Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Colutto. Ein in dunkel gehaltenes Spiegelbild der eigentlichen Stadt.
Mittwoch, 10. Juni 2009

Mike Markart

(Aus den Aufzeichnungen Emilio Persichettis)

Während meiner Reisen gelangte ich in den einzigartigen Ort Colutto, der ganz weit im Norden des Landes liegt.
Meine Ankunft war begleitet von Sonnenschein und frühsommerlicher Heiterkeit. Als ich aus dem Zug stieg und mich zu orientieren versuchte auf dem kleinen, auf freiem Feld liegenden Bahnhof, welcher ja nur eine  einsame Station war, ein von der Zeit und ihren Wettereigenheiten ins eigentliche Landschaftsbild längst wieder aufgenommener Bretterverschlag, ging zarter Waldrebenduft in meine Nase.

Vanille und ein wenig Kokos.
Ich musste einige Augenblicke lang verharren.
Reisen bringt es mit sich, dass man vielerlei Wissenströpfchen seinem Gepäck hinzufügt mit jeder Strecke, die man zurücklegt, mit jedem Menschen, auf den man trifft, mit jedem Anblick.
Jedem Geräusch. Jedem Geruch.
Immer reichhaltiger wird das Gepäck, ohne eigentlich schwerer, umfangreicher zu werden.
Im Gegenteil. Je erkennbarer die Welt wird, je mehr man von ihr benennen kann, umso leichter wird die Fahrt.  
Colutto war an diesem Tag kein von mir angestrebtes Ziel. Was, bis auf jene wenigen Ausnahmen, wo es mich immer wieder zurück in einen Ort treibt, auch auf alle anderen von mir im Laufe der Jahre besuchten Orte genauso zutraf. Ich fuhr mit dem Zug einfach los. Selbst die Richtung betreffend entschied ich mich oftmals erst am Bahnhof. An der Station. Oft entschied die Situation für mich. Ich stieg in jenen Zug, der als nächster abfahren würde. Mich interessierte ja jeder Ort, ich wollte damals einen nach dem anderen besuchen.
Betreten.
Durchqueren.
In einem der Lokale etwas essen und in einer Bar einen Caffè trinken. Und ein Glas Wein.
Ich fuhr mit der Bahn los und ließ mich von den Ortsnamen dazu überreden, auszusteigen. In der überwiegenden Zahl der Fälle ging ich auch zu Fuß weit ins Hinterland hinein, ließ mich von der Bahn nur an den nächstmöglichen Punkt bringen.
Noch an den Schienen stehend sah ich in der Ferne den Ort Colutto, auf welchen die Station, an der ich zwischen Feldern und landwirtschaftlichen Gebäuden ausgestiegen war, sich bezog. Ich nahm mein Gepäck und ging los. Mein Koffer war leicht und keine Belastung für mich. Ich führte nur das Notwendigste mit mir. Und eigentlich wurde mein Gepäck mit jeder Fahrt, mit jedem Ort kleiner. In jedem Ort konnte ich bei meiner Abreise einen Teil meines Gepäcks benennen, den ich nicht mehr benötigte, von dem ich mich demnach trennen konnte.
Auf halbem Weg von der Bahnstation hinüber nach Colutto hörte ich schon die Glocken, welche von einem Begräbnis erzählten.
Ich beeilte mich also ein wenig.
Ein Begräbnis gibt meinen Erfahrungen nach mehr von einem Ort preis als stundenlange Gespräche oder ein wochenlanger Aufenthalt.
Ich traf im Ort ein, war durch ein nach oben hin offenes Tor getreten, als die Trauernden mit dem Sarg, den sie auf einem aus Holz zusammengezimmerten Rollwagen ohne Verzierungen vor sich her schoben, gerade den Marktplatz überquerten und über eine Brücke auf die andere Seite des Flusses zogen.
Dort hatten die Menschen eine beeindruckende Totenstadt erbaut. Ein in dunkel gehaltenes Spiegelbild der eigentlichen Stadt.
Die Trauernden, welchen ich nachblickte, verschwanden bald in einer der Gassen. Ich war ihnen bis zur Brücke gefolgt, um ihnen nachzuschauen. Als ich sie allerdings aus den Augen verloren hatte, entschloss ich mich, ihnen zu folgen.
