Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
einundzwanzig
Mittwoch, 18. November 2009

Valerie Katrin G. Fritsch

Äthiopien ist ein wundes Land, bei uns trägt man Wimperntusche auf den Augen und hier trägt man Fliegen auf den Wimpern. Ich habe tote Menschen gesehen, tote Kinder und tote Pferde, die Frauen gebären auf der Straße mit zum Verkehr hin aufgerissnen Leibern und die Menschen sterben auf der Straße und die Insekten haben hier einen lauten Flügelschlag.

Aus den Wasserleitungen fallen Asselkadaver, die Dämmerung trägt das Hellblau des Äquators und die Nächte sind dämonisch schwarz, pudrig und unerlöst.
Und trotzdem ist es das Land des Lächelns. Man verschenkt sein Herz unaufhörlich und bekommt es gefüllt zurück, man wäscht sein Herz in der Armut und den großen Seen und dem Regen, der zur Regenzeit aufbrausend und aufgebauscht fällt. Die Menschen laufen unter Bananenpalmblättern durch die Gewitter und heute: habe ich einen einzelnen Pferdefuß blutverschmiert am See gefunden. Der See ist hier ein Meer und die Gezeiten kommen mit den Seeadlern und Eisvögeln gemeinsam und untertags gibt es nur Platz für Bilder und Blicke, die Gedanken setzen erst in der Nacht ein. Die Nilpferde tauchen in Türmen wie die Bremer Stadtmusikanten auf und ab.
Ich greife Menschen an. Das ist alles, was ich tue. Auf der Straße winken Dir die Menschen und die Kinder geben Dir hungerbäuchige Küsse und sie kleben auf der Haut und Du hast ohne Unterlass Menschen an der Haut und die Kinder werden zu schwarzen Trauben an Deinen Armen und sie nennen Dich Firengi oder Ok, weil Du nichts sooft sagst wie das zur Beschwichtigung.
Ich habe Dinge gesehen, die wir uns nicht vorstellen können und: ich bin froh, dass wir sie uns nicht vorstellen können. In der Hauptstadt schlafen nackte Männer auf den nicht mehr als zehn Zentimeter dicken Trennsteinen mitten auf der Straße. Die Straße: ist eine Schneise, eine Kerbe im Wellblech, und das Wellblech ist nur Fugmasse zwischen den staubigen Wegen. Die Stadt ist eine einzige Straße. In den Schlaglöchern sitzen Hundebabies, die Taxis haben drei Räder und keine Türen, und in einem Taxi sitzen acht Menschen und ich bin froh, irgendwann trotzdem anzukommen und die Geier kreisen in Saturnringen über den großen Bäumen zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Zum Frühstück: sehe ich einen Tukan und esse winzigkleine Bananen. Zum Frühstück plaudert man mit dem Priester auf Italienisch und zum Frühstück dämmert das Land gegen sechs herauf und versinkt erst zwölf Stunden später in der Nacht, nachdem der Himmel ergraut ist oder sich vergoldet hat. Abends: Man schaut im Spiegel nach, ob man noch lächeln kann. Wochenlang kann man nicht an Sex denken und an einem Morgen, an dem es schon im Dunklen regnet: für Stunden an nichts anderes.

Für eine Identität braucht man eine große Sprache. Ich nähe Sätze zusammen, ich nähe Geschichten zusammen, und ungeheuerliche Grundsätzlichkeiten. Die Armut ist unwirklich und die Wirklichkeit ein Problem. Bücherrücken sind das Rückgrat, das man braucht, um wieder zu wissen, wie es sein kann, und wie unerschütterlich man selbst. Hier: Ich bin Schriftsteller und Analphabet. Gedanken sind schwierig, die Bilder sind groß. Als Schriftsteller: muss man mehr leben als die anderen. Ich kleide mich in Buchstaben und große Worte und die Menschen hier tragen alles. Die Menschen hüllen sich in Plastikplanen und Handtücher und Militärstoff und es ist nie der Stoff, aus dem die Träume sind. Die Kinder tragen Wollpullover, die ihnen bis an die Zehen reichen und die Ärmel sind aufgestrickt: als hätten sie einen Ballon auf dem Arm.  Die Tücher sind mandarinenfarben und löchrig, es ist Leinen, das auf der Haut und in den Augen kratzt. Männer tragen Frauenblusen, und Jungs Kleider mit schmutzigen Spitzenkrägen, weil der Westen lieber für die Mädchen spendet. Auf den alten Soldatenjacken sind manches Mal Flicken, dort, wo der letzte erschossen worden ist. Es ist ein Land, in dem man gern an Wunder glauben möchte. Hin und wieder sieht man ein Hugo Boss T-Shirt, unter dem man die Rippen zählen kann.
Die Straße ist ein Markt. Auf der Straße liegen Medizin- und Biologiebücher am Boden neben den Orangen und Avocados im Staub und: Fliegen. Die Fliegen nähren sich an den Wunden und sitzen am Obst um die Mittagszeit. Aussonderungen und bunte Kolonialwaren. Auf der Straße ist es überladen und schmutzig aufgedonnert und die Eselkarren kosten soviel wie ein dreirädriges Taxi und die Esel sind wund und blutig an den Flanken.

