Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Nachtaufnahme
Freitag, 18. Dezember 2009

Florian Labitsch

[Ausschnitt aus einem längeren Prosatext:]

Die ersten beiden Briefe kamen ohne Hinweis auf den Absender, im Abstand von zwei Tagen. (Aber ich wusste, dass er diese Briefe geschrieben hatte.) Auf einem Blatt Papier, das im Umschlag des ersten Briefes steckte, stand in Handschrift geschrieben:

Aber warum sind wir so müde? Das ist die Frage.

Auf jenem des zweiten Briefes war wieder das gleiche Tschechow-Zitat zu lesen.

Eine Woche später erhielt ich wieder einen Brief, dieselbe Handschrift wie bei den ersten Briefen. Auf einem Blatt Papier fanden sich zwei Worte: Abend-Gespräch, Nacht-Gespräch. Darunter eine Unterschrift: Marcel. Vier Tage später noch ein Brief von ihm, diesmal mit der Aufforderung: Komm am Mittwoch in meine Wohnung. Ich erwarte dich um zehn Uhr am Abend. Ich kannte Marcel vom Studium, hatte ihn aber schon einige Monate nicht mehr gesehen, vielleicht war es auch ein halbes Jahr gewesen. Da sich mir der Sinn dieser kurz gehaltenen Einladung nicht erschloss, suchte ich seine Telefonnummer: vergeblich. Marcel hatte Geschichte und Germanistik studiert, so wie ich, und während ich als Schriftstellerin und Malerin mit Kunst-Leben experimentiere und mich umgebe und tatsächlich in diesem lebe, war er, der doch viel kreativer war als ich, nach Ende des Studiums nicht als Künstler, sondern eine Zeit lang als Privatlehrer tätig. Ein Sohn reicher Eltern, dem er bereits in dessen Schulzeit Nachhilfe gab, wurde während des Germanistik-Studiums von Marcel begleitet, und er hatte dafür ein ziemlich üppiges Honorar bekommen. Es wunderte mich, denn ich dachte, Privatlehrer oder -gelehrte gäbe es nur mehr in alten Romanen aus dem 19. Jahrhundert oder in einer längst versunkenen Zeit, in der Vor-Zeit, aber keinesfalls in der Jetzt-Zeit mehr.
Als ich zur gewünschten Zeit am verlangten Ort war, nämlich in seiner Dachgeschoss-Wohnung mit schönem Ausblick über die Stadt, öffnete ein Mann um die Dreißig wortlos die Tür und führte mich in das Wohnzimmer von Marcels Wohnung, das ich von meinen Besuchen kannte. Beim Betreten des Raumes hörte ich, dass aus den Boxen der Stereo-Anlage Let there be more light von Pink Floyd drang. Marcel saß auf der Couch, sagte kein Wort, deutete mit der rechten Hand in meine Richtung, was ich als Aufforderung sah, mich zu setzen. So ließ ich mich in einen Fauteuil-Sessel nieder und saß ihm genau gegenüber. Der Mann, der mich eingelassen hatte, setzte sich auf einen Sessel, der vor einem kleinen schmalen Tisch stand, auf dem ein Notizbuch sowie ein Diktiergerät lagen. Ich sagte Hallo, Marcel sagte noch immer nichts. Im Wohnzimmer standen Bücher und Medikamente nebeneinander, auf dem Tisch stand eine Schachtel Penicillin neben Auslöschung, eine Packung Voltaren lag auf dem Buchdeckel von Ulysses, Vibrocil-Nasentropfen auf dem Cover von Montauk, eine Packung Parkemed 500 befand sich neben dem Mann ohne Eigenschaften. Der Mann, der mir die Tür geöffnet hatte, hantierte an seinem Diktiergerät und drückte auf eine Taste. „Was soll das“, fragte ich. „Er protokolliert unser Gespräch.“ Marcels erste Worte. Begrüßt hatte er mich nicht. Ich war verwirrt und verärgert, sagte darauf aber nichts. Der Mann am Diktiergerät begann in seinem Notizbuch zu schreiben, obwohl doch beinahe nichts gesagt worden war.
