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Indien (III): Die Wiederentdeckung der Religion
Mittwoch, 13. Mai 2009
Der autoritären Nachkriegsordnung den Rücken zu kehren, dem Zwang, Trott und Konsumdrang des „Wirtschaftswunders“ zu entfliehen und ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu führen, veranlasste viele Hippies in den späten 60er Jahren, in Indien eine neue Sinngebung zu finden. Diese „Karawane der Blumenkinder“, meist abenteuerliche Reisen am Landweg, fand ein vorläufiges Ziel in Poona, in Goa oder in einem indischen Ashram. Die Beatles waren Maharishi Mahesh Yogi schon 1968 in seinen Ashram nach Rishikesh gefolgt, Tausende taten es ihnen nach. Indien wurde zum Synonym für Spiritualität und Transzendenz, für Meditation und Yoga, für Wiedergeburt und Erleuchtung.

40 Jahre zuvor hatte ein Mann die Welt schon nach Indien blicken lassen; Mohandas Karamchand Gandhi, später Mahatma, „die große Seele“, genannt, vereinte Spiritualität und politische Aktion in einer Person. Er wurde zum internationalen Symbol für gewaltfreien Widerstand gegen Imperialismus und Kapitalismus, war aber auch Ideal für spirituelle und alternative Bewegungen und wurde damit zum Vorbild für große Teile der Menschheit.

Gandhis Erbe ist vergessen.
„Namaste“, der indische Gruß, der mit gefalteten Händen vor dem Herzen und einem Kopfnicken begleitet wird, bedeutet soviel wie „Ich verneige mich vor Dir, weil Gott in Dir ist“. Im Gegensatz zu anderen Religionen ist in hinduistischen Religionen wie auch im Buddhismus die Suche nach dem Göttlichen auf die eigene Person gerichtet. Die Geste symbolisiert aber auch Respekt für die andere Person, was Gandhi veranlasste, die Hand nach Unberührbaren im eigenen religiösen System wie nach Andersgläubigen auszustrecken. Ein orthodoxer Hindu hat Gandhi für dessen Sympathien mit den Muslimen 1948 – ein halbes Jahr nach der Befreiung Indiens von den Kolonialfesseln – ermordet; er sah eine alte Ordnung in Gefahr. Eine starke Hierarchisierung und eine daraus abgeleitete wirtschaftspolitische Gliederung nach Kasten hatte über die letzten 2000 Jahre in Indien ein stabiles Gesellschaftssystem entstehen lassen, das Invasionen und Fremdherrschaften überstanden hatte. Vor mehr als 60 Jahren hat Gandhi mit seinem politischen wie spirituellen Modell Indien in die Unabhängigkeit geführt. Welche Bedeutung hat sein Vorbild, sein spirituell verankertes politisches Handeln im Indien des 21. Jahrhunderts?
Der Schweizer Journalist Bernard Imhasly begibt sich in seinem Buch „Abschied von Gandhi?“ auf die Suche nach dem „Vater der indischen Nation“ im heutigen Indien. Gandhis Konterfei findet er zwar auf jeder indischen Banknote, Gandhis Geburtstag, der 2. Oktober, wurde kürzlich zum internationalen Tag der Gewaltlosigkeit erklärt, aber Gandhis Ansätze findet er weder in den vibrierenden Städten noch in den ländlichen Gebieten, weder in der Verfassung noch im politischen Stil des Landes bzw. in einer verantwortungsbewussten Partizipation seiner BürgerInnen, weder in einem respektvollen Umgang mit Minderheiten noch im gerechten Zugang zu Bildung und Karrierechancen – laut Bericht der Sachar-Kommission sind nur drei Prozent der öffentlich Bediensteten Muslime, obwohl diese 13 Prozent der indischen Gesamtbevölkerung stellen.

Re-Spiritualisierung. Westlichen BesucherInnen erscheint Indien als ein tief religiöses Land. Schon bei der Ankunft wird man in Taxis von blinkend leuchtenden kleinen Götteraltären am Armaturenbrett bzw. Wimpeln oder Aufklebern diverser Schutzheiliger empfangen. Mit Blumengirlanden und Räucherstäbchen geschmückte Bäume, Steine, Schreine oder Götterstatuen prägen neben Mandirs (hinduistische Tempel), Moscheen und Gurdwaras (Sikh-Tempel) das Straßenbild auch in großen Städten. Heilige Tiere wie Affen oder Kühe, die meist in Herden auftreten und mit steigender Beschleunigung zum Verkehrsproblem werden, zumal sie nicht beleuchtet sind, was nach Einbruch der Dunkelheit immer wieder zu Anfahrunfällen führt, sind allgegenwärtig. Heilige Städte wie Pushkar halten sich an Jahrtausende alte Reinheitsgebote und verbieten jeglichen Konsum von Fleisch, Fisch, Eiern und Alkohol im gesamten Gemeindegebiet. Jedes Hindu-Unternehmen – vom Straßenhändler bis zum IT-Giganten – besitzt einen Altar für den Elefantengott Ganesh, der wirtschaftlichen Erfolg garantieren soll. Rat und Weiterbildung wird oft in Ashrams, Schreinen und Tempeln oder bei Gurus (geistigen Lehrern) gesucht; diese Gemeinschaften sind oft wichtiger sozialer Treffpunkt sowie gesellschaftlicher Referenzrahmen und bieten neben seelischer Versorgung nicht selten Unterkunft und Ausspeisung für ihre BesucherInnen.
Fern vom Ashram oder Tempel gibt es die Möglichkeit über eigene Fernsehsender an Zeremonien bzw. Unterweisungen in Yoga und Glaubenslehre teilzunehmen. Zahlreiche Verfilmungen der großen indischen Epen erfreuen sich großer Beliebtheit bei jung und alt, „devotional music“ (religiöse Musik wie das Singen von Mantras) stellt neben Bollywood-Film-Schlagern den wichtigsten Teil des indischen CD und Musik-Kassetten Marktes dar. Sufi-Musik-Festivals werden von Delhis Elite gestürmt.
Zudem ist eine Re-Spiritualisierung von Teilen der urbanen Bevölkerung zu beobachten. InderInnen haben in den USA und Europa mit Yoga, Ayurveda und Alltagsspiritualität viel Geld und große Karrieren gemacht, mittlerweile entdecken sie ihr ehemaliges Heimatland als neuen Absatzmarkt und erobern mittels Büchern, Zeitschriften, CDs, DVDs, Internet und Fernsehsendungen eine urbane Elite mit westlich-orientiertem Konsumverhalten; Deepak Chopra lädt sie beispielsweise wöchentlich auf eine „Journey to Happiness“ im Fernsehen ein. Im modernen wie im traditionellen Indien stellen die verschiedenen Religionen eine wichtige Einkommensquelle für viele Menschen dar.

