Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Fotoalbum mit Lord Byron.*
Montag, 13. Juli 2009
Marcus Poettler
Messolongi. Griechenland. Juni 2009.

das erste Bild zeigt mich neben Lord Byron und Helene im Hafen von Messolongi. der Himmel ist wolkenlos und die Sicht klar. vom Meer weht ein beständiger Wind landeinwärts. wir sitzen auf der Terrasse des Cafés „Yacht“ und trinken Cappuccino. Byron hat seinen Arm um Helene gelegt und sieht furchtbar aus. über das Fieber vor 185 Jahren ist er nie hinweggekommen. es hat ihn ausgezehrt. seine Wangen sind eingefallen und seine Haut hat eine ungesunde blasse Farbe. trotz Sonnenschirm steht ihm Schweiß auf der Stirn. in unbeobachteten Momenten verzieht er zähneknirschend sein Gesicht und stößt kaum hörbar ein verächtliches „Revolution“ hervor. heroisch ist an Byron nichts mehr. ganz im Gegensatz dazu Helene: ihr Lachen überstrahlt die ganze Szene. der Hafen wird zu ihrer Bühne und zur Kulisse meiner noch unbestimmten Empfindungen. Lord Byron im Geiste und als Geist. hier in seiner Todesstadt. noch immer lebendig.

das zweite Bild zeigt mich neben Lord Byron und Helene am Strand von Tourlida.
wir liegen unter einem mit Stroh gedeckten Sonnenschirm. der Himmel ist wolkenlos und die Sicht klar. vom Meer weht ein böiger Wind landeinwärts. das Wasser ist tiefgrün und von vielen kleinen Wellen zerfurcht. das Sprechen ringsum vermischt sich mit dem Wechselspiel des Meeres. aus Rauschen und Stille und Strandgeräuschen wird ein fremdartiger Rhythmus. er zieht mich unweigerlich in seinen Bann. Helene lässt ihre Hand über einen Skizzenblock gleiten. ich vergrabe meine Füße im Sand und streiche die Oberfläche der entstandenen kleinen Hügel mit den Händen glatt. Byron sitzt voll bekleidet zwischen uns. er trägt Stiefel. ich weiß von Byrons Fuß. seiner Missbildung. er hat mir davon erzählt. er schämt sich dafür. dadurch hat er niemals zu tanzen gelernt. das hat Byron immer am meisten geschmerzt. Helene blickt kurz von ihrer Zeichnung auf. am Horizont ziehen unentwegt Segelschiffe und Fähren vorbei. eine Möwe steht im Wind. Byron sieht zu ihr hinauf und breitet die Arme aus.

das dritte Bild zeigt mich neben Lord Byron und Helene auf dem Platz vor dem Rathaus von Messolongi. der Himmel ist leicht bewölkt. zwischen den Häusern kein Wind. im Schatten einer Palme liegen drei Hunde. an einem runden Brunnen spielen Kinder. vor meinen Augen flimmert es. die erste Zeit der Akklimatisierung. alle Gegenstände werden in der Hitze tagsüber scheinbar unerreichbar. man spürt sich schrumpfen. man spürt die Dehydration und beschwört Trugbilder herauf. wir suchen nach einem kühleren Platz. Byron will auf keinen Fall in das Museum. er erträgt es nicht. die Bilder von sich. sich selbst nochmals in der Blüte seines Lebens zu sehen. wir entscheiden uns für ein Café am Rand des Platzes. es trägt Lord Byrons Namen. daraufhin geht es ihm wieder besser. er plaudert mit uns über sein Griechenland. über das Unfertige. über den Freiheitskampf einst und jetzt. inmitten seiner gestochenen Rede verliert sich mein Bewusstsein. von mir gehen Fluchtlinien aus. von oben besehen ergeben sie ein Muster. sie stehen im Raum und zerrinnen bei Berührung. Sand rieselt durch meine Finger. ich erschrecke von den Eiswürfeln im Nacken. Helenes Gesicht ist ganz nah an meinem. Byron vergräbt sich beleidigt hinter einer großformatigen Tageszeitung. auf der Titelseite: schon wieder Revolution.

