Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Bäume / Neues Spiel / Seligkeit
Sonntag, 16. Mai 2010
von Bernadette Schiefer

Bäume

(für die verstorbenen Babys vom Hermano-Pedro-Spital, Antigua, Guatemala)


Ich war ein Kind. Die Bäume hielten mich hoch. Ich lachte. Riesen waren sie ohne Schuhe. Ich nannte sie: Blim Blom Blimbam Blim.
Lesen habe ich nie gelernt.
Die Bäume kamen des Nachts an mein Fenster. Sie strichen die Äste aus ihrem Gesicht und pfiffen durch die Zähne. Sie sagten: Kind, das in der Wiege liegt, wach auf. Ich blickte hoch. Ich konnte mich nicht rühren. Der Beutel mit dem Urin und die Schläuche hielten mich zurück. Ich flüsterte:
Blim Blom Blimbam Blim kommt herein.
Die anderen Kinder schliefen.
Wir wollen nicht, dass du Probleme bekommst, sagten sie. Warte, bis der Regen kommt, dann kommen wir wieder. Ich sank zurück in mein Bett. Ich wartete.
Tagsüber lag ich wach und starrte auf die Decke. Reden kann ich nicht. Mein Körper ist verkrümmt. Mein Rücken ist gelähmt. Wenn sie mich füttern, erzähle ich ihnen, aber sie verstehen mich nicht. Ich warte auf den Regen.
Zuerst fängt es am Dach an. Ein kleines Rauschen, bevor der Regen beginnt. Dann ein Tropfen. Tropfen nach Tropfen. Plötzlich höre ich es. Ein kleines, quietschendes Geräusch. Die Bäume sind zurück. Nacho, sagen sie, hast du gut geschlafen? Ja, sage ich, ich schlief sehr gut.
Gib uns die Hand, sagen sie, wir gehen!
Ein Baum stiehlt sich durchs Fenster. Er schleicht sich zum Gitterbett, drückt das Gitter hinunter. Pass auf den Beutel auf, der Beutel muss mit! Der Baum trägt mich vorsichtig durch den Raum. Die anderen Babys schlafen. Eines wacht auf und winkt mir zu. Tschüss, Nacho, flüstert es.
Die Bäume tragen mich durch die Nacht. Sie gehen langsam und schweigen. Als ich erwache, haben sie Feuer gemacht und einen Topf mit Bohnen gekocht. So ein Feuer habe ich noch nie gesehen! Die Bäume flüstern. Wind fährt durch ihre Äste. Dann werde ich wieder auf den Baum gehoben und schlafe in seiner Krone. Die Bäume setzen ihre Wanderung fort. Sie gehen langsam und schweigen.
Plötzlich bleiben sie wieder stehen. Wach auf, Nacho! sagt ein Baum. Ich öffne meine Augen. Vor mir liegt ein Meer aus Licht. Die Sonne funkelt in den Wellen. Tausende Sonnen sind im Meer versunken. Grosse, rote Vögel kreisen in der Luft. Das ist das Land der Meere aus Licht, sagen die Bäume. Sie legen mich mit dem Kopf zum Meer, damit ich alles sehen kann. Sie knien sich neben mich und füttern mich. Ich gurgle und lache. Tausende Sonnen tauchen und versinken im Meer. Die roten Vögel singen ihr Lied. Ich sehe das Meer, das Meer aus Licht!
Als der erste Regen kommt, holen sie mich und wir gehen nach Hause zurück. Passt auf den Beutel auf, sage ich. Der Beutel muss mit. Die Bäume schleichen durchs Fenster. Sie küssen mich auf die Stirn. Die anderen Babys schlafen noch. Nur ein Baby ist wach und winkt: Hallo Nacho. Ich liege im Bett. Ich warte auf den Regen. Die Finger des Regens streichen über das Dach. Tam Tam tam.




Neues Spiel

But we have ways within each other that will never be told by anyone. RUMI
Wer bist du, wer bin ich im Spiegel.


