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„Sie schossen auf alles, was sich bewegte“
Donnerstag, 17. September 2009
Ignacio Perez Luna hat das Massaker von Acteal am 22. Dezember 1997 als Achtjähriger überlebt, doch Vater und Bruder verloren. Im Alter von zwölf Jahren verließ er sein Heimatdorf. Mit dem heute 21-Jährigen sprach Samuel Stuhlpfarrer in San Cristóbal de las Casas (Chiapas).
Der Oberste Gerichtshof von Mexiko-Stadt hat jetzt 20 der Mörder vorzeitig aus der Haft entlassen, die vor zwölf Jahren 45 Angehörige des Tzotzilen-Stammes umgebracht haben. Können Sie sich einen Reim auf diese Entscheidung machen?
Offenbar sind die Richter der Auffassung, dass die Männer unschuldig sind. Oder aber sie gehen davon aus, dass das, was sie taten, keine Strafe wert ist. Dazu kommt noch der Zeitpunkt: Alles deutet darauf hin, dass die Regierung und die ihr unterstellten Behörden annehmen, jetzt, zwölf Jahre nach dem Massaker, könne sie ihre Leute still und heimlich freilassen. Aber die Rechnung ist nicht aufgegangen. Dieses Urteil hat wütende Reaktionen ausgelöst und man fragt sich nun mehr als je zuvor, wer die mächtigen Hintermänner des Massakers waren.

Die Täter stammten ja offensichtlich aus dem Umfeld der damals regierenden Partei der institutionalisierten Revolution (PRI). Gibt es Beweise für die Verwicklung der Partei des damaligen Praesidenten Zedillo und des Militärs in das Massaker?
Durchaus, die gibt es. Die Waffen der Attentäter wurden nachweislich von der Regionalregierung besorgt. Die Täter selbst waren durchwegs PRI-Funktionäre oder –Anhänger. Und zum Zeitpunkt des Massakers taten weder Polizei noch Militär irgendetwas zum Schutz der Opfer.

Sie selbst haben das Massaker als Kind miterlebt. Können Sie uns sagen, was sich damals zugetragen hat?
Dazu muss man etwas weiter zurückgehen. Nach dem Aufstand der Zapatisten vom 1. Jänner 1994 haben sich auch bei uns im Dorf viele gefragt, ob denn die PRI die Interessen der Indígenas überhaupt noch vertrete. Es gründete sich eine Organisation, die Gruppe Las Abejas, die aber im Gegensatz zu den Zapatisten Gewalt kategorisch ablehnte. Die PRI beobachtete das Erstarken von Las Abejas argwöhnisch und ging ab Mitte 1997 mit Gewalt gegen deren Anhänger vor. Sie brannten unsere Häuser nieder und bedrohten uns mit dem Tod. Meine Familie und ich etwa schliefen oft nächtelang im Wald aus Furcht vor den lokalen „PRIistas“. Die Kirche von Acteal war auch deshalb zu einem Zufluchtsort für uns geworden.
Dort hatten sich bereits drei Tage vor dem Massaker viele Familien des Dorfes eingefunden. Wir beteten gemeinsam und fasteten dafür, dass der Terror endlich aufhören möge. Am 22. Dezember hörten wir zunächst Schüsse. Der Priester versuchte noch uns zu beruhigen, aber um 10:15 Uhr stürmten die „PRIistas“ die Kirche. Es waren an die hundert Männer und sie schossen. Es war ihnen egal, ob es Kinder waren oder schwangere Frauen, die sie trafen; sie zielten aus drei bis fünf Metern Entfernung auf alles, was sich bewegte.Ich selbst bin in dem ganzen Durcheinander aus der Kirche gerannt und habe mich vier Stunden lang bei einem nahen Fluss versteckt. Danach bin ich zur Straße und habe nach meiner Familie gefragt. Niemand wollte dem kleinen Jungen, der ich war, die Wahrheit zumuten und so sagte man mir, dass alles in Ordnung sei. Erst am Abend, als die Menschenrechtsgruppen die Toten zählten und identifizierten, erfuhr ich, dass sie meinen Vater getötet hatten und meinen Bruder mit seiner Frau und den vier Kindern.

Haben Sie die Täter damals erkennen können und könnten Sie sie heute identifizieren?
Natürlich, ich habe viele der Täter erkannt und kann sagen, wer sie sind. Die meisten leben heute noch in Acteal.

Wurden sie dazu jemals von der Polizei befragt?
Nein, die Polizei hat uns nie befragt. Bis heute nicht. Hätten nicht Menschenrechtsgruppen, wie etwa die Fray Bartolomé aus San Cristóbal, auf eigene Faust recherchiert, wäre es ohnehin nie zu einer Anklage gekommen.

Haben sich unter den Männern, die nach dem Spruch des Obersten Gerichtshofs nun freigelassen wurden, auch solche befunden, die sie am 22. Dezember 1997 gesehen hatten?
Ja, es waren einige dabei, die ich damals gesehen habe.
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