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden von einem wenig innovativen Gymnasium zu einer der erfolgreichsten (Gesamt)Schulen Deutschlands umkrempelte. Als deutsche PISA-Siegerschule lag die Helene-Lange-Schule gleichauf mit dem Siegerland Finnland.
Enja Riegel bevorzugt es, von einer Gemeinschaftsschule  zu sprechen, da der Begriff „Gesamtschule“ unter den vielen Streitigkeiten aus den gegensätzlichen, gesellschaftspolitischen Richtungen schon zu stark gelitten hat. In  einer Gemeinschaftsschule, in der für jedes Kind Platz ist und die zumindest bis zur 9. Schulstufe reichen muss, gibt es weder Leistungsgruppen noch ein „Sitzenbleiben“, auch möglichst lange keine Ziffernnoten und möglichst wenig Frontalunterricht. Stattdessen sollte anhand eines offenen Lehrplanes für jedes Kind die ihm gemäße Unterstützung gefunden werden. Individualisierung heißt das Zauberwort, das auch die Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen oder mit anderen Muttersprachen leicht möglich macht. In altersheterogenen Gruppen können die Kinder voneinander lernen, fächerübergreifende Projekte setzen an den Interessen der SchülerInnen an und fördern die Selbsttätigkeit,.  Enja Riegel kritisiert die so häufige „Lehrbuchfixierung“, denn „viele Lehrbücher sind einfach verheerend, die Orientierung am Lehrplan dagegen würde ein viel sinnvolleres, spannenderes Unterrichten möglich machen“ und sie fordert mehr Reformmut von den DirektorInnen: „Eine gute Schule steht und fällt mit der Leitung, Visionen und Begeisterungsfähigkeit sind unverzichtbare Qualifikationen für das Führen einer Schule.“

| Gertrud Muckenhuber

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