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„Sie werden versuchen, das System mit Infusionen am Leben zu erhalten“
Mittwoch, 10. Juni 2009
KORSO-Herausgeber Christian Stenner sprach mit dem britisch-pakistanischen Autor und Historiker Tariq Ali über internationale Entwicklungen – vor allem in den USA und Großbritannien – vor dem Szenario der globalisierten Krise. Sie sprechen heute in Graz über die Krise und darüber, dass Ihrer Ansicht nach die Welt an einem Scheideweg steht. Sollen wir den Ökonomen, den Spitzen der Weltbank und des IWF und jenen Politikern vertrauen, die sagen, dass die Krise schon fast vorbei ist, weil die Aktienkurse steigen?
Es ist einfach närrisch, das Ende einer Krise an den Reaktionen des Aktienmarktes festzumachen. Die Reaktionen des Aktienmarktes sind immer sehr impressionistisch, wie wir wissen. Wenn wir statt einer halben Million Arbeitslosen 400.000 haben, dann gehen die Aktienkurse vielleicht ein bisschen rauf, weil das besser ist als ursprünglich gedacht, aber es ist in Wirklichkeit noch immer extrem schlecht.

Manchmal gehen die Aktienkurse auch ’rauf, wenn die Arbeitslosenzahlen steigen …
Auch das kommt vor, weil steigende Arbeitslosenzahlen kurzfristig besser für die Aktieneigner sein können.
Die Krise geht jedenfalls sehr tief, und das äußert sich daran, dass Ökonomen wie Paul Krugman oder Joseph Stiglitz Obama von links attackieren und erklären, dass er nicht genug getan hat – und dass das, was er getan hat, die Probleme nicht lösen wird. Die Banken einfach mit Milliarden an Steuergeldern zu retten ist völlig kontraproduktiv, und Mitte des nächsten Jahres wird ein sehr hoher Preis dafür zu zahlen sein – ich denke, dass sie richtig damit liegen.
Großbritannien und die USA – jene zwei Länder, die von den Neoliberalen als Modell für die ganze Welt angesehen wurden, ein Modell, auf das auch alle liberal-sozialdemokratischen Politiker aufzuspringen versuchten, weil sie glaubten, das sei der Weg in die Zukunft – sind durch ihre Wirtschaftspolitik besonders tief in die Krise geraten. Die Bank von England hat gerade beschlossen Geld zu drucken, um wieder mehr Geld ins Bankensystem zu bringen – das ist verrückt. Ich denke, dass jene, die meinten, dass man viele dieser Banken eigentlich in Konkurs gehen lassen sollte, Recht hatten. Und dem vorgeschobenen Argument der Regierungen: „Ja, aber wir konnten die kleinen Hausbesitzer ja nicht im Regen stehen lassen“ können wir entgegnen: „Gut, ihr habt euch zwar nie um die kleinen Hausbesitzer gekümmert, aber wenn ihr ihnen helfen wollt, dann schafft doch eine staatliche Bank, die ihre Kredite übernimmt.“

Den kleinen Hausbesitzern hätte man jedenfalls auf vielerlei Art helfen können, ohne alle Banken mit Steuergeldern zu retten.
Richtig, etwa auf klassisch sozialdemokratische Art, aber das wurde ja abgelehnt. Und das heißt, dass niemand an der Spitze des Systems in den USA und Großbritannien vorhat, mit dem Liberalismus und dem Monetarismus zu brechen; das ist die Lektion der letzten acht Monate. Sie werden versuchen, das System zu retten, es mit Infusionen am Leben zu erhalten, aber – sie werden nicht mit ihm brechen. Statt dessen wäre aber eine tief greifende Operation nötig, um das Krebsgeschwür des Neoliberalismus zu entfernen. Denn die Bedingungen in den USA und Großbritannien werden immer schlimmer. Klar, in New York oder London merkt man das nicht. Wenn man aber in den Norden Englands oder in den Nordwesten der USA reist – ich komme gerade aus den USA zurück, wo ich längere Zeit in Detroit verbracht habe, wo einst das Herz der amerikanischen Automobilindustrie schlug – dann sieht die Sache anders aus: Detroit kollabiert. Früher war es eine Stadt mit drei Millionen Einwohnern, jetzt zählt es gerade noch 900.000. Die Menschen verlassen diese Stadt, jene Stadt, wo der Fordismus seine Geburtsstätte hatte, die Stadt von Henry Ford und des Model T. Jetzt sieht sie aus wie ein postindustrielles Reservat für den amerikanischen Fordismus. Und niemand hat eine Lösung.

