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Willi Hengstler: Take Your Picture in Peru
Donnerstag, 17. September 2009
Noch von unterwegs einen Reisebericht zu schicken, ist gar nicht leicht. Wie das Pittoreske vom Substantiellen aus der zeitlichen Nähe unterscheiden? Das letzte Konkrete – die Fahrt mit der Eduardo VIII erst den Rio Ucayali hinunter, dann nach dem Zusammenfluss mit dem Rio Maranon den Amazonas hinab nach Iquitos, ist im Zweifelsfall immer auch das Sicherste. Das Leben – oder der Text – ist, wie der Hollywoodfilm sagt, ein langer, ruhiger Fluss, eine Reise, womöglich eine Wallfahrt.
Man muss Machu Picchu nicht gesehen haben, um Peru zu verstehen. Aber als touristisches Paradigma eignet sich Machu Picchu ganz gut. Die schon nach hundert Jahren von den Bewohnern verlassene und lange vergessene Stadt wird angeblich durch die jährlich über eine halbe Million Besucher ernstlich gefährdet. Was weder der Dschungel noch die Konquistadoren geschafft haben, gelingt dem Tourismus.
Im warmen Norden Perus, in Chachpoyas, wo mich meine sprachkundige Begleiterin verlassen musste und mich der Fürsorge des Guides Victor empfahl, wird versucht, aus Kuelap, der Bergfestung der geheimnisvollen Chachapoyas (Nebelkrieger), ein zweites Machu Picchu zu machen. Leider lassen sich touristische Firstclass-Destinationen oder Wallfahrtsorte nicht beliebig vermehren oder vergrößern. Machu Picchu ist der einzige Ort, an dem der Fußgeher sich beim Blick auf die Berge gegenüber und hinab in das Tal des Rio Urubamba fühlt wie auf einem Hubschrauberflug.

Die Fernreise als religiöses Phänomen. Auf der offiziellen Karte von PromPeru, der staatlichen Touristenorganisation, kauert ein Pärchen auf der Plattform des Königspalastes von Machu Picchu, nicht um hinab auf Machu Picchu, sondern um hinauf zum Fotografen zu blicken, für den es posiert. Dieses Inbild wird unaufhörlich begleitet von der rituellen Beschwörungsformel der Guides „Take Your Picture“, „Take Your Picture“ … Was zwingt uns, für die kostbarsten Tage des Jahres beschwerliche Transporte, gefährliches Essen, schlechte Nachtlager und die Aufdringlichkeit der Guides zu erdulden? Handeln wir aus Selbstverpflichtung, Abenteuerlust, Statusgewinn, oder um aus den Normen auszubrechen? Werden wir deshalb für die wenigen Wochen zu Gotikspezialisten, Conaisseure von Palladiovillen oder Experten präkolumbianischer Kunst? Oder handelt es sich womöglich um ein religiöses Phänomen? Sind all die Beschwernisse eine Buße, die Eintrittsgelder Spenden, die Guides niedrige Geistliche und ihr gleichförmiger Sermon eine Messe? Aber während die Kirche eine Veranstaltung um des Transzendenten willen ist, zielt der Tourismus auf weltlichen Profit. Und der Tourist hat seine Sache vielmehr auf einen innerweltlichen Narzissmus, nicht aufs Transzendente gestellt. Die Aufforderung der Guides „Take Your Picture“ leitet seine „Wandlung“ ein. Er komplettiert seine Welt, setzt sie gleichsam zusammen, indem er das eigene (Eben-)Bild in sie einfügt. Seine Schöpfung wird erst komplett, wenn er sie mit der Fotografie von sich anreichert. Comprende? Take Your Picture!
Victor war ebenfalls ein Guide, ein Spezialist für den Inka-Trail, der nun selber im Norden als Tourist unterwegs war, um sich ein neues Gebiet anzueignen. Er fragte und lachte viel und besuchte schon morgens um sechs Uhr die Märkte, um sich über die Preise zu informieren. Wo immer wir einkehrten, versuchte er, Geschäftsbeziehungen zu den Wirtsleuten aufzubauen. Das erste Jahr als Guide hätte er ganz wenig verdient, aber danach wurde es besser, weil er nur jene Geschäfte, Betriebe oder Gasthäuser mit seiner Gruppe aufsuchte, die ihm Prozente gaben. Victor, der verarmte Erbe eines Hacienderos im Süden von Lima, dessen Besitz sich durch zu viele Erben aufgelöst hatte, war immerhin ein Buddhist, ein Anhänger des Mahayana, des Großen Fahrzeugs, wie er mir später erklärte. Er besaß zwei Handys und jedes Mal wenn er sie oder seine Geldbörse suchte, kramte er hektisch in seinem würfelförmigen Leinenköfferchen. Gerade diese Unordnung verhindere den gezielten Griff des Taschendiebes.