Einmal kommt ein Mann nach Hause zurück, von der Fahrt, auf der er lange unterwegs war, sagt er zu ihr, er war neun Monate unterwegs, dann kommt er heim. Er erinnert sich noch genau, wie der Tisch stand, wie die Fensterläden aussahen, dass der Lack im Badezimmerkasten abgeblättert war. Am Tisch sieht er die Nachricht, die er vor neun Monaten zurückgelassen hat. „Ich bin da, steht dort.“
Er setzt sich nieder, hält den Kopf in seiner Hand und möchte sterben. Aber er kann nicht sterben, weil er den einzigen Tag dazu versäumt hat. Er bleibt also sitzen, mit dem Zettel, und sieht ihn an. Der Zettel kommt ihm vor wie ein Spiegel, auf dem etwas geschrieben steht, das nur der lesen kann, der den gleichen Zettel spiegelverkehrt in der Hand hält.
Wieso? will sie wissen.
So, sagt er.
Sie liegt am Rücken. Er legt sein Ohr auf ihr Herz und lauscht.
Der Spiegel ist der Reim, sagt er, der Reim, der in den Brunnen fiel. Weißt du noch: wie viel Meter tief? Soo tief. Und wer darf dich herausholen? Sie lacht.
Ihr Lachen ist ein Stamm in einem Birkenwald, ein einziger Stamm.
Der Spiegel ist dazu da, dass die Seele nicht auseinander fällt. Der Spiegel ist nichts anderes als ein Tuch, das die Seele bedeckt, damit die Seele nicht in ihre Nacktheit zerfällt. Der Spiegel ist der Luxus der Seele. Sehen sich Tiere eigentlich, falls sie in einen Spiegel blicken würden, sagt er, würden sie sagen, ich Bär? Ich Giraffe. Vielleicht bin ich eine Stimme eines Spiegels, sagt er. Ein Tier, das sich nicht erkennt.
Ihr Herz klopft und klopft. Er denkt nicht daran, und es klopft und klopft.
Eines Tages, sagt er, kam der Bär nach Hause, und sah am Tisch einen Spiegel liegen. Nanu, was ist denn das, brummte er. Er nahm den Spiegel in die Hand und drehte ihn in alle Richtungen. Da drinnen war etwas braun. Er fragte sich, was es sein könnte. Er ging im Kopf alle braunen Dinge durch, die er kannte, und das waren ziemlich viele. Er guckte noch mal in den Spiegel. Augen hatte das Bärenbraun auch. Was die Leute nicht alles erfinden, dachte er. Dann lachte er. Das Bärenbraun mit den Augen lachte auch. Er drehte sich weg, und da war es verschwunden. In dieser Nacht träumte er, dass er erwachte, weil ihm das Bärenbraun seine Zunge herausstreckte. Es sagte, bäh, drehte sich weg und verschwand. Was immer er auch anfing, immer sah er das Bärenbraun mit den Augen, das lachte, wohin er auch blickte. Er fühlte sich furchtbar allein. Überall lachte ein Bärenbraun mit Augen, die ihm bekannt vorkamen, aber er wusste nicht, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
Tragisch, sagt sie.
Ziemlich. Er steht auf und rückt die Decke zurecht.
Da lag ein Mann, sagt sie, dessen Hände gefroren waren. Ich kniete neben ihm und wärmte seine Hände. Seine Freundin kam, und fühlte seine Hände und sagte, es wäre besser, er wäre erfroren, als dass ich, die ich nicht seine Freundin bin, seine Hände wärmt. Dann musste ich Müll auf den Müllplatz bringen. Ich hatte mehrere schwarze Säcke und eine Schachtel mit Papier. Ein anderer Mann trat aus dem Haus, der im Traum Psychopath hieß, und ich denke im Traum, ich muss Müll auf den Müllplatz bringen und dann kommt der einzige Mann, der ein Psychopath ist, er wird mich umbringen mit Waffen, die sich wie Kerzen biegen. Der Mann tritt aus dem Haus, wo ein Bagger ist, der den Mann begräbt. Ich muss nicht nachschauen, um zu wissen, dass er nicht tot ist.
Dann war da ein Lift, sagt sie, und ich fuhr mit dem Bagger und den Kieselsteinen im Lift nach oben, Leute stoppten den Lift, weil sie meinten, ich würde die Steine stehlen, und andere Leute mit Koffern wollten mitfahren. Später fuhr der Lift zu einem Turm, und ich fuhr ganz hinauf und sprang. Als ich sprang, war unten aber alles Meer, und ich starb nicht. Dann war da ein Mann, der ein Buch hatte, und wenn wir sprechen wollten, schlugen wir es auf. Ich ging in ein Café und biss von einer Torte ab, ohne zu zahlen, und es störte ihn nicht. Dann war da eine Frau, sie musste nach Wien gebracht werden, mit ihren Zeichnungen für ein Kinderbuchfest. Sie kniete am Boden und weinte und meinte, sie könne auch die Festivalleitung anrufen und die Zeichnungen später bringen. Als ich aufwachte, wusste ich nicht, ob ich die Frau gewesen war, die getröstet wurde, oder die, die tröstete. Verstehst du, sagt sie, ich weiß nie, bin ich die Liebende oder die Geliebte.
Er nimmt ihre Hand. Er denkt an die Hand Vardas, die sie wie einen Spiegel von sich weg gehalten hatte, entsetzt und erstaunt. Und glücklich gewesen war, über eine Uhr ohne Zeiger. Er denkt daran, wie unter der Oberfläche alles weitergeht, das Mühlrad dreht sich, auch wenn der Wachende einnickt und schläft. Er denkt an Robert Capa, sein letztes Schwarz-Weiß-Bild. Die Soldaten rennen, er läuft hinter ihnen her. Alle streben nach vorne, während er stehen bleibt, einen einzigen Augenblick stehen bleibt, für einen einzigen Moment vielleicht zur Ruhe gekommen ist. Er bleibt stehen, hört die Stille, die absolute Stille. Er sieht die Soldaten rennen, sieht sie klarer, als er sie je gesehen hat. Sie rennen, als würden sie hinter seinem Tod nachrennen. Sie rennen nach vorne, um seinen Tod zu sehen, der hinter ihren Rücken stattfinden wird. Sie rennen weiter, während er stehen bleibt und stirbt. Ich verlasse dich, sagt er, Capa, auf dem Foto, als Abwesender sagt er es, ich komme zurück, wenn ich ganz bin. Ich möchte ganz sein. Wer kann ich sein, wenn ich deine Stille nicht verstehe, wer kann ich sein für dich.
Sie sieht ihn an. In ihren Augen liegen neun Jahre, alles, was in diesen neun Jahren geschehen ist, was sich zwischen ihnen in ihre Augen eingeschrieben hatte. Sie sind gesegnet worden.