Manche Kinder lachen nie. Am Ufer liegen weiße Pferderippen und der See ist weit wie ein Meer und Gras wächst im Wasser und das Gras kommt in Wellen, wenn der Wind schwer ist.
Das Land legt Dir die Menschen in Falten wieder in die Hände. Die Menschen haben Arme wie Äste und gerade Knochen. Die Knochen sind dünne Stäbe, die Haut liegt in Falten wie eine Ziehharmonika drum herum und sie flattert im starken Luftzug an den gefalteten Körpern. Manches Mal fallen die Babys herunter und man hebt sie wieder auf und manches Mal fallen die Babys herunter und man muss sie nicht mehr aufheben ins Bett mit den blitzblauen Gitterstäben.
Wir essen Injera und haben einen sauren Mund, wir spielen Schattenspiele und Schach in der Dunkelheit, wir gehen mit Stirnlampen am Kopf auf die Toilette, wir duschen mit einer Taschenlampe in der Hand in einem grünen Eimer. Wir leben mit Gottesjüngerinnen in einem Raum und mit Kirchgängern in einem Hof und ich: habe hier noch nie gebetet.
Der Horizont ist pompös und der Himmel auch ohne Sonne so hell, dass es weh tut, der Schmerz liegt hier pathetisch auf der Welt an manchen Tagen und die Schönheit einzelner Gesichter ist so natürlich, wie die Natur schön ist. Die Wirklichkeit ist hier ein Problem. Heute Nacht: haben sie ein neues Baby in einem durchsichtigen Plastiksack gebracht.
Wir trinken schwarzen Tee in diesem schwarzen Land, auf den flachen Dächern spielen die Affen im Sonnenschein und für ein Bir kauft man hier: eine Schlange im Glas. Die Farben sind königlich und extravagant, klebrig auf der Straße und verwaschen im Regen und die Eidechse ist cremig blau und riesengroß auf den Mauern.
Heute: haben wir die Hosen enger genäht und mit der Messerspitze ein neues Loch in den Gürtel gestochen, weil meine Armeehose um die Hüften schlottert. Draußen ist eine Vogelspinne im Dunklen über die Füße gelaufen und sie ist schwarz gewesen wie die Wimpern der Kinder, voluminös und überraschend und die Krallen der Wachhunde schwärmen nachts über die Höfe und um Mitternacht werfen sie sich geifernd gegen die Türen. Die Fliegen sind da, aber die Fliegen summen nicht. Jeden zweiten Tag gibt es Strom. Man stößt mit dem Besen an die weißen zitternden Neonröhren und das Licht flimmert und zuckt und macht Kopfschmerzen hinter den Augen. Das Moskitonetz ist gleißend hell und die Feldbetten quietschen bei Tag und rascheln in der Nacht. Die überfahrenen Kröten und Schlangen sind auf die Straßen tätowiert und die Taxis haben keine Türen, aber manche haben weiße Plastikvorhänge und der Fahrer zwingt seine Gäste für ein besseres Angebot am Straßenrand auszusteigen, egal wo.

