Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Fritz Schlier (Auszug)
Mittwoch, 17. Februar 2010
von Cordula Simon

Fritz Schlier konnte ohne einen Platz in der Welt auskommen, denn Fritz Schlier wusste, in einem modernen Leben hatte man nicht zwingender Weise anwesend zu sein; man konnte sich davor drücken, jemandem leibhaftig zu begegnen. Ein Anruf genügte. Ein Mail. So war er höchst erstaunt, eines Morgens mit schmerzendem Rücken sowie Kopf auf dem Fußboden einer Küche aufzuwachen. Die Gewissheit, sich in einer Küche zu befinden kam daher, dass er zwischen einigen Stuhlbeinen hindurch einen Einbaubackofen erkennen konnte. Schlier mochte Küchen nicht sonderlich, er hatte sich auch in der Küche seiner Wohnung kaum aufgehalten. Am häufigsten war er noch im Vorzimmer gewesen. Dort hing an der Wand ein Telefon – der einzige Punkt an dem die Außenwelt den Raum tangierte, denn er war durch kein Fenster einzusehen. Die anderen Räume, obschon die Wohnung im vierten Stock war, konnten von den Fenstern der jeweils gegenüberliegenden Wohnhäuser gesehen oder gar beobachtet werden, so vermied er diese zu betreten. Fritz Schlier hatte sogleich nach seinem „Einzug“ alle Jalousien per Zugschnur nach unten gelassen und im Dunkeln mit einer Taschenlampe begonnen, ein Wohnungsleben zu basteln. Aus dunklem Kartonpapier schnitt er die Konturen eines Kopfes und Oberkörpers seiner selbst für die Küche und die Konturen eines Kopfes und Oberkörpers weiblicher Form, die er beide zum ewigen Frühstück am Tisch platzierte. Weiße Bettlaken hatte er statt der Vorhänge am Fenster montiert, und schaltete er die Lichtquelle hinter den Figuren ein, sahen die Leute gegenüber ein Paar beim Frühstück. Ähnlich verfuhr er mit dem Wohnzimmer: Er setzte die Umrisse vor den Fernseher. Das bläuliche Licht, meinte er, brächte sie besonders zur Geltung. Im Schlafzimmer wiederum waren die beiden lesend zu erkennen. Dank mehrerer Zeitschaltuhren konnte man zu unterschiedlichen Tageszeiten die netten stillen Menschen von nebenan sehen. Im Badezimmer sparte er sich die Arbeit; das Fenster war so klein, dass es reichen musste, hie und da das Licht einzuschalten. Morgens und abends sah man das Küchentischpärchen, später am Abend das Wohnzimmerpärchen, noch später das Schlafzimmerpärchen und zwischendurch immer wieder das Badezimmerlicht. Tagsüber war alles abgeschaltet, außer an den Wochenenden, wo auch dort und da ein Licht anging. Fritz Schlier musste also niemals zu Hause sein um seine Nachbarn zu überzeugen, er sei zu Hause gewesen, mit seiner Freundin, die es nicht gab. Ein wunderbarer Mensch, dieser Herr Schlier. Fritz klopfte sich nach Vollendung seines Werkes auf die Schulter. So leise sahen die Schattenfiguren fern, dass man in der angrenzenden Wohnung trotzdem schlafen konnte. Jedes Alibi wäre ihm von den Nachbarn bestätigt worden. So wie die Wohnung präpariert war, musste er keine Angst davor haben, dort sein zu müssen. So erschreckend jede Räumlichkeit für sich war, so wenig war es nun notwendig, sich dieser Angst zu stellen. Denn Fritz Schlier war sich sicher: Wenn die Zimmer einer Wohnung ohne ihren Bewohner auskommen können – und das hatte er geschafft, ohne dass es je jemand bemerken konnte – dann würde auch der Bewohner ohne die Zimmer auskommen.
