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Es sieht so aus, als sei die letzte Phase der Zerstörung des palästinensischen Jerusalem angebrochen
Sonntag, 16. Mai 2010
Die israelische Siedlungspolitik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung gerät in periodischen Abständen ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit – so wie jüngst, als das Innenministerium just während des Besuchs von US-Vizepräsident Joe Biden ankündigte, im umstrittenen Ostteil der Stadt 1600 weitere Wohnungen bauen zu wollen.
Auf Einladung der Steirischen Friedensplattform und einiger Mitveranstalter referierte am 3. März 2010 die Düsseldorfer Raumordnungswissenschafterin Dr.in Viktoria Waltz über das Thema der systematischen Entarabisierung von Ost-Jerusalem durch die israelische Siedlungspolitik. Im Anschluss an die gut besuchte Veranstaltung in den Räumen des Gemeindesaales der Heilandskirche führten Helga Suleiman und Franz Sölkner mit der Referentin das folgende Gespräch.

Eine der Schlüsselfragen in der Nahostfrage ist der Streit um Jerusalem. Können Sie dessen historische Kontinuität kurz umreißen?
Man muss in der ganzen Frage immer zurückgehen auf die Zeit, seit der es die zionistische Bewegung gibt. Der zionistische Weltkongress, der 1897 in Basel stattfand, hatte die Vision Palästina als Land zu kolonisieren, um den jüdischen Staat dort zu errichten. Man muss von da an die Kontinuität ziehen. Auf jeden Fall war Jerusalem auch Teil dieser Vision – Herzl beschreibt das genau mit seinen romantischen Vorstellungen in verschiedenen Veröffentlichungen. Nach ihm sollte Jerusalem eine heilige Stadt werden, in der es eigentlich keine weltlichen Dinge mehr geben sollte. Das ist mehr Fantasie, als es je Realität werden konnte. Denn das Faktum, dass es dort palästinensische, einheimische Bürger gab, war auch Herzl bekannt. Diese Tatsache hat die zionistische Bewegung immer wieder in Widersprüche verwickelt und zu immer neuen, letztlich zerstörerischen Aktionen gebracht. Auch wenn zu Beginn der zionistischen Kolonisierung Jerusalem nicht an erster Stelle stand, sondern die Küsten-
ebene und z.B. das nördliche Hula-Gebiet wegen der strategischen Wasserquellen,wurde die Idee, Jerusalem als Zentrum des jüdischen Lebens mit der Klagemauer ganz in Besitz zu nehmen, immer verfolgt – konnte aber schließlich zur Zeit der Staatsgründung nicht umgesetzt werden.
Wenn man nun auf das ganze letzte Jahrhundert schaut, kann man verfolgen, dass die Veränderung in Jerusalem damals mit Hilfe Europas eine Art Europäisierung bedeutete – nach Maßstäben und Gedankengut einer europäischen Planung. Seit Beginn des englischen Mandats nach dem Ersten Weltkrieg sollte die Neustadt von Jerusalem teilweise nach dem Konzept der europäischen Gartenstadt umgestaltet werden. Diese Idee wurde darüber hinaus in Gesamt-Palästina von verschiedenen, vor allem deutschen Architekten, umgesetzt, in Form neuer, rein jüdischer Städte. Mit dieser Planung ging auch eine Entarabisierung des Landes einher, nicht nur unter dem Prinzip der Gartenstädte, wie man bei Myra Warhaftig nachlesen kann.
Vor allem muss man aber den Prozess, den der israelische Historiker Ilan Pappe „Ethnische Säuberung“ nennt, zur Kenntnis nehmen. Diese systematisch geplante Vertreibung kurz vor der Staatsgründung 1948, von den Palästinensern „Nakbah“ (Katastrophe) genannt, fand auch in Jerusalem statt. Zionistische Brigaden wie Palmach und Irgun haben gezielt militärische Säuberungsaktionen durchgeführt, die vor allem darauf abzielten, eine räumliche Verbindung von Tel Aviv nach Jerusalem zu schaffen und möglichst die Altstadt in Besitz zu nehmen. Ziel war es, über den UN-Teilungsbeschluss hinaus so viel Land zu erobern wie nur möglich, um ein zusammenhängendes Gebiet mit dem Kern Jerusalem noch vor der Staatsgründung zu erreichen. Das ist trotz dieser Aktionen, die das entstandene Machtvakuum zwischen dem UN-Beschluss im November 1947 und dem geplanten Abzug der britischen Mandatskräfte am 14. Mai 1948 ausnutzen sollten, zunächst nicht gelungen. Die Altstadt von Jerusalem wurde nicht Teil Israels, allerdings wurden bis Ende 1948 insgesamt 36 Dörfer im Westen der Stadt zerstört und die palästinensische Bevölkerung vollständig vertrieben. Dieses Gebiet ist seitdem vollständig israelisiert. Reste von Dörfern wurden durch Freizeitparks wie den Canada Park unsichtbar gemacht.

