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Acteal: Der Schande nächstes Kapitel
Donnerstag, 17. September 2009
Am 22. Dezember 1997 verübten rechtsgerichtete Paramilitärs ein Massaker an 45 Angehörigen der indigenen Volksgruppe der Tzotzilen  im mexikanischen Acteal, Bundesstaat Chiapas. Mitte August dieses Jahres setzte der Oberste Gerichtshof Mexikos 20 der Attentäter auf freien Fuß. KORSO-Autor Samuel Stuhlpfarrer machte sich vor Ort ein Bild.

Es sind geschundene, gebrochene Körper, eng aneinander gedrückt; Gesichter mit weit aufgerissenen Mündern, als schrien sie vor Angst. In Bronze gegossen winden sie sich unmittelbar nach der Ortseinfahrt von Acteal im chiapanekischen Hochland acht Meter an einer Säule empor. Diese – ein „skulpturaler Aufschrei“, wie die Inschrift am Sockel erklärt – erinnert seit 1999 an das grausamste Massaker an Zivilisten in der jüngeren mexikanischen Geschichte.

Es war am Vormittag des 22. Dezember 1997. An die hundert schwer bewaffnete Paramilitärs, allesamt mit einem Naheverhältnis zur damals regierenden Partei der institutionalisierten Revolution (PRI), dringen in die Pfarrkirche von Acteal ein. Mit automatischen Waffen eröffnen sie das Feuer auf hierher geflohene Mitglieder der Gruppe Las Abejas (Die Bienen), einer zivilen Organisation, die der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) nahe steht. „Sie schossen auf alles, was sich bewegte, aus einer Entfernung von drei bis fünf Metern“, erzählt Ignacio Perez Luna, der das Massaker als Achtjähriger überlebt hat (siehe Interview auf dieser Seite). Insgesamt 45 Menschen werden niedergemetzelt, darunter vier schwangere Frauen, 16 Kinder und zwei Säuglinge. Die Polizei, deren Kaserne nur 200 Meter vom Tatort entfernt liegt, schreitet nicht ein.

Weiße Garden. Ein Umstand, der Vermutungen aufkommen lässt, das Massaker von Acteal sei mit Wissen und Zustimmung höchster Regierungskreise vonstatten gegangen. Tatsächlich deutet vieles darauf hin, dass der – wie die UNO 2003 bemerkte – „zweifellos dramatischste Vorfall, der sich im Konflikt von Chiapas ereignet hat“, eher der Höhepunkt jenes „Krieges niedriger Intensität“ war, mit dem die mexikanische Regierung die zivile Basis der EZLN aufzureiben suchte. Eineinhalb Jahre nach dem Aufstand der Zapatisten vom 1. Januar 1994 beginnt die Armee mit der Ausbildung von paramilitärischen Einheiten für Aufgaben, die von regulären Verbänden nicht offen durchgeführt werden können. Vertreibung, Vergewaltigungen, Raub und Mord, vorwiegend an lokalen Unterstützern der EZLN, sollten der Regierung – parallel zu den laufenden Verhandlungen – eine militärische Option eröffnen. Das Ziel: die nachhaltige Einschüchterung der neuerdings selbstbewusst um ihre Rechte streitenden indigenen Bevölkerung von Chiapas. Ab Sommer 1997 treten auch in der Gemeinde Chenalhó, in deren Ortsgebiet Acteal liegt, die sogenannten „Weißen Garden“ auf den Plan.  Im Oktober 1997 töten sie 15 Menschen und vertreiben 4500 aus ihren Dörfern. Logistische und finanzielle Unterstützung liefert die Regionalregierung des PRI-Gouverneurs Julio César Ruiz Ferro.