Marcel fragte: „Was machst du?“ – „Das weißt du doch.“ – „Nein, ich meine, diese Frage stellen wir doch immer als eine der ersten, wenn wir jemanden kennenlernen: Was machst du? Und genau diese Frage stößt mich, jedesmal wenn sie gestellt wird, in ein tiefes Loch. Was soll ich dazu schon sagen? Ich schlafe am Tag, stehe täglich nicht vor vier Uhr am Nachmittag auf, gehe keiner geregelten Arbeit nach, bin abends und nachts aktiv. Aber was soll ich auf diese Frage antworten?“ –  „Zum Beispiel, dass du an einer Arbeit über Die Unzulänglichkeit der Sprache als Medium zur Kommunizierbarkeit von Schmerzerlebnissen schreibst.“ – „Eigentlich wollte ich damit auf der Uni eine Doktorarbeit schreiben, aber aus der Dissertation ist nichts geworden. Die Universität kommt mir wie ein kafkaeskes Schloss vor. Genau wie dieses Ungetüm von Kafkas Schloss. Anonym, unpersönlich, unerreichbar, unüberschaubarer riesiger Komplex.“ Marcel drehte sich zu mir um, hustete: „In meine Arbeit über die Kommunizierbarkeit von Schmerzerlebnissen wird natürlich auch Wittgensteins Käfer-Schachtel-Beispiel einfließen. Ich könnte jenen, die mich fragen, was ich denn so mache, antworten, ich bin müde, sehr müde. Diese Müdigkeit im Kopf begleitet mich ständig, aber ich schlafe abends nicht ein, ich schlafe nicht, zumindest nicht nachts, weil ich auf etwas warte, etwas erwarte. Denn das, was noch möglich wäre, wird erst durch das Einschlafen verhindert. Obwohl ich natürlich weiß, was zu erwarten wäre, nämlich nichts.“ – „Das könntest du ihnen sagen.“ – „Nein, besser, ich sage ihnen gar nichts, gehe diesen Menschen aus dem Weg, denn die meisten Leute sind“, er brach den Satz ab und sah mich an.
Dann ging Marcel zum CD-Player und legte Dark side of the moon ein. „Nachts schaue ich oft Space Night im Bayrischen Rundfunk an“, sagte er.
„Siehst du deinen ehemaligen Schüler noch“, fragte ich.
„Nein, wir haben keinen Kontakt mehr.“
„Hast du damals mit ihm Sartre durchgenommen?“
„Ja. Natürlich auch Camus, sogar Heidegger. Für ihn als Teenager war das allerdings zu früh, obwohl doch gerade ein Teenager mit den Existenzialisten viel anfangen können müsste.“ Dann hustete er. Und hustete. Er warf sich ein Parkemed ein und spülte es mit einem Schluck Cola runter. Danach hustete Marcel wieder. Ich verließ das Zimmer und ging auf die Toilette. Als ich zurückgekommen war, sagte er: „Es war leer und still wie auf dem Mond: mondstill. Ich sehe Leere in mir und Leere vor mir.“ (Der Protokollant schrieb alles eifrig mit.) Tired of lying in the sunshine staying home to watch the rain. You are young and life is long and there is time to kill today. Ich ging zu ihm und nahm seine Hand, er stand auf, wir tanzten zu Time. Thougt I’d something more to say. Wir tanzten nebeneinander. Als ich mit ihm Hand in Hand tanzen wollte, hustete er. Und putzte sich die Nase. Und hustete wieder. Marcel setzte sich. „In den letzten drei Wochen hab ich dreimal ein Antibiotikum verschrieben bekommen. Das ist neuer persönlicher Rekord in meiner antibiotischen Laufbahn. Zuerst der Hals, dann die Zähne, dann wieder der Hals und jetzt bin ich schon wieder noch immer verkühlt. Es ist doch Wahnsinn, dass ich in den letzten drei Wochen dreimal ein Antibiotikum genommen habe, aber noch immer Husten und Halsschmerzen habe. Und Schnupfen.“ Er griff zu einem Taschentuch und schnäuzte sich. „Vielleicht habe ich eine Bronchitis.“ Marcel hustete. „Auf alle Fälle werde ich noch einen Termin mit dem HNO-Professor ausmachen. Er ist der beste Arzt, den ich kenne.“ Er ging zum Tisch und warf sich noch ein Parkemed ein. Und spülte es mit einem Schluck Cola runter.
Einmal, während der Studienzeit, hatten wir beide zur gleichen Zeit eine Grippe gehabt, dennoch kam ich nachts zu ihm in seine Wohnung und wir husteten beide im Badezimmer vor dem Waschbecken stehend. Und spuckten immer wieder Schleim ins Waschbecken. Und jedesmal, wenn der Auswurf gelblich gefärbt war (von unseren Hausärzten als Anzeichen für einen bakteriellen Infekt gewertet), riefen wir triumphierend aus: Jetzt haben wir uns wieder ein Antibiotikum verdient. So ging das stundenlang. Im Morgengrauen legte er dann eine Pink-Floyd-CD in die Stereoanlage und ich begann zu tanzen (obwohl es recht schwer ist, zu Shine on you crazy diamond zu tanzen). Nach einigen Minuten wollte ich seine Hand nehmen, um mit ihm gemeinsam zu tanzen. Da begann Marcel zu husten, lief ins Badezimmer, ich hörte ein Spuckgeräusch und er schrie triumphierend: „Wieder ein Antibiotikum verdient.“