das vierte Bild zeigt mich schlafend. neben mir liegt Helene. neben mir sitzt Lord Byron vor dem Bett auf dem Boden. was man nicht sieht: meinen Hitzetraum von Auflösung. Byron verliert seine Körperteile und ich verliere Helene. eine Tür schlägt zu und ich erwache. der Wind ist in der Nacht aufgefrischt und die starken Böen rütteln an Fliegengittern und Jalousien. Helene schläft unruhig und Byron gar nicht. er nickt mir zu und wir gehen in die Küche. wir trinken Mineralwasser (Byron liebt es eiskalt aus dem Kühlschrank und trinkt es literweise). eine Weile sitzen wir uns schweigend gegenüber. beide noch in der Nacht gefangen. dann beginnt Byron zu erzählen: von damals. 1824. von seiner schwierigen Überfahrt von Kephalonia nach Messolongi. nur mit knapper Not sei er seinem zweiten Schiffbruch entkommen. danach habe er einen epileptischen Anfall erlitten und sei bei einer Behandlung mit Blutegeln beinahe verblutet. zu nahe habe man ihm die Blutegel an die Schläfenarterie gesetzt. die Blutung konnte sogar mit Ätzmitteln nur unter Schwierigkeiten gestillt werden. Byron spricht mit leiser Stimme. von der Straße her dringt plötzlich Hundegeheul und er verstummt. Byron vergräbt seinen Kopf in die Hände. ich kenne das: mit weiterer Kommunikation ist nicht mehr zu rechnen. ich lasse ihn alleine in der Küche zurück und gehe wieder ins Bett. der Rest der Nacht ist traumlos.

das fünfte Bild zeigt mich neben Lord Byron und Helene in der Abendsonne auf einem Balkon. vereinzelt ziehen Wolken über den Himmel. es geht ein leichter Wind. wir sitzen in Liegestühlen mit Blickrichtung Lagune. in der Nachbarschaft hören wir das Fauchen kämpfender Katzen und kurz darauf Hundegebell. Byron hat ein verschmitztes Lächeln aufgesetzt. seine listigen Blicke streifen zuerst Helene. dann mich. seine Nähe ist mit nichts vergleichbar. das ist ein Kontinent voller Anziehungskraft und der Mittelpunkt magischer Kreise. kein anderes Leben. kein Zeitsprung. ich bin jetzt wie Byron und Helene ein Bewohner der Unwirklichkeit. wir sind voneinander nicht mehr unterscheidbar. Byron holt mich aus meiner gedanklichen Versunkenheit: er beginnt wieder zu erzählen. von seinen Tragödien. von seiner gescheiterten Ehe. von seiner Tochter Ada. sie hat ihn nie kennen gelernt. die Mathematikerin und oft als „erste Programmiererin der Geschichte“ bezeichnete Ada Lovelace. wie er selbst ist sie mit 36 Jahren gestorben. er erzählt von seiner Tochter Allegra. sie entsprang einem seiner Verhältnisse und starb schon mit fünf Jahren. Byrons Stimme verschwindet im stärker werdenden Wind. wie er und sein Werk und seine Geschichte immer mehr in der Gegenwart.

das sechste Bild zeigt mich neben Lord Byron und Helene im Theater. wir besuchen eine Vorstellung eines modernen griechischen Stückes. weder Helene noch ich verstehen ein Wort. aus der Inszenierung schließe ich: zwei Mächte planen einen Krieg gegeneinander. mit der Zeit beginne ich ins Zwischenreich meiner eigenen Geschichte abzudriften. ich bekomme Angst vor dem Schließen meiner Augen und vor jedem Atemzug. den Körper überfällt eine Art Lähmung. nichts Anhaltendes. ein Stillstand der Form. bald wieder vergangen. er verwandelt sich danach in einen Zustand der Wachheit und Klarheit. schwimmen durch Wellentäler und über Wellenkämme. das salzige Wasser an den Lippen. das Streifen kälterer Strömungen an den Beinen spüren. ein Flügelschlag. dann fällt der Strom aus. im Theater ist es dunkel und die Schauspieler stehen regungslos auf der dunklen Bühne. zu Salzsäulen erstarrt. das Publikum bleibt ruhig. Stromausfälle gehören hier zum alltäglichen Leben. das Spiel geht weiter. auf dem Heimweg beginnt es zu regnen. Geister tragen kleine Lichter über die Lagune.