Das Vorzimmer aber war der einzige Raum, den er nicht zu betreten fürchtete. Er hatte hier auch keine Angst Verwirrung zu stiften, da sich hier keine Kartonfiguren befanden, neben denen er unangebrachter Weise hätte auftauchen können. Wenn er dieses Vorzimmer und damit die Wohnung verließ, achtete er darauf nicht gesehen zu werden, denn dies könnte dem Tagesablauf seiner Figuren widersprechen. Zwar stand sein Name an der Tür, dem Mietvertrag hatte er per Post zugeschickt bekommen, unterzeichnet und auf gleichem Wege rückgereicht, doch musste ja niemand wissen, wie er in natura aussah, das Schattenbild am Fenster hatte auszureichen. So pflegte er mit niemandem in der Umgebung seiner Wohnung nähere Bekanntschaft. Nur seine Mutter wusste zwangsläufig, wie er aussah, und sie konnte er auch mit einer dermaßen präparierten Wohnung nicht hinters Licht führen, das wusste er, denn als Kind hatte er versucht, die Mutter zu täuschen, indem er das Badewasser laufen ließ, doch statt zu baden in den Garten gelangen wollte. Wie einem sicheren Instinkt folgend stand aber die Mutter in der Tür, gerade als er ein Bein beim Badzimmerfenster hinaus gesteckt hatte. Wenn man Fritz Schliers dunkles Abbild am Fenster sah, hätte man meinen können, er sei ein Familienmensch, der vielleicht häufig mit seiner Mutter telefonierte, sie auch gelegentlich besuchte, so ein idyllisches Leben, wie er es mit seiner Frau doch führte. Bedauerlich, wenn sie eines Tages in eine größere Wohnung zögen, wenn sie dereinst Kinder bekämen. Doch Schlier hatte das so wenig im Sinn wie sein Kartonweibchen. Er hatte die Wohnung sorgfältig ausgewählt, als Vertreter verkleidet hatte er sie schon Jahre, bevor er sie anmietete, betreten, und noch sorgfältiger als ausgesucht hatte er sie ausstaffiert. Hätte jemand Kenntnis von diesem wahren Fritz Schlier gehabt, er hätte nie geglaubt, dass dieser ein netter Mensch ist, der wöchentlich mit seiner Mutter telefoniert. Tatsächlich tat er das und er erzählte ihr, er sei in Paris, in New York, in Amsterdam, in Caracas – was ihm eben einfiel. Seine Mutter hatte er schon vor Jahren überzeugt, er sei Journalist – das war einfach gewesen – und müsse für seine Zeitung in der Welt umherreisen – was weniger einfach gewesen war. Das Blatt, das auch seine Mutter stolzerfüllt abonniert hatte, druckte nicht die Namen seiner Journalisten, sondern nur deren Initialen und wie es Schliers Glück wollte, war bei diesem Blatt ein F.S. tätig. Wie glücklich war die Mutter auch, das glauben zu dürfen. Mit seinen per Telefon vorgegaukelten Reisen in die Ferne verhinderte er, seine Mutter besuchen zu müssen wie auch, dass seine Mutter ihn besuchte, wohnte sie doch nur eine halbe Autofahrstunde von der Kartonfritzwohnung weg. Die Mutter war das einzige Familienmitglied, mit dem Fritz nach dieser Art verfahren musste, Geschwister hatte er keine, der Vater hatte das Zeitliche gesegnet und die einzige noch lebende Tante war mit der Mutter bis zu ihrer beider Tod, Schliers Mutter starb zuerst, wovon die Tante jedoch niemals Kenntnis erhielt, im Streit verblieben und beide hatten auf die jeweils andere im Sterbebett noch geflucht, weil diese sie überlebte, die eine zu Recht, die andere zu Unrecht. Dank seiner geschickten Methoden jedenfalls war es Schlier nicht notwendig seine Mutter zu besuchen, seine Wohnung zu bewohnen oder sich in New York aufzuhalten – nichts davon prüfte jemand nach oder vielmehr: Konnte jemand nachprüfen. Fritz Schlier war stolz auf sich.