Ich überquerte die Brücke, nahm jene Gasse, in welche die Trauernden vor wenigen Augenblicken verschwunden waren. Ich ging schnell, aber dennoch ruhig, um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen oder gar als Ärgernis wahrgenommen zu werden, und hatte deshalb den Trauerzug schon bald erreicht, welcher sich nur langsam, fast gleitend fortbewegte. Einen Schleier leiser Gebete, einem Murren oder Singsang ähnelnd, hinter sich her zog.
Er hielt vor einem der Häuser. Die Menschen schlossen auf und verweilten jetzt eine Zeitlang in vollkommener Stille und beinahe in Regungslosigkeit. Die durch den Trauerzug in Bewegung geratene, dadurch von kühlen Elementen durchzogene Luft wogte noch einige Male, kam aber auch bald zur Ruhe und erwärmte sich sofort, bemerkte ich.
Einer, der direkt hinter dem Sarg gegangen war, trat an die Tür des Hauses, welche aussah wie ein Schatten, zog einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und sperrte auf. Das Schloss war leichtgängig und ließ sich dementsprechend geräuschlos sperren. Er öffnete die Tür, trat ein, blieb allerdings gleich nach dieser stehen und wandte seinen Blick den vor dem Haus Wartenden zu, was diese sofort als Aufforderung einzutreten verstanden. Wahrscheinlich handelte es sich um ein lange eingespieltes Ritual.
Die Sargträger hoben den Sarg ohne merkliche Anstrengung von der Transportvorrichtung und brachten den Toten ins Innere des Hauses. Die Trauergemeinde folgte ihnen. Einer nach dem anderen ging durch die schmale Tür. Ich ebenfalls, denn ich hatte nicht den Eindruck, dass meine Anwesenheit die Trauernden stört. Im Gegenteil, ich fühlte mich willkommen. Die Menschen bemerkten es anscheinend wohlwollend, dass ein Fremder ihre Trauer mit ihnen teilen wollte.
Jener, der die Tür aufgesperrt und geöffnet hatte, wartete, bis der letzte der Trauernden durch die Tür ins Innere des Hauses gekommen war, der in diesem Fall ich war, dann schob er die Tür ins Schloss und stellte sich neben den Sarg.
Ich las in der Situation und verstand bald, dass es sich bei dem Haus um das dunkle Spiegelbild jenes Hauses auf der anderen, lebendigen Seite des Ortes, auf der anderen Seite des Flusses handelte, in welchem der nun Tote bis vor kurzem gelebt hatte.
Ich vermutete, dass auch die Einrichtungsgegenstände in dem Haus, also das hölzerne Bett, der Spiegel, der Tisch, ein Bilderrahmen mit der Fotografie einer jungen Frau, die Vase mit frischen Blumen, das Radio, eine Flasche Wein, ein Glas, ein Stück Brot und so fort, an der richtigen Stelle aufgestellt, angebracht worden waren. Denn wie die Trauernden sich innerhalb des Hauses zu orientieren verstanden, sprach dafür. Und ich konnte mir dadurch ein Bild davon machen, wie der Verstorbene auf der lebendigen Seite des Ortes gelebt hatte.
Aus der Schar der Trauernden traten einige Personen hervor, andere als jene, die den Sarg ins Haus getragen hatten, in dunklen Gewändern, mit verweinten Gesichtern, hoben den Sarg an und stellten ihn auf das Bett.
Betteten ihn wie einen Schlafenden.
Dann fingen sie an, sich über den Toten zu unterhalten. Durcheinander und formlos. Als wären sie zufällig im Haus des Schlafenden und würden sich über ihn austauschen.
Ich hörte aus den Gesprächen, dass es sich bei dem Toten um einen jungen Mann, einen Weinbauern handelt. Dieser hatte erst vor wenigen Monaten seine Frau an den Fluss, der die zwei Stadtteile Coluttos auseinander hält, verloren. Sie war bei heftigem Gewitter und reißender, ungeduldiger Wildheit des an sich trägen und ungefährlichen Gewässers gestürzt, die Böschung hinunter gerollt und erst Tage später viele Kilometer flussabwärts gefunden worden. An einem Steg hatten sich Treibholz und die Leiche kaum trennbar ineinander verflochten.
