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Nordirland: Frust mit dem Frieden
Mittwoch, 13. Mai 2009
Nach der jüngsten Gewaltwelle droht der katholischen Regierungspartei Sinn Féin (SF) die republikanische Basis abhanden zu kommen. Was die Parteiführung um Gerry Adams wenig zu kümmern scheint, könnte zum Problem für den Friedensprozess in Nordirland werden.
Ich muss aufhören, wir sehen uns ohnehin morgen“, sagt Bridge Connor und legt den Hörer auf. Eben hat es wieder an der Tür des  Büros von Republican Sinn Féin (RSF) in der Belfaster Falls Road geklopft. Bridge eilt hastig vom Hinterzimmer nach vor um zu öffnen. Da bleibt nicht viel Zeit für Telefonate; das muss an diesem Karfreitag auch Bridge Connors Sohn am anderen Ende der Leitung hinnehmen. Seit dreieinhalb Jahren sitzt er im Gefängnis von Marghaberry ein, zu insgesamt 16 1/2 Jahren ist er verurteilt; für den Diebstahl von Waffen und Bombenbau. Joseph Connor ist Mitglied der Continuity IRA, einer Abspaltung der IRA, die das Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 ablehnt.

„Nothing has changed“. Was der Grund für die häufiger werdenden Besuche im „office“ ist? „Die Leute sind empört über McGuiness“, sagt Bridge. Gemeint ist Nordirlands stellvertretender Ministerpräsident Martin McGuiness (Sinn Féin). Der frühere IRA-Kommandant hatte nach den jüngsten Anschlägen – Mitte März wurden bei Attentaten von zwei Splittergruppen der IRA ein Polizist und zwei britische Soldaten getötet – nicht nur die Täter als „Verräter“ am Republikanismus bezeichnet, mehr noch: er forderte die Bevölkerung dazu auf, dem Polizeidienst Nordirlands (PSNI) Hinweise über die Drahtzieher der Anschläge zukommen zu lassen. Was von stellvertretenden Ministerpräsidenten anderer Staaten gemeinhin als selbstverständlich erachtet werden würde, stößt den Katholiken Nordirlands bitter auf. Selbst Anhänger Sinn Féins sind darob ernsthaft verstimmt, immerhin wird eine offene Zusammenarbeit mit dem PSNI in den katholischen Vierteln nach wie vor weitgehend als Kollaboration mit den Besatzern betrachtet. Dass die frühere riot-police zum crimestopper geworden sei, wie die neuen Wagenaufschriften suggerieren wollen, glauben in West-Belfast die Allerwenigsten.
Die Haltung zum PSNI steht in diesem Zusammenhang durchaus symbolhaft für eine allgemeine Frustration gegenüber dem Friedensprozess. „Nothing has changed“, das hört man hier allerorten. Und tatsächlich sind elf Jahre nach dem Karfreitagsabkommen die meisten Nordiren desillusioniert. 30 Jahre der „Troubles“, wie die Endlosgewaltspirale in Nordirland gerne euphemistisch genannt wird, reichten Protestanten wie Katholiken in ihrer Mehrzahl, um sich ab Mitte der 1990er Jahre ernsthaft um eine friedliche Lösung zu bemühen. Eine allgemeine Kriegsmüdigkeit und Erschöpfung unter allen Bevölkerungsschichten attestieren retrospektiv selbst die schärfsten Kritiker des Friedensschlusses. Allein, in der Substanz war das Abkommen vom zehnten April 1998 kaum tauglich, um die vorwiegend sozialen Probleme zuvorderst der katholischen Bevölkerung Nordirlands zu lösen. In deren von Armut geprägten Vierteln hat sich die Lebenssituation für die unteren Schichten seit 1998 kaum verbessert. Zumal die Auswirkungen der Krise mittlerweile auch im Norden der grünen Insel deutlich zu spüren sind. Erst Anfang April gab etwa die Ford-Tochter Visteon die Schließung ihrer Fabrik in Süd-West Belfast bekannt.

