Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
„Die Nacht“; „Hundestadt“
Freitag, 16. Oktober 2009

Fiston Mwanza Mujila


1. Herrjemine! Sarkastische Bemerkungen, dazwischen Reifenquietschen, dazwischen Gewehrsalven, dazwischen Trommelwirbel, dazwischen Jubelrufe zeugten vom Ausmaß des Freudenfestes. Der Marktflecken glich Rimbauds „Trunkenem Schiff“, fanden einige. Auf der großen Place Flambeau durchschnitten die schiefen Klänge eines Saxophons die Nacht. Merkwürdige Nacht! [...]

Die Nacht … (La nuit …)


1. Herrjemine! Sarkastische Bemerkungen, dazwischen Reifenquietschen, dazwischen Gewehrsalven, dazwischen Trommelwirbel, dazwischen Jubelrufe zeugten vom Ausmaß des Freudenfestes. Der Marktflecken glich Rimbauds „Trunkenem Schiff“, fanden einige. Auf der großen Place Flambeau durchschnitten die schiefen Klänge eines Saxophons die Nacht. Merkwürdige Nacht! Voll bis zur Hutkrempe torkelte ein Mann um die Sechzig in eine Pfütze. Eine Horde Jugendlicher balgte sich um die sterbliche Hülle einer Fledermaus. Ein Schwächling verspeiste zum Abend eine Portion Hanf mit Wodka. Ein Pudel, dünn wie ein Samenfaden, bellte, dass ihm die Stimmbänder zu reißen drohten. Eine Soldateska raubte, Maschinenpistolen im Anschlag, eine arme Frau aus. Mit verdecktem Phallus war ein Alter drauf und dran, sein Verlangen über ein Mädchen auszugießen. Ein Betrunkener mit dem Gesicht eines Pithecanthropus erectus lag ausgestreckt auf der nackten Erde. Entsetzensschreie, der Grund: ein Paar Brüste, ein beglichener Streit zwischen der achten und der zwölften Straße. Zwei Straßenjungen aßen gierig einen Teller gerösteten Mais mit Wildpilzen. Daneben hielt ein Bettler mit knurrendem Magen seine Siesta. Ein Geistesgestörter rezitierte mit der Stimme eines Psittacus erithacus Vergil. Das Stöhnen einer liegenden Frau. Eine andere warf die Überreste eines verpfuschten Fötus von oben auf die Straße. Das Tanzlokal „Verpiss dich ….!“ mit seinen siebenundsiebzig Nutten, seinen akkreditierten Betrunkenen, seinen schwarzen Zigaretten, seinen Spielautomaten … Herrjemine!

2. 19 Uhr 43 … 20 Uhr 10 … 20 Uhr 22 … 21 Uhr 18 … 22 Uhr 36, nichts, bis auf das groteske Gebell eines jener Propheten, die einem mit der Kunde in den Ohren liegen, dass Christus, eben jener Jesus Christus, den wir nunmehr seit wer weiß wie vielen Jahren erwarten, in Harare lebte, und dass Josef, sein Vater, aus Mbanza Ngungu oder Rio de Janeiro stammte … […]

4.… In der Nähe der Pfarrei zur Heiligen Maria drückte sich ein Geschöpf herum. Die bauschige Haartracht, der Schlafzimmerblick, die halbnackten Brüste, die Pumps und der Ausschnitt mit den verheißungsvollen Rundungen verliehen dem geschmeidigen Katzengang etwas Göttliches. Keine Ahnung, wie lange sie schon da war und sich langweilte, auf wer weiß welchen Helden wartete. Sie führte Selbstgespräche. Rief sämtliche Gottheiten an. Summte eine alte Melodie. Und zog ab und zu einen kleinen Spiegel aus der Handtasche, um mit allem Zeremoniell Gesicht und Haare zu kontrollieren …
… Sie beschloss, zur Tat zu schreiten. Mit einem Lächeln auf den Lippen begann sie, sich an die Passanten heranzumachen. Doch, oh weh! die waren entweder betrunken oder gingen mit leeren Händen nach Hause oder wurden von anderen Brüsten begleitet oder waren von den Unbilden des Lebens überrollt worden oder hatten es eilig, zurückzukehren an den heimischen Herd, und gafften sie nur an, musterten sie voller Verachtung …

5. … Plötzlich steuerte ein Mann von stattlicher Größe, wie sie ihn vermutlich erwartete, direkt auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Er war kaum zu erkennen, denn sein Aufzug und die Nacht lagen Ton in Ton. 23 Uhr 2 … Er trug eine Lederjacke und eine dunkle Hose. An den Händen Handschuhe … Aus seinem mürrischen, runden Gesicht stiegen die Voluten einer offenbar ziemlich langen Zigarette auf. Vielleicht ein Militär, vielleicht ein Bandit mit einer Waffe im Schritt, vielleicht ein Totengräber, vielleicht ein …
… Minuten lang standen sie einander gegenüber und starrten sich an wie zwei Porzellanhunde. Der Mann rauche Kette. Und sie wiegte sich in den Hüften. … Er brach als erster die Stille und sagte mit poetischer Stimme:
- Mein Verlangen ist so weit wie das Rote Meer. Ich habe verdammte Lust mit dir zu schlafen, auf deinen Auberginebrüsten Gitarre zu spielen …
-Ich stehe dir ganz zur Verfügung, wenn dein Geldbeutel voll ist, erwiderte sie.