Auf den Plätzen der Krankenstationen. Die Säuglinge zerren an den Brüsten wie an einem stummen Tier, die Brust ist schwarz, die Tücher sind blitzblau wie der sporadische Strom, der nur manchmal aus der Steckdose kommt. Es ist unbearbeitete Nacktheit, ein roher Körper, eine schwarz gewobene Haut wie ein Teppich und die Babys ziehen an den Brüsten mit ungeschnittenen Nägeln. Die Gesichter der Mütter sind karg und mit dunklen Strichen und Punkten tätowiert und sie lächeln selten.
Die Menschen sind aus den Formen gelaufen, weil es keine Ordnung in der Welt gibt und die Krankheiten sind ausgeschwärmt und haben die Leben noch mehr durcheinander gebracht und Chaos als Struktur in die Körper gepflanzt. Die Menschen sind krank. Ein alter Mann verliert sein Bein, weil ihn eine Hyäne in den Fuß gebissen hat. Die Kinder sind zur Strafe an die Bettpfosten der Krankenbetten gebunden und starren auf die weißen Stoffwindeln, die um ihre Handgelenke gewunden sind. Die Augen: sind glasig und trotzig.
Es kracht in den Genicken, unter der Hand fühlt man verhärtetes Fleisch aus dem Rücken wachsen und die Exkremente liegen im Speichel der Tage. Die Behinderten leben in einer Ecke neben einem Hibiskusbaum und manches Mal drehen sie rote Blüten in den Händen. Die labyrinthischen Finger sind verwinkelt, die Männer liegen im Sonnenschein auf der Wiese und haben Brandwunden am Kopf, auf den Wäscheleinen hängen die weißen Stoffwindeln im Wind, und die Zikaden schreien, wenn die Essensglocke läutet. Die Wäsche: kocht in schwarzen Bottichen über dem Feuer und die Frauen rühren sie um wie die Suppen. Die Bottiche sind riesig und schwer. Viele haben Tuberkulose in der Lunge und der Atem ist laut. Beim Nägelschneiden: sind manche Hände an den Fingerspitzen verschimmelt und die Nägel fichtengrün und erhoben wie Berge. Es gibt Brandwunden und Wundbrände und einen Raum, wo man die Menschen verbrennt.
Hier schläft man neben dem blutigen hautlosen Schädel der Kuh, die gestern noch im Stall neben der Hütte gewohnt hat. Der Schädel ist groß und rot und staubig, in der Nacht haben die Hunde ein Auge gefressen und ihn vor die Tore gezerrt. Abends singen die Einheimischen Chambalala und ich trage Zöpfe wie Schlangen über die Haut gelegt und es fühlt sich an wie geflochtene Würmer. Der Kopf ist ein Wasserkopf ungenutzter Ideen, die Ideen verstreichen, wie die Minuten, und er beginnt sich nur langsam wieder ans Denken zu gewöhnen. Die ewiggleichen europäischen Gedanken und Entscheidungen sind längst: spiritueller Inzest. Zum Schluss: soll alles sinnvoll gewesen sein, eine einstimmige Biografie, nie ineffizient und nie geirrt, sodass die anderen einen dafür hätten lieben können.
Es ist der heiße Süden nahe der kenianischen Grenze, in dem die Erde dumpf dampft am Tag unter den Sohlen und die Berge blau sind und ein Scherenschnitt im Licht. Wir leben in einem äthiopischen Bordell und die Nutten sind hoch gewachsen und schwarz in der der Nacht. Das Moskitonetz ist babyblau und löchrig und die Kakerlaken unterwandern den Türspalt und sind saftig und fallen von Deinen Armen, wenn Du Dich umdrehst im Schlaf. Die Schreie gleichen einander, der erste Schrei am Tag klingt wie der letzte. Die Nutten tragen bunte Ringelpullover und glänzende Lackstiefel: wie auf die Beine gemalt.
Der heiße Süden. Krokodilmarkt. Die Krokodile treiben meterlang im Wasser und sind so lang, dass sie auf einem einzelnen Photo keinen Platz haben. Das Auge ist ein grüner Kern: anderswo stehen einem Möglichkeiten und hier die Mäuler der Krokodile offen. Es ist tropische Nostalgie. Auf den Straßen gibt es Kaffeezeremonien und Tote im roten Staub. Die Menschen, das sind: verknöcherte und verholzte Gesichter, steinerne Körper, radikal plastisch, Wunden einer schönen neuen Welt, von einer bleiernen Wirklichkeit: überwölbt. Armut ist eine zermürbende Kulisse. Und wenn man sie lange genug gesehen hat, kann man sie nicht mehr ernst nehmen, aber hoffen. Das Bordell, in dem wir leben: ist türkis.

 

Valerie Katrin G. Fritsch

Geboren 1989, absolvierte ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie, arbeitet als Photokünstlerin in Graz, studiert Jus und Germanistik, schreibt für den „Froschschenkel“ und „Globalview“, Minna Kautsky Prosa 2008, Mitglied der Grazer „plattform“, Literaturstipendium des Landes Steiermark. Den Sommer 2009 verbringt Valerie Katrin G. Fritsch in Äthiopien, arbeitet in einem Kinderkrankenhaus und verarbeitet die Reise zu einem Kunstprojekt. Ebenfalls 2009: 3. Preis der Akademie Graz. Valerie Katrin G. Fritsch lebt in Graz.
 

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