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Stadtentwicklung zwischen Graz und Istanbul |
Freitag, 18. Dezember 2009 | |
Eine Veranstaltung im Rahmen des Projektes istanbul metropolis – organisiert von der Akademie Graz, dem Literaturhaus und einer Reihe weiterer Veranstalter – ging der Frage nach: Was verbindet, was trennt die Megacity am Bosporus und die Mur-Metropole in städteplanerischer Hinsicht? Stadtforscher Orhan Esen aus Istanbul betonte einleitend, dass mit der Ausnahme von Westeuropa weltweit die Einführung des Privateigentums an Grund und Boden erst schrittweise ab dem 19. Jahrhundert erfolgte; vor dieser Folie sei die Entwicklung in Istanbul zu sehen. So schlug auch der erste Versuch einer „Haussmannisierung“ (einer Sanierung nach dem Vorbild des Pariser Empire-Präfekten Haussmann) Ende des 19. Jahrhunderts eher fehl. Erst die Sanierung nach dem ersten Masterplan in den Dreißigern – ein kemalistisches Projekt mit achtspurigen Straßen durch die Innenstadt, auf welchen Panzer paradieren konnten – änderte das Gesicht der Stadt nachhaltig. „Dann begann der Prozess der Aneignung des Landes um die Stadt herum“ – in den so genannten Gecekondus (wörtlich übersetzt: ,über Nacht‘ errichteten Bauten) wurden „illegal, aber nicht illegitim“ (Esen) in Eigenregie und mit Nachbarschaftshilfe Häuser errichtet, in denen die Zuwanderer aus den ländlichen Gegenden mit ihren Familien Unterschlupf fanden. Esen: „Die einzigen, die sich dagegen stellten, waren die Architekten und Stadtplaner, weil sie von diesem Prozess ausgeschlossen blieben.“ Ein Gesetz aus den sechziger Jahren ermöglichte schließlich die Legalisierung der Gecekondus. Kapitalistische Normalität kehrt ein. Parallel zu diesem Wildwuchs in der Peripherie kam es zur Zerstörung der historischen Altstadt durch völlig ungeregelte Bautätigkeit: „Zwischen 1965 und 1975 wurde die gesamte Baumasse der bis dahin urbanisierten Stadt abgerissen und überbaut“ – erst 1985 kamen die ersten Denkmalschutzgesetze heraus. Die Stadt explodierte zwischen 1960 und 1990 von 1,3 auf 9,5 Mio EinwohnerInnen. 2003, nach der Überwindung der damaligen Finanzkrise, kam es zur nächsten gravierenden Änderung: Erstmals – wohl auch aufgrund der Tatsache, dass sich nun breitere Schichten „richtige“ Wohnungen leisten können, schließlich beträgt das Wirtschaftswachstum in der Region Istanbul um die 14% p.a. – begannen große Baufirmen mit der massenhaften Errichtung von Wohnbauten, die Gecekondus wurden durch Nachverdichtung zu neuen Stadtvierteln, die ehemaligen Migranten zu neuen „Stadtvätern“, die in Wohnraum investieren, teilweise auch Mietshäuser errichten, „so ähneln die neuen Viertel immer stärker den alten bürgerlichen Bezirken.“ Heute, so Esen, ähnele die Situation jener in den westlichen Großstädten – Flächensanierungen würden umgesetzt, die Gentrifizierung der Stadt schreite voran. „Früher war die Stadtproduktion Aufgabe der migrantischen Haushalte, jetzt ist sie in den Händen des Großkapitals; die Stadtproduktion wird zur Hauptquelle der Kapitalakkumulation.“ Graz – eine gentrifizierte Stadt. Univ.-Prof.in Simone Hain vom Institut für Stadt- und Baugeschichte der TU Graz zog Parallelen zwischen Graz und Istanbul, auch hier habe die Stadtplanung im eigentlichen Sinn erst in den Sechzigern begonnen, die große Immobilienspekulation gebe es auch hier erst seit 10, 15 Jahren – und die Gentrifikationsgrenzen seien ebenso hart wie in mancher US-amerikanischen Stadt. Der Sozialpädagoge Joachim Hainzl vom Verein Xenos gab einen Überblick über die völlig unterschiedliche Entwicklung der Bezirke westlich und jener östlich der Mur – „im Grazer Westen wurde schon immer das angesiedelt, was die Bürger störte, das Pestlazarett, Irrenhäuser, Schlachthöfe, Leimsiedereien, Fäkalien wurden südlich der Bürgerviertel in die Mur gekippt; und natürlich fanden dort alle eine Heimstatt, die sich Wohnungen in den besseren Bezirken nicht leisten konnten“ – Juden und ausländische ArbeiterInnen. Ali Kürtgöz von der Grazer türkischen Gemeinde verlieh abschließend seiner Hoffnung Ausdruck, dass sich „in 30, 40 Jahren“ die Situation der MigrantInnen so weit an jene der übrigen GrazerInnen angleichen werde, dass sie auch in anderen Stadtvierteln heimisch werden könnten. | Christian Stenner
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