Dem jungen Bauern war seine Trauer allerdings nicht anzusehen. Er war im Gegenteil ständig gut gelaunt, wenn man ihn im Ort traf. Er war gesprächig, gesellte sich in der Bar gerne zu den anderen.
Eines Tages ließ er sich im Ort allerdings nicht mehr blicken. Auch am folgenden Tag nicht. So hielt man Ausschau nach ihm. Und schließlich fand man ihn unter einem seiner Weinstöcke. Er hatte ein Seil an dem Rebstock befestigt, dieses dann um seinen Hals gebunden, ganz fest zusammengezogen und sich zum Sterben auf den Boden gelegt. Man hatte ihn gefunden wie einen an der Leine verendeten Hund.  
Bald schon machten sich die sich noch immer angeregt Unterhaltenden auf in Richtung Tür, ins Freie. Ich selbst hatte die Unterhaltung der Menschen nur beobachtet, mich nicht daran beteiligt, was hätte ich auch sagen sollen? Jedenfalls verließ ich mit ihnen das Gebäude.
Jener, der die Tür vor der Zeremonie aufgesperrt hatte wartete, bis alle Trauernden aus dem Haus getreten waren. Dann versperrte er die Tür. Der Schlüssel verschwand wieder in seiner Jackentasche.
Ich begleitete den Trauerzug, die sich rege austauschenden Menschen auf dem Weg zurück über die Brücke, hinüber in die eigentliche Stadt. Als ich als Letzter die Brücke hinter mir gelassen und die Piazza halb überquert hatte, drehte ich mich noch einmal um, wollte noch einmal hinüberschauen auf die dunkle Stadt der Toten.
Diese gab es allerdings nicht mehr.
Vielmehr schaute ich hinein in ein weites Feld, mit trockenen, umgeknickten Halmen, dessen Ende ich mit meinem Schauen gar nicht erreichen konnte.  
Ich ging in die Bar. Nachdem ich mir einen Platz gesucht und mein Gepäck abgestellt hatte, trank ich ein Glas Wein und aß dazu ein Stück Brot und ein wenig Käse. Die Bar war gut gefüllt und ich erwartete mir deshalb Antworten auf meine Fragen. Ich lehnte mich mit meinem Glas in der Hand zurück und begann in den Menschen zu lesen. In ihren Gesprächen und darin, wie sie in der Zeitung blätterten und einen Caffè tranken, wie sie sich an die Theke lehnten, wie sie ihren Hut vom Kopf zogen oder ihn, um die Bar zu verlassen, wieder aufsetzten, erkannte ich, dass die dunkle Spiegelung der Stadt nur während des Begräbnisses für alle sichtbar ist. Also für die Trauernden, die Bewohner des Ortes, aber auch für Besucher.
Durchreisende.
Später stellte ich mich an die Theke und wechselte mit dem Barista ein paar Worte.
Hat der Trauerzug die Brücke in die lebende Stadt hinein wieder überquert, ist die Stadt der Toten nicht mehr für alle zu sehen, sagte er zu mir. Nur mehr für die Angehörigen der toten Person. Für diese bleibt sie jedoch für immer sichtbar.
Deshalb, so erfahre ich in der Bar weiter, ist für beinahe alle Bewohner der Stadt der Ort auf der anderen Seite des Flusses ständig vorhandener Teil ihres Lebens, denn fast jeder im Ort hatte schon einen ihn direkt betreffenden Toten zu betrauern.
Anders verhält es sich in Bezug auf Besucher der Stadt, Reisende wie Sie, sagte der Barista zu mir. Für diese wird die Stadt nur während der kurzen Zeit eines Begräbnisses sichtbar, geht als Andeutung an ihnen vorbei, um bald das weite Feld mit den geknickten Halmen und viele Fragen zu hinterlassen.

(Für Silke Jakob, 20. 6. 1999 –
11. 5. 2006)

Aus dem Roman Calcata
(erscheint im September 2009 im Braumüller Literatur­verlag, Wien)

 

Mike Markart

geb. 1961 in Graz, lebt in Stainz. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Dillingers Fluchtplan“, Erzählung, edition kürbis 2008.
Preise und Stipendien, u. a. Würth-Literaturpreis, Literaturförderungspreis der Stadt Graz.

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