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Solidarische Ökonomie: „Das richtige Leben im Falschen“
Mittwoch, 18. November 2009
Andreas Exner und Kristina Bayer kämpfen für ein gerechteres Wirtschaften mithilfe der Solidarischen Ökonomie. Gregor I. Stuhlpfarrer fragte für KORSO nach.

Was verbirgt sich hinter dem Terminus Solidarische Ökonomie?
Kristina Bayer: Solidarische Ökonomie beschreibt eine Wirtschaftsform, die gemeinschaftlich funktioniert und das Ziel hat, nachhaltige Produktions- und Konsummuster inmitten der bestehenden Verhältnisse zu schaffen. Es geht dabei um Konzepte, in denen Menschen  gemeinsame(Teil-)Einkommen erwirtschaften, die dann auch gemeinschaftlich verteilt werden. Das kann in einer Kommune der Fall sein, das kann aber auch ein Betrieb sein, der zur wirtschaftlichen Selbsthilfe gegründet wurde oder eine Fabrik, die durch Selbstverwaltung vor Insolvenz geschützt wurde. So schließen sich beispielsweise Frauen einer Favela in Brasilien in einer selbstverwalteten Fabrik-Kooperative zusammen, um ihren Lebensunterhalt gemeinschaftlich zu sichern. Eine andere Form ist die „Gratis-Ökonomie“ – also ein gemeinschaftliches Wirtschaften ohne Geldflüsse, das ist zum Beispiel bei Tausch- oder Wissensbörsen der Fall. Durch das Nutzen unterschiedlicher Ökonomien kann für die Beteiligten die  übliche Aufteilung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit wegfallen. Der Anteil der reproduktiven Arbeit, wie der gesamte ‚Haushaltsbereich’ oder die Kindererziehung, beträgt weltweit rund zwei Drittel und wird in erster Linie unbezahlt von Frauen getätigt. In Experimenten der Solidarischen Ökonomie wird versucht, dieses Muster zu durchbrechen, indem diese Tätigkeiten gleichgestellt werden. Sprich, wenn jemand arbeiten geht und damit Geld verdient, ist er oder sie jenen gleichgestellt, die das Mittagessen kochen und mit den Kindern die Hausaufgaben machen. Solidarische Ökonomie versucht, das kapitalistische System punktuell zu durchbrechen und zu verändern, sie ist sozusagen ‚das richtige Leben im Falschen’.  

Welche Projekte werden derzeit in Österreich umgesetzt?
Andreas Exner: Die Motivation ist für die Solidarische Ökonomie wichtig. In meinem Fall geht es um eine grundsätzliche Kapitalismuskritik und den Wunsch nach praktischen Veränderungen der herrschenden Arbeitsverhältnisse. Das ist der Hintergrund dafür, dass wir vor vier Jahren in Wien den ersten Kost-Nix-Laden in Österreich eröffnet haben. Dahinter steht der Gedanke, das kapitalistische Grundprinzip zu hinterfragen und erlebbar zu machen und, entgegen dem System, ein freies Geben und Nehmen der Güter zu praktizieren. Man kann Güter, die in einem guten Zustand sind, in den Kost-Nix-Laden bringen, andere können die dann mitnehmen. Viele glauben aufgrund des verinnerlichten Marktzwangs, sie müssten im Kost-Nix-Laden etwas Äquivalentes zurücklassen, wenn sie etwas mitnehmen. Das ist bezeichnend und der Kost-Nix-Laden will solche Einstellungen verändern.
Ein weiteres Beispiel ist ‚urban gardening’, das sind städtische Gemeinschaftsgärten. Man gärtnert gemeinsam mit dem Anspruch, Entscheidungen gemeinsam und auf gleicher Augenhöhe zu treffen, ohne Vermarktungszwang. Solche Aktivitäten gibt es auch in Graz.      

Haben die Aktivitäten der Solidarischen Ökonomie den Anspruch, die kapitalistische Marktordnung auszuschalten?
Kristina Bayer: Es gibt eine unglaubliche Vielfalt der Formen in den Projekten, und es geht gerade jetzt – angesichts der globalen Krise – darum, eine gemeinsame Strategie zu formulieren. Wir möchten Solidarische Ökonomie als eine umfassende Antwort und Alternative zum derzeitigen System attraktiv machen und offensiv in die Debatte einbringen.