Marcel drehte sich zu mir um und sagte: „Wenn ich irgendeine Krankheit habe, die medizinisch diagnostizierbar ist, dann findet sie der HNO-Professor heraus. Denn er ist der beste seines Fachs. Die Angst, nicht gesund zu werden, ist im Grunde nichts anderes als die Angst vor der Zukunft. Die Angst, dass es in Zukunft nicht positiv läuft. Was immer das heißt. Die Angst, dass ich in der momentanen unbefriedigenden Lebenssituation stecken bleibe und aus dieser nicht mehr herauskomme. Und ich habe allen Grund zu dieser Annahme.“ – „Warum?“ „Die Angst, manchmal ersticken zu müssen, habe ich in letzter Zeit öfter. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Alles zugeschnürt. Ich weiß nicht, wie viele tausende Euro ich dem HNO-Arzt in den letzten Jahren schon in den Rachen geworfen habe. Aber es hat nichts genützt.“ Marcel begann wieder zu husten.
Einmal hatte er erzählt: Heute Morgen hab ich erfahren, dass meine Mutter wieder in die Psychiatrie muss und am Abend ist dann dieses Mädchen gekommen, in das ich mal verliebt war, die mir irgendwann einmal die zwei CD’s gebrannt und mitgebracht hatte, als sie tränenaufgelöst in die Vorlesung gelaufen kam, mich rauszerrte, weil es mit ihrem Freund aus war, der ein Freund von mir damals gewesen ist. Wir spazieren im Stadtpark, sie heult sich bei mir aus, beschwert sich über meinen Freund. Als sie am Abend kommt, setzt sie sich auf den Sessel beim Schreibtisch und sagt: So hab ich mir dich wie oft sitzend vorgestellt, hier auf dem Sessel vor dem Schreibtisch den Intellektuellen. Dann ziehen wir uns aus und wollen miteinander schlafen. Ich gehe, noch bevor wir Sex haben, aufs Klo und komme eine halbe Stunde nicht aus dem Klo. Als ich wieder ins Zimmer komme, ist sie nicht mehr da.
Plötzlich stand Marcel auf, ging aus dem Zimmer, kam kurz darauf wieder zurück, einen kleinen Gummiball in der Hand, ähnlich einem solchen, den wir als Kinder zum Spielen benutzt hatten, und sagte: „Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt“, und warf den Ball in der Höhe meines Kopfes auf mich zu. Glücklicherweise konnte ich in Deckung gehen und der Ball traf mich nicht, sondern das Bücherregal, das schräg hinter dem Fauteuil an der Wand stand. Marcel hustete. „Wenn ich nachts wach bin, denke ich, ich triumphiere über die Schlafenden, die tagsüber arbeiten, während ich tagsüber schlafe und nicht arbeite. Tee?“ – „Schwarz, bitte.“ –  „Einen anderen hätte ich ohnehin nicht gemacht.“ Als er zurückkam, stellte er mir eine Tasse Tee hin, er selbst nahm noch ein Parkemed, bevor er den ersten Schluck Tee trank. „Für mein Buch Die Unzulänglichkeit der Sprache als Medium zur Kommunizierbarkeit von Schmerzerlebnissen, das bald fertig gestellt sein wird, suche ich bereits einen Verleger. Natürlich könnte ich mir die Publikation bei einem renommierten deutschen Verlag finanziell leisten, aber das verbietet mir die Würde. Denn selbstverständlich muss so ein gutes Buch, wie meines eines ist, gefördert oder die Druckkosten vom Verlag übernommen werden.“ Marcel hustete, sagte dann: „Manchmal habe ich das Gefühl zu ersticken.“ Ich sah ihn an, starrte ihn an, vielleicht eine Minute lang, er erwiderte meinen Augenkontakt. So starrten wir uns eine Minute lang an und sein Gesicht veränderte sich, es bekam einen traurigen Blick: „Ich bin krank.“

 

Florian Labitsch

Historiker und Autor. Studierte Geschichte an der Universität Graz. Von 2000 bis 2002 journalistische Arbeiten für die Beilagenredaktion der Kleinen Zeitung in Graz. Veröffentlichungen von literarischen und wissenschaftlichen Beiträgen in zahlreichen Zeitschriften wie LICHTUNGEN, BELLA triste (D) und Historisches Jahrbuch der Stadt Graz.
Zuletzt erschien die kulturwissenschaftliche Studie Die Narrischen. Sportereignisse in Österreich als Kristallisationspunkte kollektiver Identitäten (LIT Verlag 2009).

 

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