das siebente Bild zeigt mich alleine auf der Uferpromenade. überall Palmen mit dicken Stämmen. oft beinahe knollenförmig. meine Irrgänge haben manchmal etwas Bedrohliches. wie die Schreie einer alten Frau in der Nacht. plötzlich bin ich von einem Rudel streunender Hunde umzingelt. ich habe die Orientierung verloren. selbstvergessen beschleunige ich meinen Schritt. die Hunde trotten mir hinterher. ich blicke auf und sehe landeinwärts dunkle Wolken sich auftürmen. erst jetzt bemerke ich auch: der Wind ist wieder heftiger geworden. Byron hat mir heute beim Frühstück von seiner Zeit am Comer See erzählt. von John Polidori und von Mary Shelley. von der bedrohlichen Stimmung am See. von den nächtlichen Schauergeschichten. letztendlich sind daraus Polidoris „The Vampyre“ und Shellys „Frankenstein or The Modern Prometheus“ hervorgegangen. jetzt bin ich selbst bedroht. die Hunde sind weiterhin hinter mir. wäre ich wenigstens ein „Byronic Hero“. umzublicken wage ich nicht mehr. ich gehe einfach geradeaus. Blick zu Boden. hochpulsig. kalter Schweiß an den Händen. irgendwann endet der Gehweg und ich laufe über eine asphaltierte Fläche bis ich an der Kaimauer stoppen muss. vor mir das Meer. die Hunde hinter mir sind verschwunden.

das achte Bild zeigt mich mit Lord Byron und Helene auf dem Weg nach Tourlida. wir stehen mit unseren Fahrrädern am Straßenrand. der Himmel ist wolkenlos und es ist beinahe windstill. ein langbeiniger Vogel begutachtet uns vom Wasser aus und fliegt dann davon. wir sehen einen kleinen baufälligen Holzsteg. er führt auf eine schmale Landzunge in die Lagune hinaus. am Ende liegt ein kleiner Hügel. wir lassen die Fahrräder stehen und gehen dorthin. das Wasser in der Umgebung riecht brackig und ist voller Unrat. das hoch stehende verdorrte Gras schneidet mir Striemen. dünne rote Linien auf den nackten Unterschenkeln. Byron wird mit jedem Schritt übellauniger und ist unentwegt durstig. ich gebe Byron Mineralwasser aus der Kühltasche und frage ihn nach seinem Briefwechsel mit Goethe. er knurrt mir entgegen: „I awoke one morning and found myself famous.“ danach trinkt er gierig den Rest der Flasche leer und wirft sie ins Meer. ich ignoriere ihn und nehme Helenes Hand. wir umrunden den Hügel und finden Byron später zusammengekauert bei den Fahrrädern. er sieht mich mit glasigen Augen an und murmelt leise. alles zerrissen. das hat er mir schon kurz nach meiner Ankunft erzählt: sein Herz ist hier begraben und sein Körper liegt einbalsamiert in einem Grab in England. Heldenepos und Griechische Tragödie.

das neunte Bild zeigt mich neben Lord Byron und Helene im Café „down town“ im Herzen der Stadt. hier scheint das Studentenviertel zu sein. die Sitzgelegenheiten der Lokale sind bis auf den letzten Platz besetzt. es ist früher Abend. die Sonne hat sich den ganzen Tag nicht wirklich gezeigt und der Wind hat kühle Luft gebracht. mich plagt eine latente Aggression Byron gegenüber. hier im regen Treiben ist es besser. unfokussierter. dennoch beginne ich ihn zu provozieren und frage nach seinen zahllosen Affären. nach seinem Verhältnis zu seiner Stiefschwester Augusta. Byron hört zu. vielleicht möchte er mich schlagen – aber 185 Jahre tot zu sein hinterlässt Spuren. meine Sticheleien und die Erkenntnis seiner Kraftlosigkeit übermannt ihn schließlich und er bricht in Tränen aus. auf dem Heimweg flüstert mir Byron ins Ohr: „Mad, bad and dangerous to know.“ er gibt Helene einen überraschenden Kuss. verbeugt sich vor uns beiden und verschwindet in der Nacht.

für Irene und Ewald. als Dank für die Gastfreundschaft und die Möglichkeit zu schreiben.

 

Marcus Poettler, geboren 1977 in Hartberg, lebt und arbeitet in Graz. Zuletzt erschien der Gedichtband „fallen“, Graz, Leykam 2007.

*George Gordon Noel Lord Byron, bekannt als Lord Byron, geboren am 22. Januar 1788 in London, ist am 19. April 1824 in Messolongi (Griechenland) gestorben. Er war ein britischer Dichter, der Vater von Ada Lovelace und ist überdies bekannt als wichtiger Teilnehmer am Freiheitskampf der Griechen.
 

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