Andreas Exner: Ich glaube, wir müssen schauen, wo es Ansatzpunkte im Hier und Jetzt gibt. Alles in allem muss man aber sagen, dass es gesamtgesellschaftlich gesehen sehr oft auch gar keine Perspektive gibt, die vorsieht, die kapitalistische Marktordnung global zu bekämpfen. Ich denke, es gilt den Widerspruch zum Kapitalismus, der eigentlich allen Projekten der solidarischen Ökonomie gemein ist, zu verstärken. Aus meiner Sicht gibt es hierbei drei Ansatzpunkte: Erstens muss die Lohnarbeit, also die Aufspaltung zwischen Kapital und Arbeit infrage gestellt werden, zweitens sollten Marktbeziehungen zurückgedrängt werden, weil sie einer Kooperation entgegen stehen. Als dritten wesentlichen Punkt sollte man den Staat nicht mehr als primären Adressaten für Veränderungen sehen, vielmehr sollten ganz konkrete Veränderungen in der alltäglichen Arbeitswelt angezielt werden. Man sollte sich auch nicht von Arbeitskämpfen und gewerkschaftlicher Organisierung zurückziehen, wenngleich diese natürlich auch viele Schwächen aufweisen. Was kann das heißen? Zum Beispiel: Wenn Betriebe insolvent werden, könnten MitarbeiterInnen diese Betriebe übernehmen. Das alles sind Elemente einer globalen Perspektive Solidarischer Ökonomie.     

Ein Jahr nach dem Crash der Finanzmärkte und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise orientiert sich die Wirtschaftsordnung an alten Parametern. Gehört alternativen Formen des Wirtschaftens trotzdem die Zukunft?
Andreas Exner: Zur Weltwirtschaftskrise kommt ja noch die Klimakrise und die sich bereits anbahnende Energiekrise. Diese Zeit ist auch für uns eine große Chance, um Weichenstellungen vorzunehmen. Wir glauben schon, dass alternatives Wirtschaften gerade jetzt an Attraktivität gewinnen wird.

Kristina Bayer: Es gibt einen strukturellen Zusammenhang zwischen Krisen und alternativen Bewegungen. Das hat man in Deutschland während der Krise des kapitalistischen Systems in den 1970er Jahren gesehenen, als sich als Reaktion darauf viele Arbeitskollektive und alternative Lebensgemeinschaften zusammengefunden haben. Die Erfahrung zeigt auch, dass diese Prozesse zyklisch verlaufen: Wenn sich das System wieder erholt, dann nimmt die Attraktivität alternativer Ökonomien wieder ab. Vor diesem Hintergrund muss man sagen: Die Zeit arbeitet für uns.

Anreas Exner: Die Krise in Argentinien 2000/2001 hat schon gezeigt, dass eigentlich völlig unerwartet in einem durch und durch neoliberalen System auch sehr viel Gutes passieren kann und Menschen beginnen anders zu wirtschaften.

 

Kristina Bayer

Die Sozialwissenschaftlerin und Beraterin studierte an Hochschulen in Berlin, Heidelberg und São Paulo und promoviert derzeit an der Universität Kassel zum Thema „Beratung für Nachhaltiges Wirtschaften“. Seit 1989 beteiligt sie sich regelmäßig an Projekten in Brasilien, sowie ab Mitte der 1990er-Jahre an verschiedenen selbstverwalteten Initiativen in Berlin. 2007 gründete Bayer gemeinsam mit KollegInnen an der Universität Kassel den Verein zur Förderung der Solidarischen Ökonomie und das Regionale Nachhaltigkeitsforum Nordhessen. Dort ist sie derzeit als Beraterin für Solidarisches Wirtschaften tätig.
 

Andreas Exner

Der Vegetationsökologe forschte mehrere Jahre an der Universität Wien und wurde politisch in der Umweltbewegung sozialisiert. Er engagierte sich unter anderem bei Attac. Exner ist Redakteur der Zeitschrift „Streifzüge“ und als Arbeiterkammer-Rat in Kärnten tätig. Seine derzeitigen Tätigkeitsschwerpunkte sind Kapitalismustheorie und -kritik, Solidarische Ökonomie, Commons und Umwelt. Publikationen: 2007, „Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit“, gemeinsam mit Werner Rätz und Birgit Zenker (Deuticke Verlag), 2008, „Die Grenzen des Kapitalismus. Wie wir am Wachstum scheitern“, zusammen mit Christian Lauk und Konstantin Kulterer (Ueberreuter). 

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