Seligkeit

Come, calm-one
into the life-try  

J. Morrison


Eine Frau steht neben dem Grab und schaut in das Grab. Den, der dort liegt, hat sie gut gekannt. So wie man sagt, kennen, und nicht weiß, ob man das wirklich meint. Wie kann man jemand kennen, sagt die Frau, und streckt ihre Hand über den Tisch aus, wo der Mann ein Bier mit ihr teilt. Wann weiß man dann, dass man sich kennt, sagt die Frau, niemand weiß das. Man hat mich also nicht verständigt, sagt die Frau, man hat mich also um das Begräbnis gebracht. Vielleicht, weil ich schuld war, sagt sie, jedenfalls habe ich das geglaubt. Der Mann macht eine ungeduldige Bewegung mit der Hand, Schuld, Schuld. Ich war auch nicht bei der Totenwache, fährt die Frau fort, seine Schwester war dort und wollte die Leute nach Hause schicken. Was machen die Leute da, sagte sie, seine Schwester, und wer ist dieser Tote überhaupt. Das ist nicht mein Bruder.
Er ist ungeduldig. Er steht auf, sucht etwas. Er ist weit weg, so weit, dass man sein Gesicht nicht berühren kann. Berühre mich nicht.
Er will diese Geschichten nicht hören, die Geschichten des Todes, die Geschichten der Lieblosigkeit. Er ist unschuldig, wenn er fragt: Kann dies nicht aufhören.
Können nicht alle in Frieden leben? Er ist unschuldig, wenn er dies sagt.
Er ist ein Kind, sagt sie, heute spielst du Leben.  
Anfangs wollte ich sterben, sagt sie. Ich wollte in den Schmerz gehen. Ich dachte, wenn ich ganz weitergehe, in den Schmerz, muss dann dort noch etwas sein. Ich dachte, er muss irgendwo aufhören, der Schmerz, irgendwo zu Ende sein, und dass das dann die Grenze ist, dachte ich, die Grenze, die mir gehört. Aber da war da nichts, sagt sie. Nichts, sagt sie. Einfach nichts. Sie lacht.
Hör auf, sagt er. Er schreit es fast.
Ich kann nicht vergessen, sagt sie. Warum bin ich so jung und muss vergessen, sagt sie.  
Ich möchte nicht vergessen müssen, sagt sie.
Jeder hat Tote, sagt er. Tote Mütter, tote Väter, in jeder Familie die Toten, sagt er.
Er ist unschuldig, wenn er sagt, jeder hat Tote. Er ist unschuldig, wenn er dies sagt.
Und wo sind die Toten, fragt sie. Wo sind sie? Ich habe sie verloren, sagt sie. Ich hab die Toten verloren. Manchmal vergesse ich, ob sie noch leben oder schon tot sind.
Er streckt seine Hand aus. Er berührt ihr Gesicht.
Seine Hand ist warm und weich, seine Hand ist Leben.
Ich war zu jung, sagt sie. Es war zu früh, sagt sie.
Komm, sagt er.  
Er streckt seine Hand aus. Seine Hand ist Leben.

 


Bernadette Schiefer, geb. 1979, Studium der Philosophie und Höheren Lateinamerikanischen Studien in Wien und Irland, Akademie für angewandte Photographie, Graz. Längere Auslandsaufenthalte in Mexiko, Guatemala, Kuba und USA.
„Reise mit Engel. Nirgendwohin“. Skarabäus 2002.
„Kleine Erzählungen am Rande.“ Triton 2003, Uhudla 2005.
„Nichts wird dir fehlen“. Edition NÖ 2005.
Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Mehrere Stipendien und Preise, u.a. Staatsstipendium für Literatur, Mira-Lobe-Stipendium, Hans-Weigl- Stipendium, 1. Preis der Akademie Graz für das Stück „Disappeared.“ (2008)
Lebt derzeit in Barcelona.

 

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