Die „people on top“ haben in der Tat keine Lösung – außer dass sie wissen, dass sie oben bleiben wollen. Was aber einer radikalen Änderung des Systems entgegensteht, ist die Tatsache, dass die Menschen am Fuß der sozialen Pyramide schon gar keine Vorstellung davon haben, wohin die Reise gehen soll.
Das ist genau das Problem und erklärt die Situation. Viele Menschen vergleichen die Situation heute mit den Dreißigern, mit dem New Deal. Ich weise immer darauf hin, dass der Vergleich nicht stimmt. Es ist schon seltsam, dass Roosevelts Maßnahmen wesentlich zielführender waren als jene Obamas. Dabei sind/waren beide liberaldemokratische Präsidenten. Nur: Unter Roosevelt gab es eine sehr starke Arbeiterbewegung in den USA. In Flint, Michigan wurden in den General-Motors-Werken Sit-ins abgehalten, Fabriken wurden besetzt, um gewerkschaftliche Rechte durchzusetzen. Die KP war in den Gewerkschaften sehr präsent, und zu dieser Zeit gab es außerdem die Sowjetunion. Die dortige Planwirtschaft wurde von den Menschen als Gegenmodell zum Kapitalismus empfunden. Zu dieser Zeit war die herrschende amerikanische Elite sehr nervös wegen der Existenz dieses Gegenmodells, sie fürchteten sich davor und vor der Militanz der Arbeiter. Um Umstürzen vorzubeugen, waren sie bereit, den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Das war die Grundlage für den New Deal.
Obama steht nicht vor der gleichen Bedrohung, deswegen ist sehr wenig passiert, um den kleinen Leuten in der Krise zu helfen, es wurden weder Mindestlöhne noch eine Arbeitszeitverkürzung wie unter Roosevelt durchgesetzt.
Rooseelt schuf nationale „Building Socities“, das waren verstaatlichte Gesellschaften, die den Menschen günstige Kredite für den Hausbau gaben. Die aktuelle Regierung ist hingegen vollkommen in der Hand der Wallstreet. Von Obamas Wirtschaftsberater Larry Summers bis hin zu Finanzminister Timothy Geithner sind alle Wallstreet-Banker. Ich kann nicht erkennen, dass sich irgendeine relevante Richtungsänderung abzeichnet, außer … ja, außer es gibt überraschenderweise eine mächtige Bewegung von unten, eine soziale Bewegung.
In Großbritannien herrscht die gleiche Situation, es gibt keine Bewegung von unten; die britischen Gewerkschaften stützen eine neoliberale New-Labour-Bewegung, die selbst alle neoliberalen und thatcheristischen Programme umgesetzt hat und deswegen nicht mehr zurück kann. Für die einzige sinnvolle Entscheidung, die sie nun getroffen haben – nämlich den Spitzensteuersatz für die Bestverdienenden auf 50% anzuheben – haben sie nun Prügel von den Medien bezogen. Aber: Der Spitzensteuersatz lag in den Sechzigern und Siebzigern bei 60%.
 
Ein Steuersatz, der in Skandinavien nach wie vor als normal angesehen wird.
Richtig, aber es gab massive Kritik, weil New Labour bis vor kurzem selbst Stimmung gegen hohe Spitzensteuern gemacht hat. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber, dass die britische Arbeiterklasse zerschlagen wurde, sie hat sich nie von den großen Niederlagen der Siebziger und Achtziger des vorigen Jahrhunderts erholt. So stehen wir nun vor einer Situation, wo die Gordon-Brown-Regierung einen absehbaren Misserfolg erleiden wird und die Konservativen und vielleicht sogar die Liberaldemokraten den Sieg davontragen werden.
Am gefährlichsten ist, dass es derzeit keine wirkliche Alternative innerhalb der Arbeiterbewegung gibt. Die British National Party hat – derzeit noch kleine – Stimmenzuwächse unter weißen Arbeitern zu verzeichnen, weil diese sich völlig im Stich gelassen fühlen; Labour vertritt einen völlig heuchlerischen Multikulturalismus und tut nichts für die arbeitenden Menschen. So haben die Faschisten leichtes Spiel mit ihrer Argumentation „Niemand kümmert sich um euch, außer uns. Wir werden euch helfen.“ Die Arbeiterviertel wenden sich nun teilweise den Faschisten zu; es gibt Umfragen, wonach sie bei den Europawahlen gut abschneiden werden und angeblich zwischen 10 und 20% in ganz Großbritannien erreichen könnten. Wenn das passiert, wird die Krise sich weiter zuspitzen.


Tariq Ali ist britischer Schriftsteller und Publizist, Filmemacher und Historiker pakistanischer Herkunft. Er war die zentrale Figur der Achtundsechziger-Bewegung in Großbritannien, ist Mitherausgeber der „New Left Review“, Kommentator für Zeitungen wie den Guardian und die Süddeutsche. Sachbücher (z.B. „The Clash of Fundamentalisms“ als Antwort auf Huntingtons „Clash of Civilizations“), Belletristik (z.B. „Im Schatten des Granatapfelbaumes“ über das islamische Spanien).
Ali hielt am 11. Mai 2009 auf Einladung des KPÖ-Bildungsvereins in Graz einen Vortrag zum Thema „Vorwärts zum Sozialismus oder zurück zum Fundamentalismus?“
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