Sinn Féin ausgeladen. „Sie haben unsere Pubs etwas verschönert und den einen oder anderen Straßenzug revitalisiert, aber das war’s auch schon“, merkt Marian Price (siehe Interview auf dieser Seite) sarkastisch an. Price hat den „Provos“, wie die Anhänger von Sinn Feín hier genannt werden, 1997 mitten im Friedensprozess den Rücken gekehrt. „Der Friedensprozess ist ein totaler Ausverkauf gewesen“, beklagt sie, die mittlerweile im 32 County Souvereignty Movement (32csm) engagiert ist. Ebenso wie RSF lehnt auch das 32csm den Friedensprozess ab. Gemein haben sie aber auch den Glauben an  den bewaffneten Kampf als geeignete politische Methode zur Erlangung eines vereinten Irlands; oder zumindest den Glauben an die Legitimität der Methode. Ein schmaler Grat, gerade breit genug, um in Abrede zu stellen, was weithin vermutet wird, dass RSF und 32csm nichts anderes seien als die politischen Vorfeldorganisationen der Splittergruppen Continuity IRA (CIRA)  und Real IRA (RIRA).
Über mangelnden Zulauf konnten sich diese zuletzt kaum beschweren. Insbesondere in den ländlichen Regionen wächst ihr Einfluss massiv. In Lurgan, 45 Kilometer südwestlich von Belfast etwa, wo im März ein Polizist von der CIRA erschossen worden war, erinnert mittlerweile vieles an die Zeit der Troubles. Nicht zuletzt der Umstand, dass Teile dieser republikanischen Hochburg wieder zu No-Go-Areas geworden sind. Als am Ostersamstag ein gutes Dutzend vermummter Milizionäre den Ostermarsch von RSF im Stadtteil Kilwilkee anführt, regeln Männer in Privat-PKW den Verkehr. Im Armenviertel Lurgans hat der PSNI nichts zu suchen. Genauso wenig im Übrigen wie Repräsentanten von Sinn Féin bei den diesjährigen Gedenkfeiern anlässlich des 93. Jahrestages des Osteraufstands im County Tyronne. Mitte April von der National Graves Association der Grafschaft pauschal ausgeladen, weil sie nicht für das stünden, „wofür die geehrten Toten kämpften“, fiel damit ein Sechstel der über 100 landesweit veranstalteten Eeaster Commemorations von Sinn Féin ins Wasser.  Ein weiterer herber Rückschlag für die Partei von Gerry Adams.

Bedrohung des Friedensprozesses. Die Parteispitze scheinen diese besorgniserregenden Symptome indes kaum in Unruhe zu versetzen. Ganze drei Sätze seiner 15-minütigen Ansprache am Ostersonntag in West-Belfasts Milltown-Cemetery widmete SF-Präsident Gerry Adams dem jüngsten Gewaltaufkommen. Davon, dass es zum Friedensprozess keine Alternative gäbe, und dass die abtrünnigen Gruppen auch keine böten, war da am diesjährigen Gedenken an den Osteraufstand von 1916 die Rede.  Vordergründig hat SF dabei jeden Grund Ruhe zu bewahren.  Seit Anfang der 1980er Jahre und erst recht seit Beginn des Friedensprozesses gewinnt die Partei Wahlen um Wahlen. Bei den letzten zur Northern Ireland Assembly im November 2003 waren es mehr als 23 Prozent, die ihr Kreuz bei SF machten. Mittlerweile hat die Partei die gemäßigte Social Democratic and Labour Party (SDLP) als stärkste parlamentarische Vertretung der Katholiken Nordirlands längst abgelöst. Allein, der militante Republikanismus in Nordirland war niemals repräsentativ für das, was die Mehrheit dachte. Der militanten Minderheit allerdings, die über die letzten vier Jahrzehnte den Fortgang der Geschichte Nordirlands maßgeblich mitentschieden hat, geht Sinn Féin mit ihrer schleichenden Sozialdemokratisierung mehr und mehr verlustig. McGuiness und Adams mögen verlässliche Partner für protestantische Unionisten und Briten sein, verlieren sie jedoch die Kontrolle über die republikanische Basis, ist der Friedensprozess ernsthaft in Gefahr.
Das weiß auch Bridge Connor, die ihren Sohn zuletzt am Ostersamstag besucht hat. Seither ist der Kontakt eingeschränkt. Ebenso wie seine Mithäftlinge aus den Splittergruppen lehnte Joseph Connor es trotz Verbotes ab, das Tragen der Oster-Lilie, ein Anstecker in Erinnerung an den Aufstand von 1916, zu unterlassen. Seit 14. April sind Joseph Conner und weiteren 18 Häftlingen aus Maghaberry sämtliche Haftprivilegien gestrichen, ein Teil von ihnen befindet sich in Isolationshaft.

| Samuel Stuhlpfarrer
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