Fehler im Erhebungsverfahren? Seit Mitte August ist die Geschichte der Schande um das Massaker von Acteal um ein Kapitel reicher. Vier der fünf Richter des Obersten Gerichtshofs sind am 13. August zur Auffassung gelangt, dass die Verurteilung eines Teils der Täter von Acteal aufgrund von „Fehlern im Erhebungsverfahren“ ungültig ist. Noch am selben Tag werden 20 der erst im Jahr 2007 zu teils langjährigen Haftstrafen verurteilten Mörder auf freien Fuß gesetzt. Mit der Freilassung weiterer 30 Inhaftierter wird gerechnet.
Der Spruch des Höchstgerichts ist ein Schlag ins Gesicht für Angehörige und Überlebende. „Es schmerzt sehr, weil es ungerecht ist, dass jetzt nach zwölf Jahren Leute freigelassen werden, obwohl wir wissen, dass sie verantwortlich sind, weil wir sie gesehen haben“, sagt etwa Antonio Arias, der bei dem Attentat selbst verwundet worden war. Auf Aussagen wie jene von Arias stützte sich vor zwei Jahren die Anklageschrift. Im Urteil der Höchstrichter wurden sie allerdings nicht berücksichtigt.

UNO-Hochkommissar stellt Forderungen an die mexikanische Regierung. Vier Tage nach dem Urteil laden Arias und Las Abejas zu einem „Treffen der Zivilgesellschaft“ nach Acteal. Ein halbes Dutzend Colectivos – jene Sammeltaxis, ohne die der öffentliche Verkehr in dieser Gegend nicht aufrecht zu erhalten wäre – parkt am Fuße der „Säule der Schande“. Mehr als 300 Menschen, überwiegend aus Acteal, aber auch aus den umliegenden Gemeinden, haben sich am Dorfplatz zusammen gefunden. Man berät den Höchstrichterspruch, teilt Wut und Ohnmacht. Man ist darin geübt in Acteal.
Auf einem Transparent steht zu lesen: „Welchen Weg wird der Oberste Gerichtshof gehen? Den der Unklarheit und der Lüge oder den der Wahrheit und Gerechtigkeit?“ Eine Frage, die Alberto Brunori an diesem Nachmittag nicht beantworten wird. Der Vertreter des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte in Mexiko sucht angesichts der Wut der anwesenden Tzotzilen tapfer die Balance zu wahren; zwischen der Sympathie für die Gemeinde und ihr Leid einerseits, und dem diplomatischen Ton, den sein Amt ihm abverlangt, andererseits.  „Es ist schwer zu glauben, dass die Gerechtigkeit auch zwölf Jahre nach dem Massaker Acteal noch nicht erreicht hat“, sagt er. Und hat immerhin eine Forderung an die mexikanische Regierung parat. Brunori: „Wir verlangen von den mexikanischen Behörden die Garantie, gründliche, unabhängige und unparteiische Ermittlungen durchzuführen, um das individuelle wie kollektive Recht auf Wahrheit über die Umstände des Massakers zu gewährleisten.“

Der gewaltlose Kampf geht weiter.
Unter den Tzotzilen in Acteal glaubt kaum jemand daran, dass die Behörden der Aufforderung nachkommen werden. „Wir werden das Banner des Friedens und der Gerechtigkeit nicht einrollen. Wir werden weiterhin gewaltlos kämpfen. Aber wir haben kein Vertrauen in diese Regierung“, schreibt etwa das Direktorium von Las Abejas in einem Kommuniqué. Wen könnte es verwundern? Zwölf Jahre lang wurden die Überlebenden nicht von Behördenseite zu den Vorkommnissen vom 22. Dezember 1997 befragt, während die Verteidigung der Mörder von Acteal vom Center for Economic Research and Teaching (CIDE) organisiert wurde, einer Organisation mit Verbindungen zur vormals regierenden PRI und der Nationalen Aktionspartei des amtierenden Präsidenten Felipe Calderon.
Alberto Brunori scheint das zu wissen. Am Ende seiner Ausführungen verlässt er langsam das Podium. Zustimmendes Raunen kommt auf, als dabei die Sicht auf ein Transparent hinter ihm frei wird. Dort steht zu lesen: „Der mexikanische Staat ist schuldig, das Blutvergießen an unseren Märtyrern straffrei gestellt zu haben.“

|Samuel Stuhlpfarrer,
San Christóbal de las Casas

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