Tauschmittel der Inkas: Arbeit. Es geht hier nicht um eine Schelte der Guides oder des Tourismus. Bei der Arbeitslosenrate Perus ist selbst der schlecht bezahlte Job eines Guides noch eine Chance. Ich hätte mich, wäre nur genügend Zeit gewesen, glatt in eine Quechuaführerin verliebt. Sie hieß Inti und war in diesem unnachahmlichen Stil der Achtziger gekleidet, die Peru modisch und musikalisch fest im Griff haben. Ihre  Aufmachung – malvenfarbene Bluse mit rotem Blütenmuster, schwarze Weste, ausgestellte, braune Hosen und braune Schuhe – demonstrierten die Vergeblichkeit, mit ärmlicher Sorgfalt Eleganz zu erzielen. Aber ihr Lächeln entblößte makellose Zähne, so dicht gefügt wie die Inkamauern von Cuzco.
Inti führte uns durch das Sagrada Valley bei Cuzco – erst nach Pisac, wo die Inkas Terrassen auf bis über 3000 Meter anlegten, auf denen sie in unterschiedlichen Klimazonen Mais, Getreide und ihre 300 Kartoffelsorten anbauten, dann nach Ollantayambo, der Festung mit dem unvollendetem Tempel und zuletzt, als es schon fast dunkel war, nach Chinchero. Sie fühlte sich als Nachfahrin der Inkas, an denen sie ihre Kraft, Gesundheit und ihr Wissen um die Natur hervorhob. Während für die Moderne das Herrschaftswissen dem Naturverständnis meist geradezu entgegengesetzt ist, instrumentierten die Inkas ihr Naturwissen für die Herrschaft. Gleichzeitig war da bei Inti, wie bei allen indigenen Guides, neben dem Stolz immer auch ein Verlustgefühl spürbar, ein Groll darüber, dass selbst die Nachfahren an ihrem einst geraubten Erbe immer noch wenig verdienten, und die Nachfahren der Konquistadoren oder überhaupt die Ausländer dagegen die guten Geschäfte machten. Wenn Inti erklärte, wie ihre Vorfahren die Steine bearbeiteten, indem sie mit anderen Steinen Löcher in sie bohrten, die sie dann mit Holz und Wasser füllten, wenn sie beschrieb, wie die Inkas ihre viele Tonnen schweren Granitblöcke ohne Rad über Rollen und schiefe Ebenen beförderten, so erinnerte ich mich der Quechuas unten in Aguas Calientes, am Fuss von Machu Picchu, die immer noch die Steine bearbeiteten, wenn auch mit Metallbohrern, und immer noch Lasten zogen, wenn auch auf luftgefüllten Gummirädern.
Die Arbeiten an diesen Bauten, die stets auch einen religiösen Charakter hatten, waren zugleich religiöser Dienst und Steuerleistung. Ähnlich wie Jantzen in seinem Buch über die praktisch zeitgleich entstandenen gotischen Kathedralen schreibt, feierten die Arbeiter (Inkas und Lehenspflichtige) am Abend bei fröhlich lodernden Feuern ihre Tätigkeit. Ich habe da ehrlich gesagt meine Zweifel … Anders als die Europäer entwickelten die Inka jedenfalls nie einen Geldkreislauf und kannten – nach Inti – auch keine Sklaven. In dieser gleichsam sozialistischen, jedenfalls planwirtschaftlichen Theokratie war das Tauschmittel des Überlebens einfach die menschliche Arbeit.

Von Chachapoyas nach Yurimaguas. Von Chachapoyas fuhren Victor und ich über Tarapoto die Anden hinab ins Amazonasbecken. Mit Victor war alles eine Zeitlang erheblich billiger, allerdings kam er öfter in die Klemme zwischen den beiden Ökonomien: Der Armutsökonomie und jener des Überflusses. „Wie kommst du zu diesem Amigo“, wurde er öfter gefragt. Und soweit ich verstand, sagte er: „Der kann kein Spanisch und schaut so hilflos aus ...“ In Tarapoto wollte er mich in den Bus nach Yurimaguas setzen, von wo ich dann den Rio Ucayali hinabfahren würde. Zuvor machten wir noch einen Abstecher in die 50 Kilometer entfernte „Laguna Azul“, wirklich sehr schön, eine einzige Inszenierung von Gauguins Südseeparadiesen mit weißen Pferden unter Palmen neben dem Wasser. Noch beeindruckender war unterwegs eine große Müllhalde, auf der sich vielleicht zwanzig Gestrandete mit einem gewaltigen Schwarm scharzer Vögel ohne Streit ums Überleben bemühten.