Nun kann man natürlich sagen: Irgendwo muss der Mensch aber doch sein, der Mensch kann sich nicht in Luft auflösen. Doch Fritz Schlier strebte einen Zustand der Ortlosigkeit an, wie er nur lange vor der eigenen Zeugung möglich ist, noch bevor der Mensch seine einzige Bilokation in den Körpern seiner Eltern durchlebt, lange vor dem Wachsen im Mutterleib. In den Leib seiner Mutter wollte Schlier, Gott bewahre, nicht zurück, aber ohne diesen Umweg wäre ihm die Zweiteilung und endgültige Ortlosigkeit größtes Ziel gewesen. Denn dieser Umweg, dieser Mutterleib, schien ihm, wenn er darüber nachdachte, als schlimmster Platz überhaupt. Ein Raum mit nur einer Tür, durch die man nur einmal gehen kann und muss, um damit dem Traum keinen Platz einzunehmen, den Rücken zu kehren. Der Kartonfritz nahm mehrere Orte zur gleichen Zeit ein und war damit auch niemals frei von Wohnzimmer, Küche und Bett. Das Problem mit den Orten war für Fritz Schlier die größte Angst: Er war wie ein Kind, das Angst vor einem Monster unter dem Bett oder im Schrank hat und schließlich zu der Erkenntnis kommt, dass es kein Monster gäbe, gäbe es weder Bett noch Schrank. Nein, Fritz Schlier hatte in seiner Furcht niemals nach seinen Eltern gerufen. Schon in seiner Schulzeit, er tauschte täglich seinen Sitzplatz, malte er sich aus, wie er es anstellen könnte, nicht da zu sein. Er hatte in der Oberstufe gelernt, dass zwei Dinge, so sie nicht identisch sind, nicht zur selben Zeit am selben Ort sein können, und so träumte er davon, das zweite Ding zu sein. Weiter hatte er gelernt, aus der praktischen Erfahrung, dass, wenn ein Gegenstand an einem Ort nicht zu finden ist, er sich wohl an einem anderen aufhalten musste. So funktionierte dann eben Fritz Schlier: Er achtete schlicht darauf, nicht gesehen zu werden, niemandem zu begegnen, deshalb konnte er nur das Vorzimmer seine Wohnung betreten, nur nachts, um vielleicht von dort zu telefonieren.
Wie grässlich war es nun für Fritz, in einer Küche aufzuwachen, der Raum, den er als räumlichsten aller Zimmer wahrgenommen hatte. Schon als Kind störte ihn daran, wie sich Backofen, Kühlschrank, Geschirrspüler und im Falle des Schlierschen Hauses auch die Waschmaschine als kleine Zimmer in das große einschachtelten. Der Backofen, den er von seiner Position aus erblicken konnte, schien ihn gar zu verspotten. Aber als ob es nicht schlimm genug wäre, dass er sich gerade in einem derartigen Zimmer wiederfand, musste ihm auch qualvoll die Räumlichkeit dessen dadurch klar werden, dass ein Großteil seines Körpers den Boden berührte. Denn Fritz Schlier wusste: Ein Raum ohne Boden war kein Raum. Oh, wie hatte er die Illusionskünstler stets beneidet, gingen sie frohen Schrittes durch einen großen schwarzen Koffer mit Silberbeschlägen eine nicht endende Treppe hinab, in einen Keller, den es nicht gab. Wie gerne er ihnen als Kind gefolgt wäre. Ihr Zauberer mit den magischen Hüten. Ein Kaninchen müsste man sein, in dem Moment, in dem der Zauberer den leeren Hut zeigt. Doch hatte Fritz bald zu lernen gehabt, dass eine Treppe aus dem Koffer nur in einen scheußlich engen Raum unter der Bühne führte – und wieder begrenzt hier der Boden, diesmal von oben und unten die Räumlichkeit. Jeder Platz auf der Welt hatte einen Boden. Der einzige Körperteil Schliers, der nicht am Boden haftete, war sein linker Arm, denn mit festem Seil und noch festerem Knoten war Schlier an Bein und Verstrebung eines kleinen, doch massiven Tisches gebunden, was ihm wieder vor Augen führte, wie körperlich er selbst doch war, so wie er auf diesem Boden lag. Da bildete sich in seinem Mund ein blasser Geschmack und in seinem Magen ließ sich eine Übelkeit merken, die er zu verdrängen gedachte, wusste er doch, dass sein Magen nur ein hohler Schlauch war, der stets nach mehr Interieur verlangte. Schlier wusste weiter, dass es dieser Gedanke war, der ihn mager gemacht hatte. Das hatte er erfahren, als er sich in seinem Vorzimmer im Spiegel sah, den er sogleich abnahm, denn er sah keinen Zweck darin, einen Raum unnötig zu vergrößern. Feng-Shui, diese Satanslehre. Er versuchte sich zu drehen, doch der Boden, der Ort, ließ nicht von seinem Rücken ab. So hoffte er sich abzulenken, indem er versuchte zu lauschen. Ein Geräusch hatte keinen Platz, war flüchtig, und Schlier hatte sich schon gewünscht, er könnte ein Geräusch sein.

 

Cordula Simon,
geb. 1986 in Graz, Studium der deutschen und russischen Philologie in Graz und Odessa. Koordinatorin der Jugend-Literatur-Werkstatt Graz. Mitglied der Grazer Literaturgruppe Plattform. 1. Preis beim Zeit-Campus Literaturwettbewerb 2009.

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