Willi Hengstler über die Theaterproduktionen des diesjährigen steirischen herbst Void Story“ von Forced Entertainment erzählt die Geschichte von Hänsel und Gretel, die durch eine böse, bodenlos-dunkle Welt fliehen, in der nur eines sicher ist: dass es immer noch einen nächsten Schrecken gibt. Wie alle Alpträume setzt sich „Void Story“ aus den unterschiedlichsten Elementen der Tagwelt zusammen. Das fotografierte Fluchtpaar ist realistisch bis auf den Umstand, dass es Schussverletzungen, Beinbrüche und abgrundtiefe Stürze folgenlos überlebt.
Dagegen besteht seine Umwelt aus einem gezeichneten Horror-Comic, der alle denkbaren Pulp-Motive aneinander reiht. Und der Live-Soundtrack zu diesem düsteren, ironischen Roadmovie kommt von Tim Etchells vier „Forced Entertainment“-Mitstreitern, die im Dämmerlicht an ihren Pulten ein Hörspiel zum Zusehen realisieren…tolle Arbeit, allerdings mit dem Mangel, dass, anders als sein dramaturgisch glücklicheres Kinderstück „The Night, that Follows Day“ 2007 im steirischen herbst, jede Entwicklung ausbleibt.
Yo en el futuro. Eine Super-8-Dokumentation und deren Video-Remakes, Erwachsene, die als Kinder gefilmt wurden, und nun neben anderen Kindern auftreten, von denen sie gedoubelt werden; greise Menschen, die damals als Elternteil gefilmt wurden und irgendwann alles gleichzeitig neben- und übereinander: Auch „Yo en el futoro“ des Argentiniers Federico Leon mischt Realitätsebenen und künstlerische Techniken. Diesmal, um das Verhältnis von Theater und Film zu beschwören. In einer sehr gediegenen Inszenierung, begleitet mit Chopinmusik, dargeboten von greisen Klavierspielerinnen, wird wieder einmal nach Prousts verlorener Zeit der Kindheit geforscht. Aber der Widerwille kleiner Jungs gegen Küsse und Ähnliches reicht als Regieeinfall nicht aus, um aus der Veranstaltung mehr als ein sehr aufwändiges Zitat zu einem klassischen Thema zu machen.
Mi Vida Después. Während der Argentinier Federico Leon zu wenig Lebenskonkreta bietet, bordet das zeitgeschichtsträchtige Dokumentartheater seiner Landsmännin Lola Arias vor Einfällen schon beinahe über. Ihre Schauspieler, Frauen und Männer um die dreißig, versichern sich an Hand ihres „Erinnerungsmüll“ der politischen Geschichte Argentiniens, die mit ihrer eigenen untrennbar verbunden ist. Fotos, Briefe, Tonbandkassetten sind die Angelhaken, an denen Erinnerungen an die Väter – Geheimdienstler, politische Aktivisten oder abtrünnige Priester –in die Gegenwart herauf geholt werden. Haare, die revolutionär vor einem Ventilator wehen, ein Identität stiftender Gouchotanz, ekstatisches Getrommel für Revolution oder ein Meerschwein, mit dem die politische Zukunft Argentiniens prophezeit wird – Lola Arias Theater ist bei aller Politik sinnlich und nah am Alltag. Man macht besser keine Prophezeiungen, schon gar nicht über die Zukunft, aber die Regisseurin hat sich gegenüber „Love is a Sniper“ im steirischen herbst 2007 enorm gesteigert.
Berlin (B) Moskau. Anschließend an Lola Arias leidenschaftliche Theaterarbeit zeigte die Gruppe „Berlin (B)“ mit „Moskau“ eine Dokumentation über die gleichnamige Stadt, in der politisch auch nicht alles zum Besten steht. Warum die zugegeben gute Dokumentation aber mit enormem Aufwand projiziert wird, bleibt unklar. Das rote Plastikzelt im Volksgarten als Verweis auf den russischen Staatszirkus als Leitmotiv mag hingehen, aber Live-Filmmusik (zugegeben sehr schön) gibt es seit 100 Jahren und Splitscreens (hier 7 verschiedene Bildschirme) sind seit der Expo in Montreal 1967 und 1967 Norman Jewisons „Die Thomas Crown Affäre“ ein beliebter filmischer Gag. Einen magischen Augenblick gab es allerdings, als die Bilder bzw. Bildschirme zu schweben, zu fliegen, beinahe zu tanzen begannen. Immerhin. Aber letztlich verzichtete man auf eine Präzisierung dieser wirklich neuartigen Bilderchoreografie. Lingering of an earlier event. Neben den anderen medienverliebten Arbeiten sticht das Tanztheater der „Impure Company“ des in Norwegen arbeitenden Iraners Hooman Sharif als Fremdkörper heraus. „Lingering of an earlier event“ beginnt mit „Erinnerungen an die Menschheit“, mit gesichtslosen, vorsintflutlichen Wesen, Flossen und Schwimmbewegungen, dem blinden Erfahren des eigenen und fremden Körpers und Lebensraumes. Videokameras am Plafond generieren ein atmendes Bühnenbild, das nur gelegentlich in den Vordergrund tritt, etwa am Schluss, wenn die Tänzer, nackt auf dem Boden liegend ihren Gesang anstimmen. Ansonsten keine Musik bis auf eine Sequenz, die dann aber bis zur Unerträglichkeit laut gesteigert wird. An Stelle von Sprache Atemgeräusche, Keuchen, Schnauben, Tierlaute, einmal ein lang angehaltener, kollektiver Urschrei. Hooman Sharif erinnert mit archaischen Einfachheit und Ökonomie beeindruckend an die klassische Moderne. Zugleich lässt sie das aber – insbesondere für ein jüngeres Publikum – „uncool“, beinah altmodisch wirken. Jedenfalls einer der geheimen Höhepunkte des herbstes. Der nächste „herbst“ kommt jedenfalls bestimmt. Rund 46.000 Besucher, das 15-fache an Zugriffen auf die Website, eine Gesamtauslastung von 92%, 222 Einzelveranstaltungen, 182 akkreditierte Journalisten, mehr als 600 der üblichen Verdächtigen aus 37 Nationen: KünstlerInnen, TheoretikerInnen und sonstige Beteiligte… Und das alles unter dem Motto: „All the Same – Was gilt wenn alles gleich und gültig ist“. Statistik und Legitimation stimmen, auch die programmatische Publikation „Theorie zur Praxis“. Aber war es das schon? Eine Antwort auf das herbst-Motto 2009 steht noch aus. Das Vielspartenfestival, das gegen die flüchtige Aufmerksamkeit und das knappe Zeitbudget seiner Klientel arbeitet, müsste Ballast abwerfen. Kunsthaus, Camera Austria und andere brauchen das Festival eigentlich nicht mehr. Bezeichnenderweise fand die interessanteste Ausstellung des Herbstes, „Der diskrete Charme der Technologie“, auch nicht im steirischen herbst, sondern in der Neuen Galerie statt. Das Minimalengagement für Literatur entspricht dagegen weder der historischen Bedeutung noch der in Graz augenblicklich herrschenden literarischen Virulenz. Die Theaterproduktionen haben durchwegs hohe Qualität, auch wenn sie an eine Miniversion der Wiener Festwochen erinnern. Vielleicht läge eine Lösung in mehr einheimischer Frischkost statt ausländischen Importen, in bescheideneren und riskanteren Eigenproduktionen statt Einkäufen und Co-Produktionen, so gut sie auch sein mögen. | Willi Hengstler
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