6. Automatisch ließ er ein paar Scheine in die Hand der jungen Frau gleiten – um sie billig abzuspeisen. Sie wollte den Betrag zurückweisen, doch der Mann, inzwischen bei seiner sechzehnten Zigarette, tat gleichgültig. Sie wusste genau, dass sie mehr wert war als … Strahlend, schön, attraktiv, sexy wie sie war … Aber zu allem Unglück peinigte sie das Bild ihres Vaters auf dem nackten Fußboden eines Krankenhauses am Platz. Unschlüssig gab sie ihm dennoch ein Zeichen mit dem Kopf.
 […]
8. … An einem kleinen Hotel mit schmutzigen Mauern blieben sie stehen. Zig Mädchen mit Brüsten wie Fleischtomaten, Haaren wie Steppenwald und Schenkeln wie Würsten watschelten dort auf  und ab, gingen rein und raus, tauschten Bettgeschichten aus, lauerten den Männern auf, tranken, probierten Tanzschritte, schminkten sich, stritten um einen potenziellen Kunden und machten sich halb zerzaust davon … Unangenehme Gerüche lagen dort in der Luft, Schreie, Flüche, Schüsse, das Geklimper eines verstimmten Klaviers, Schluchzer und Lacher, das Ganze unter der größten Gleichgültigkeit der Polizisten, die von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends dort aus und ein gingen und mit den Banditen, die nach dem Überfall einer Herberge, einer Bank, einer Kirche oder gar eine bescheidene Behausung zum Ausspannen kamen, eine Partie Bridge spielten, anstießen, das Tanzbein schwangen und Feuerwaffen tauschten, wohlgemerkt mit den unbequemen Gesetzeshüter, die im Namen der Freiheit oder der weltweiten Anerkennung der Rechte des Kindes in jenem Hotel andockten, um sich mit Geschöpfen im Alter ihrer Schwestern, ihrer Mütter und Großmütter ersten, zweiten und dritten Grades zu verlustieren …

9. Er rauchte immer noch … Was für ein Mann! Oh Gott, oh Gott! Ein echter Schlot …

10. … Sie stürmten wie die Husaren ins Haus, stiegen dann vier Stufen auf einmal nehmend nach oben … schlüpften in einen Flur, stießen dort mit Leuten zusammen, die wie sie … blieben vor einer Tür stehen … Er rauchte … gingen hinein … 23 Uhr Spermien …[…]

12. Er warf die Kippe auf den Boden und trat sie aus … das Radio grummelte … Sie entblößte sich … Er entblößte sich … Ehe sie noch damit fertig war, zog er sie heftig an sich – ihren Leib - und warf sie mit einem rauen Schrei auf das ärmliche Lager. Sie flehte, er möge respektvoll mit ihr umgehen. Doch er, taubstumm für ihre Moralpredigten, rauchte lässig …
… spürte den Schmutz, die Droge, den Alkohohl und gar den Hass. Fiel über die Ärmste her. Sie schlug um sich wie ein Teufel im Weihwasser … Doch der Mann war kräftig … Und, er hatte bezahlt. Welch ein Gewaltausbruch! Er brachte sie in eine merkwürdige Stellung, so dass sie sich nicht mehr rühren konnte … Er lachte höhnisch … Sie heulte …[…]

14. 24 Uhr Scheiße … Das Stöhnen des Mannes sprach vom Glück … Er hob und senkte sich, hob und senkte sich … Sie schrie aus Leibeskräften … Oh weh! Vertaner Atem … Ihr Jaulen ging im gemeinen Gegrummel des Kofferradios unter … Welch ein Verbrechen! Wie ein wildes Tier … biss er … ihre … Die Beißwut … Die Laken blutbeschmiert. Er küsste sie gierig … Er spielte Gitarre auf ihren Auberginenbrüsten … Saxophon auf ihren Lippen … spießte ihren Unterleib auf … spielte Akkordeon mit ihren Pobacken …
Er erhob sich, setzte die Wodkaflasche an und trank sie zur Hälfte leer, rauchte vier Zigaretten aufeinander und machte sich wieder an die Arbeit. Sie … wand sich vor Schmerz … er setzte sich, drehte sie um wie man die Zeitung umschlägt und grub sich in die Hügel, die Papierlosen verwehrt sind … Stunden des Leidens … Die Passion eines Mädchens in Geldnot … Das Elend eines Kontinents … Das Leiden eines Landes, vom Krieg entblößt, vergewaltigt, geplündert, verstümmelt, verprügelt, gefesselt und nach Golgatha verpflanzt und das heute, wenn es das Drecksmiauen hört …