Viktor fuhr dann doch noch mit bis Yurimaguas und brachte mich an Bord. Passage und Mahlzeiten für die zweieinhalb, drei Tage nach Iquitos kosteten am unteren Deck 35, am oberen 120 Nuevo Soles (10 bzw. 40 Euro großzügig gerechnet). Oben waren wir acht Passagiere, unten an die siebzig. Alle anderen Informationen stellten sich als falsch heraus. Ich konnte nicht, wie empfohlen, bei dem an seinen Tressen erkennbaren Kapitän zahlen (seine Uniform legte er erst an, als wir in Iquitos einliefen), sondern musste mit einem Mädchen als Zahlmeisterin vorlieb nehmen. Meine neun Liter Wasser, all das Essen und die Früchte hätte ich nicht gebraucht, weil das Essen zwar einfach, aber vorzüglich und und gar nicht fett war. Sogar am Schlafen in den Hängematten gewann ich immer mehr Gefallen. Ich war nämlich bei der Fahrt von Nasca nach Cusco im Oberstock des Busses durch die widerstandslos aufspringende Klotür geknallt, dann gleich einer stark verformten Kanonenkugel quer durch die Breite des schlingernden Busses geschossen und schließlich, die Stewardess mit ihrem Tablett heißen Mate-Koka glücklicherweise verfehlend, in die Wand gegenüber eingeschlagen. Ich war zwar auf den Beinen, bevor die hin- und herschlagende Tür wieder in ihr Schloss fiel, und da machte sich mein geprelltes Steißbein bemerkbar, immer stärker die restlichen Stunden bis Cusco, und hörte auch danach lange nicht auf.

Odyssee nach Iquitos. Das fest gezimmerte Bett ist eine ziemlich private, der Regeneration der Arbeitskraft und den Übungen zur Vermehrung dienende Angelegenheit. Die Hängematte ist spielerischer und sozialer. Sogar das Ehepaar neben mir (er ein Polizist mit einem sehr schönen Smith & Wesson-Klappmesser, womöglich ein Folterknecht?) stößt sich gegenseitig an. Die jüngeren Crewmitglieder legen sich im Vorbeilaufen schon mal zu einem anderen dazu, und vor dem Einschlafen schwingen alle im Takt und Lachen. Als in Nauta die Hälfte ausssteigt, um die 80 Kilometer nach Iquitos schneller auf dem Landweg zurückzulegen, bin ich durch die ganze Länge des Decks von den anderen vieren entfernt. Senor Cuva, der Augenarzt will mich nicht da allein liegen lassen und befestigt meine Hängematte inmitten der anderen … Die Gruppe reist im Auftrag der Caritas durch ganz Peru und versorgt die Sehschwachen. Ich bedaure es glatt, niemals Gelegenheit gehabt zu haben, mit einer Frau in der Hängematte zu schlafen.
Das neue Schiff, die Eduardo VIII, Stolz der Flotte, war einfach zu groß für den Oberlauf des Flusses. Schon während der ersten Nacht beunruhigte mich das Mahlen, das Aufheulen der Maschinen, und der Gestank nach Diesel, mit denen die Offiziere versuchten, die Eduardo wieder stromaufwärts zu bringen, um dann den Angaben der Lotsen folgend, die sie auf schwalbengleichen, flinken Booten umkreisten, doch die Fahrrinnen zu finden.In Werner Herzogs Film lässt Fitzcaraldo gegen jede Vernunft ein Schiff über den Berg schleppen. Unser Kapitän oder seine Gesellschaft bestanden darauf, die viel zu große Eduardo VIII den Fluss hinabzubringen. Während der Nacht, nach lang dahinheulenden Motoren, einem üblen Gestank nach Diesel und Vibrationen, die das Geschirr in der Messe zum Klirren brachten, steckten wir schließlich um ein Uhr fest. Morgens wurde das Schiff dann von Experten auf wundersame Weise wieder flott gemacht. Aber bald klang es wieder, als bohrte sich die Eduardo durch das Flussbett, statt durch das Wasser zu gleiten, und wenn dazu wieder einer dieser tropischen Regengüsse herabrauschte, wurde ihr Stampfen unheimlich.
Die dann heruntergelassenen Planen verwandelten das Deck in einen blauen Salon, das Rauschen des Unwetters bildete geradezu einen Schutzraum, der jede andere Aktivität ausschloss. Man wünschte sich, dass dieser Zustand verantwortungsloser Passivität anhielte, und sein Ende, das unvermittelte Aufblitzen der Sonne zwischen den Wolken, erzeugte dann ein Bedauern. Am Nachmittag des zweiten Tages fiel das Steuerruder aus und musste von einem entgegenkommenden Schiff, das zufällig einen Caterpillar an Bord hatte, mit dessen Schaufel geborgen werden. Da lagen wir dann, den Moskitos ohne Fahrtwind ausgeliefert, bis uns das nächste Schiff überholte, um seitlich anzudocken. Die Eduardo VIII und die Eduardo IV wurden mit Stahltrossen miteinander vertäut, dann zogen die einförmigen Dschungelufer zum Klang der immer wieder aufheulenden Maschinen wieder vorbei. Zwei Tage später liefen wir in Iquitos ein, die Fahrt hatte 5 an Stelle der geplanten 2 1/2 Tage gedauert. Wie schon in Yurimaguas und unterwegs war auch hier der Hafen eine morastige Böschung, voll mit verfaultem Bambus, Unrat und schmatzendem Lachen. Schlimm, aber nicht so schlimm wie in Belem, dem Slum, der ganz fälschlich mit Venedig verglichen wird.
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