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„Die ganze Gesellschaft agiert mörderisch“ |
Freitag, 18. Dezember 2009 | |
Anlässlich der Tagung „Vergessen wir nicht die Psychoanalyse“, veranstaltet vom Grazer Arbeitskreis für Psychoanalyse am 13. und 14. November 2009, weilte der Autor Klaus Theweleit in Graz. Theweleit, Jg. 1942, Literaturwissenschafter und Kulturtheoretiker, wurde Ende der 70er Jahre mit seinem Werk „Männerphantasien. Eine Untersuchung des faschistischen Bewusstseins und der soldatischen Prägung des Ich“ bekannt. Johanna Muckenhuber führte mit ihm für KORSO ein Interview über die neue Rechte und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Flüchtlingselend. Steht hinter den sich häufenden rechtsradikalen Vorfällen und den ausländerInnenfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft eine neue Form eines autoritären oder faschistoiden Charakters? Nein, es gibt keinen neuen faschistischen Charakter, sondern eher eine generelle Gleichgültigkeit. Es gab eine Phase hochgepeitschter Ausländerfeindlichkeit, das ist jetzt aber wieder anders, das ist nicht mehr mehrheitsfähig. Die herrschende Ideologie ist heute eine Ideologie der Entpolitisierung. Aber es gibt natürlich auch eine genuine Fremdenfeindlichkeit großer Bevölkerungsgruppen. Die neue Rechte ist aber ganz anders, als die Rechte in der Zwischenkriegszeit war. Natürlich gibt es die Rechten und muss es die geben. Das steckt als Verhaltenspotenzial in unserer Gesellschaft drin: Die industrielle Produktion ist ja gewalttätig für viele. Für all jene, die meist zu unrecht rausfliegen oder auf andere Art benachteiligt sind. Wo soll die Wut denn bleiben, die muss sich ja ausdrücken im politischen Denken, schlichtweg als Fakt der Gewaltausübung von Gesellschaften gegen ihre Mitglieder. Weniger Rechtsextremismus gibt es nur in Ländern, wo es mehr Sozialkonsens gibt und keine so starke Selektion. In den meisten Industrienationen ist der Gedanke der Selektion aber sehr stark. Gehen wir einen Schritt weiter: Wie interpretieren sie den Umgang mit den Flüchtlingen an den Grenzen Europas? Also da geht es eindeutig um Selektion. Die Selektion läuft so, dass die Arbeitsfähigen rausgeholt werden. Das wird ja mit Hartz IV nur zugedeckt. Die Überflüssigen sollen raus. Das ist der Selektionsgedanke wie im Faschismus. Der Gedanke, es gibt auf dieser Erde zu viele Menschen. Und die Konsequenz ist, die Leute umzubringen. Das ist das Prinzip der Selektion, das ist ihre radikalste Form. Dieser faschistische Gedanke der Selektion, das ist ja eine in den Industrienationen dominante Konzeption. Sie lehnen die Vorstellung ab, dass es für alle reicht, dass wir uns um alle kümmern sollten und könnten. Und diesbezüglich besteht eine Kontinuität gegenüber den Ideen der Nazis. Den Flüchtlingen wird kein Humanitätsstatus zugestanden, das massenhafte Sterben wird abgespalten. Der Faschismus des europäischen Menschen passiert über Abspaltung. Das, was sein Wohlergehen stört, wird radikal abgespalten, kriegt keine psychische Repräsentanz. Die Personen funktionieren über Wahrnehmungszuwendung und Abspaltung. Dagegen, was die Menschen nicht wahrnehmen wollen, sind sie absolut stumpf und kalt. Kann die Psychoanalyse etwas gegen diese Situation tun? Die Psychoanalyse könnte eine Menge dagegen tun – wenn die Psychoanalytiker nicht aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden wären. Das liegt daran, dass die Abspaltung als individuelle Pathologie wahrgenommen wird, aber nicht als genereller Zustand. Sonst könnte man thematisieren, dass die ganze Gesellschaft abspaltet und damit mörderisch agiert. Man müsste die Trennung zwischen Individual- und Sozialpsychologie aufgeben. Was man in den Individuen entdeckt, ist genauso auf institutionelle Verhältnisse und auf größere Gruppen anwendbar. Es fehlt leider so etwas wie eine Psychoanalyse der Gesellschaft.
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