15. Die Minuten verstrichen … Überbordend gingen ihm vor lauter Wollust auch die Lippen über und er redete Lateinisch, Jiddisch, Etruskisch, Englisch, Rumänisch, Polnisch …
… Nackt wie ein Wurm zog er sich zurück aus ihrem … zündete seine vielleicht achtzigste Zigarette an … die Voluten … zog sich hastig an, schaltete das Kofferradio aus, warf eine Flasche um und die Tür ins Schloss …

17. … Sie dämmerte vor sich hin, dachte an das gestrige Rendez-vous … Er musste wohl ein Professor für Scheißliteratur gewesen sein, jener andere Kerl … Als er sie nahm, stammelte er unentwegt Verse von André Breton … Die Literatur scheint wie ein Aphrodisiakum zu wirken … Fliegen werden zu Bananen, Rosinen Geschichten vom dreizehnten Monat.

18. Eineinviertel Stunden später erhob sich die junge Frau in ihrer Zelle, aufgelöst in Tränen, Schweiß, Blut und … beep … und Erbrochenem … versuchte sie torkelnd das Zimmer zu verlassen … brach zusammen … Stille.

19. Draußen die letzten Raufereien … Draußen diese beschissenen, auf eine Vergewaltigung scharfen Militärs … Draußen, die Dummheit … Draußen … das Gesetz … Draußen lädt uns das Läuten der Retter-Jesus-Kapelle zu Läuterung ein … Draußen die Schweine, die nassen Hühner, die Warzenschweine, die weißen Nashörner, die Zombies … Draußen die Götter, die uns schwer verdauliche Spermien und die Fetzen unseres kalandrierten Schicksals streitig machen …

 

 

Hundestadt … (Ville de chien)


Die Stadt ist ein Stift, der die Unfallsalven redigiert … ihre Schamlosigkeit legt die Sehnsüchte eines Drecksvolks auf Eis, eines Scheißvolks, eines Volkes aus Warzenschweinen, Blutsaugern und Asylbewerbern …
19 Uhr 10 …
19 Uhr 35 …
19 Uhr 57 …
19 Uhr 74 Komma 32 Jahre …
An der Kreuzung der Straßen Verpiss-Dich und Leck-mich-am-Arsch reißt ein wütendes Hunderudel seine Beute in Stücke …
In der Straße Halt’s-Maul schlagen sich ein Mann und eine Frau mit verbotenen Früchten den Bauch voll …
In der Straße Die-wilden-Tiere bellt ein bis zu den Zähnen bärtiger Prophet: Am Anfang war die Ruhr …
In der Straße Schnauze-sonst-gibt’s-was-in-die-Fresse erzählt ein Politiker stotternd eins seiner besten Märchen …
Die Revolution hat ihre Sandalen verloren …
Die Revolution hat sich im Datum vertan …
Die Revolution kann nicht mehr lesen und schreiben …
20 Uhr 46 Strophe 17 …
Der Regen …
Die überschwemmten Straßen …
Die Mitnehm-Baracken …
Eine Kirche umfunktioniert zur Disco …
Eine Disco umfunktioniert zum Internet-Café …
Ein Internet-Café umfunktioniert zur Apotheke …
Eine Apotheke umfunktioniert zur Buchhandlung …
Eine Buchhandlung umfunktioniert zum Bäckereimiederwarenfleischereibordellladen …
Die Bewohner der Stadt sind die Stadtbewohner …
Sie schleppen ihr unseliges Schicksal durch das Unwetter …
sagen Worte ohne Hirn und Barbecue …
Alte Karren durchstoßen die Schwärze …
Frauen mit Fleischtomatenbrüsten …
Männer bedeckt mit Schmach und Schande, Arbeitslose im Denken, in der Rede, im Handeln und Unterlassen,
Scheißkerle mit ihrem Flickwerk aus unorgiastischen Gebeten an höhere Gottheiten!
Marktschreier des Ausverkaufs …
Musiker aus Versehen …
Prostituierte und ihre Tarife …
Potenzielle Kunden des Verlangens im Zenith …
Onanierlust …
Elektrische Entladungen …
Katharsis …
Die Vögel zerstreuen die flüchtenden Propheten des siebzehnten Tages …
Häuser drängen sich aneinander, ohne einander zu gleichen …
Sammler ungewöhnlicher Getränke tänzeln vorbei …
Man betet Zaubereien herunter, als würde das zerfallende Afrika seine Zahnbürste verramschen …

Windmühlen. Ziegen. Nasse Hühner. Geile Soldaten. Ungereimtes Zeug. Ventilatoren. Lampions. Sich übertönende Musiken. Harte Blicke. Übelkeitserregende Gerüchte. Hohngelächter. Propheten aus den Hinterhöfen. Hingeschluderte Schicksale.
Wir, die Dreckskerle!
Nur Gott allein weiß, ob wir tatsächlich nach seinem Bild geschaffen sind … 
 

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