Und wie entwickelte sich die zionistische Planung in Jerusalem nach 1948?
Bis 1967 wurde der Ausbau der Weststadt Jerusalems als so genannter Hauptstadt Israels betrieben, und – gegen internationales Recht – auch durch Knesset-Beschlüsse formal ‚abgesegnet‘.
In der Zeit bis 1967 wurde die Weststadt neben neuen Wohnvierteln mit diversen repräsentativen Gebäuden ausgestattet – der Knesset, Stadien, der Ben-Jehuda-Straße, die heutige Einkaufs- und Vergnügungsmeile, sowie mit all den Parks und auch Yad Vashem, dem Holocaust-Museum. Erst 1967, als die Jerusalemer Altstadt bzw. die ganze Westbank, Gaza und die Golan-Höhen militärisch erobert wurden, beginnt die Fortsetzung dessen, was der Traum war: die Israelisierung oder Judaisierung dieser Stadt, was die Entarabisierung der Stadt bis heute zur Konsequenz hat.
Das ist es auch, was ich als Urbizid bezeichne, dass nämlich seit 1948 neben der Neugestaltung der Stadt nach israelischen Vorstellungen und nach 1967 der Judaisierung mit inzwischen 200.000 Siedlern die Zerstörung des palästinensischen Jerusalems geschieht. Den Palästinensern in der Altstadt und in Ost-Jerusalem wird die Weiterentwicklung ihrer Quartiere durch Planungsvorgaben unmöglich gemacht. Ihr Lebensraum wird eingeengt, Baugenehmigungen werden nicht erteilt, Planungen eingefroren, Entwicklungsgebiete für sie nicht ausgewiesen, sondern als Grünzonen statt Wohngebieten festgelegt usw. Aktuell werden wieder Gebäude abgerissen und Existenzen zerstört – denn die Familien sehen sich gezwungen, ohne Baugenehmigung Wohnungen für die größer werden Familien und die wachsende Gesellschaft auf dem eigenen Grund und Boden zu errichten.

Israel bezeichnet sich als Rechtsstaat. Auf welcher rechtsstaatlichen Ebene wird die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, die Kolonisierung von Jerusalem gerechtfertigt?
Man kann im Grunde genommen von einem Netzwerk von Gesetzen und Verordnungen sprechen, die gezielt als Instrumente der Vertreibung wirken und die vor allem im besetzten Ost-Jerusalem völkerrechtlich illegal sind, auch wenn sie als Gesetze getarnt ganz rechtsstaatlich aussehen. Unter dem Begriff‚Stadterneuerung‘ oder ‚Rehabilitierung‘ zum Beispiel werden heute auf der einen Seite Fördermittel in rein jüdische Gebiete gelenkt, deren Bebauung, selbst wenn sie nicht einmal hundert Jahre alt ist, als ‚historische Gebäude‘ bewertet wird. Auf der anderen Seite aber sieht das dann so aus, dass jene Gebäude in Bedrohung sind, die den Palästinensern und Palästinenserinnen gehören, weil sie nicht in dieses Rehabilitationskonzept passen. Sie sind unter ‚Rehabilitierung‘ nicht gemeint. Im Gegenteil und wie am Beispiel von Silwan zu sehen ist, trotz des historischen Charakters dieses Stadtteils für die palästinensischen Jerusalemer werden Gebäude abgerissen, um Platz für die vermeintliche Davidstadt zu schaffen. Die Siedler bereiten den Weg für diese Art ‚Rehabilitierung‘ vor, indem sie mitten in diesen alten palästinensischen Quartieren irgendwelche Gebäude besetzen und drauf neue Teile errichten – ein klares Zusammenspiel zwischen Siedlern und Stadtverwaltung bereitet dann die Zerstörung der palästinensischen Nachbarschaften vor.
Weiterhin werden Gesetze aus der osmanischen Zeit und Gesetze aus der englischen Mandatszeit geltend gemacht, die nie außer Kraft gesetzt worden sind und dazu dienen, Bauverbote zu erteilen oder Abrisse zu ermöglichen. Nach diesen ‚Emergency Regulations‘ und Planfestsetzungen aus der Mandatszeit kann die Enteignung privaten Landbesitzes verfügt werden, weil in den letzten 60 Jahren Wohnungen auf landwirtschaftlich definiertem Land errichtet wurden oder auch weil ein Gebäude über eine gewisse Zeit nicht bewohnt oder Land nicht bearbeitet wurde – oft weil die Bewohner vor den Kriegen geflüchtet sind oder aus wirtschaftlichen Gründen für ein paar Jahre im Ausland leben.
Es gibt eine Vielzahl von solchen quasi-staatlichen und gesetzlich geregelt aussehenden Grundsätzen, die aber offensichtlich nur dafür da sind, dass die Ost-Jerusalemer palästinensischen Familien ihren Wohnraum verlieren und ihre Häuser quasi legal zerstört werden können. Das geschieht bereits schleichend seit 1967, aber im Moment sieht es so aus, als sei die letzte Phase dieser Art Zerstörung des palästinensischen Jerusalems angebrochen. Nach der Errichtung des äußeren großen Siedlungsringes mit Ma’ale Adumim, Gilo und Efrat, dem Ausbau der Kolonien French Hill, Neve Yakov oder Pisgat Ze’ev geht nun die Judaisierung nach innen bis in die Altstadt, um dort direkt und systematisch zu zerstören und die bestehende palästinensischen Gebiete weiter zu kolonisieren.

Nun war aber zeitgleich mit Ihrem Vortrag in den österreichischen Medien zu lesen, dass Ministerpräsident Netanjahu den Siedlungsbau in Jerusalem stoppen will. Was bedeutet diese Entscheidung?
Die arabische Liga will sich in Kürze treffen und auch zu Gaza überlegen, welche Stellungnahmen für dort getroffen werden müssten. Da passt das dazu, wenn jemand aus der israelischen Regierung sagt, wir stoppen das. Ich denke, es ist eine taktische Aussage, die aus israelischer Sicht wichtig für das internationale politische Klima ist. Israel stell natürlich auch fest, dass es zurzeit schlechte Karten in der öffentlichen internationalen Meinung hat. Das hat eine gewisse Regelmäßigkeit: Jedes Mal, wenn es um Verhandlungen ging, gab es entweder ein Attentat – oder ein Zugeständnis, dass nach wenigen Monaten wieder rückgängig gemacht worden ist. Auf die Forderung der US-Regierung nach einem Siedlungsstopp gab es zwar die Antwort, sie täten das; aber wir wissen alle, dass sie doch weiterbauen. Im Übrigen blieb Jerusalem von allen bisherigen Siedlungsstopp-Aussagen ausgeschlossen. Das heißt, Netanyahu macht eine taktische Aussage. Wenn es jetzt keine Umsetzung neuer Zerstörungsbeschlüsse gibt, wird es diese dann vielleicht in zwei Monaten geben.

Der Bürgermeister von Jerusalem hat schnell gesagt, warum er gegen einen Siedlungsstopp ist und dass er an den Plänen festhalten will. Es handle sich dort um arabische, nicht berechtigte Bauten …
Das ist zum Beispiel eine ganz entscheidende rechtliche Waffe. Das gilt für ganz Jerusalem, das gilt aber auch in Israel selber. Man bekommt nur eine Baugenehmigung, wenn es einen Bebauungs- oder Masterplan gibt. Für die Siedlergruppen gilt das alles nicht, sie errichten ohne Genehmigung erst ein paar mobile Hütten, dann fordern sie den Ausbau der Infrastruktur und erhalten Finanzierung, Militärschutz und irgendwann auch den Status einer Stadt mit Masterplan und allem – oder bleiben was sie sind, private Initiativen. Nach den oben beschriebenen Gesetzen aus der englischen Mandatszeit müssten die Siedlungen abgerissen werden und erst recht nach den internationalen Konventionen, denn danach sind alle diese Siedlungen illegal. Aber wenn Palästinenser ohne die erforderliche Baugenehmigung bauen, ja bauen müssen, heißt es dann sofort, dass sie gegen Gesetze verstoßen und ihre Häuser gelten dann als illegale Bauten.
Das ist alles trickreich, eine Summierung von trickreichen, beliebigen Anwendungen von Gesetzlichkeiten, die dazu führen, dass Menschen schließlich illegal gemacht werden. Ein Beispiel für Israel ist die Kleinstadt Um El Fahem mit etwa 35.000 Einwohnern, die zu einem der Gebiete gehört, die auch nach 1948 palästinensisch bewohnt geblieben sind. 70% aller Bauten von Um el Fahem gelten als„illegal“, weil der Stadt ein Masterplan verweigert wurde und auch keine Baugenehmigungen erteilt wurden.
Die Palästinenser können also gar nichts anderes tun als „illegal bauen“, aber eigentlich nehmen sie nur ihr Recht auf Wohnen und auf Behausung wahr und dies basierend auf der Tatsache, dass ihnen das Land gehört und sie dies zumeist auch mit Dokumenten belegen können. Aber nach den Gesetzen, die Israel benützt, sind sie illegal, das meint der Jerusalemer Bürgermeister. Und damit befürwortet und verordnet er dann die Zerstörungen.
Eine weitere Bedrohung für die Ost-Jerusalemer liegt in den für sie geltenden israelischen Aufenthaltsbedingungen. Formell sind die Palästinenser Ost-Jerusalems seit 1967 Menschen mit Aufenthaltsrecht, nicht wirklich Einwohner ihrer Stadt. Dieses Recht kann man aber verlieren: Man muss Krankenversicherung bezahlen, obwohl man nicht davon überzeugt ist, dass man wirklich gut behandelt wird; man muss die Wasserrechnung bezahlen, den Strom, die Haussteuer, die neue Wassersteuer – und das sind alles enorme Summen. Je mehr die palästinensische Gesellschaft aber verarmt, weil immer weniger Touristen kommen, weil es keine Arbeitsplätze oder solche nur noch in Ramallah oder Bethlehem gibt, kommen alle in Schwierigkeiten, diese Summen aufzubringen. Da kann man manchmal einfach nicht zahlen und zahlt auch nicht. Es laufen dann große Summen auf und schließlich heißt es: entweder zahlst du jetzt diese Tausende Schekel oder du kriegst keine Verlängerung deines Aufenthaltsstatus. Und noch mehr solcher Willkürpraktiken existieren: Wer in Ramallah oder Bethlehem einen Job hat, wer einen Partner dort gefunden und geheiratet hat, kann ebenfalls seinen Aufenthaltsstatus verlieren, weil dann der ,Lebensmittelpunkt‘ nicht mehr Jerusalem sei – so die zionistische Stadtverwaltung. Tausende Ost-Jerusalemer haben seit 1967 auf diese Weise ihren Aufenthaltstitel verloren und leben zum Teil wie Illegale in ihrer eigenen Stadt.


Viktoria Waltz, Jg. 44, Studium der Architektur an der TU Berlin, bis 2007 Dozentin an der Abteilung/Fakultät Raumplanung, (T) Universität Dortmund; dort Promotion zur Dr. rer.pol. über 100 Jahre Siedlungspolitik in Palästina. Schwerpunkte: Soziale Stadt und Beteiligung von Minderheiten, Migration und Kultur, Soziale Wohnungspolitik, Hochschuldidaktik und Projektstudium, Planung in der „3. Welt“, seit 1984 speziell Siedlerkolonisation im Nahen Osten, Palästina/Israel. 1996 vor der UNESCO Berichterstattung zu Jerusalem für die Arabischen Delegationen; 1997 bis 2000 Beraterin des Wohnungsbauministeriums in Gaza und Ramallah im Auftrag der deutschen Bundesregierung; 2000 bis 2006 Beauftragte der Universität Dortmund für das Partnerschaftsprogramm mit der Birzeit Universität bei Ramallah zum Aufbau eines Studienganges‚Urban Planning and Design UPLD‘. 2007/2008 Beraterin des Applied Research Institute Jerusalem ARIJ.

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