Religiöse Vielfalt per Verfassung – Indischer Säkularismus. Religion ist ein wichtiges identitätsstiftendes und gruppenbildendes Element in der indischen Gesellschaft. Schon während des sensiblen und integrativen Prozesses der Herausbildung einer indischen Nation war man sich dessen bewusst und bemühte sich der großen Vielfalt der Religionen in der Verfassung gerecht zu werden. In Indien wird häufig auf den Hindi-Ausdruck „sarv dharm sambhav“ („alle Religionen (sind) möglich“) verwiesen, denn in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen religiös ist und ihr Leben nach religiösen Gesetzen ausrichtet, könne Religion nicht aus dem öffentlichen Leben verbannt werden. Säkularismus als religiöse Koexistenz, als interreligiöse Toleranz bzw. als Gleichachtung aller Religionen verstanden garantiert jeder Religionsgemeinschaft per Gesetz das Recht auf freie Ausübung bzw. eigene Bildungsinstitutionen, die teilweise sogar vom Staat mitfinanziert werden. Somit widerspricht dieses Konzept der westlichen Interpretation von Säkularismus, nämlich als klare Trennung von Religion und Politik. Der offizielle Kalender Indiens spiegelt dieses Denken wider: hohe Festtage der Hindu-Religionen wie des Islam, des Buddhismus, des Jainismus, des Zoroastrismus und des Christentums überladen das indische Jahr mit vielen Bank- und Schulfeiertagen.

„Saffronisation“.
Aber schon 1963 warnte der damalige Premierminister Jawaharlal Nehru vor der Gefahr hindu-nationalistischer Kräfte, 46 Jahre später ist die Gefahr eine gegenwärtige. Religionszugehörigkeit wird zum politischen Wahlprogramm, die Unterordnung unter die angeblich einheitliche Religion der Bevölkerungsmehrheit zur Wahlpropaganda, Hindutva zum Wahlziel, zum Schlagwort für eine kulturelle Erneuerung. Safrangelb ist die Farbe des religiösen Hinduismus, „Saffronisation“ bezeichnet den politischen Hindunationalismus und beschreibt dessen Bemühungen, nicht nur Indiens Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit des Landes, beispielsweise durch das Umschreiben der Geschichtsbücher, safrangelb zu färben. Damit soll eine Homogenität erzeugt werden, die es in Wirklichkeit nicht gibt und die es nie gegeben hat. Bis heute haben Hindus keine zentrale Organisation oder Kirche, weder verfügen sie über eine einheitliche Tradition noch über einen Kanon grundlegender Glaubensvorstellungen. Der Terminus „Hindu“ war zunächst eine Fremdbezeichnung, die von muslimischen Eroberern für alle EinwohnerInnen jenseits des Indus verwendet wurde, er erscheint in diesem hoch politisierten Kontext noch problematischer für eine „imagined community“ (Solidargemeinschaft), die im Alltag eine mannigfaltige Pluralität an religiösen Ausdrucksformen und Geisteshaltungen darstellt.

Nehrus Urenkel: Die Richtungsentscheidung steht bevor. Die BJP (Bharatiya Janata Party) als rechtskonservative, hindu- nationalistische Partei hat in den letzten 20 Jahren die Politiklandschaft Indiens vollkommen verändert. 1990 brach der BJP-Politiker Lal Krishna Advani zu einer Rath Yatra (Pilgerreise) durch ganz Nordindien auf, um Leute auf eine hindu-nationalistische Linie einzuschwören. Eine geschickte Verquickung von religiösen und politischen Elementen bot vielfache Identifikationsmöglichkeiten und konnte so ein äußerst breites Spektrum an Menschen vereinen, welche schließlich als Wählerschaft für die BJP mobilisiert wurden. Die BJP ist ideologisch Teil eines Verbundes von hindunationalistischen Organisationen („Sangh Parivar“). Hierzu gehören auch die als nationales Freiwilligenkorps agierende „Rashtriya Swayamsevak Sangh“ (RSS), die letzten Berichten zufolge an 35.790 Orten über ganz Indien Einheiten hat und beispielsweise 17.369 Schulen mit 2 Millionen Kindern und 93.000 LehrerInnen unterhält sowie über 27 Hochschulen verfügt. Damit ist die RSS die größte NGO des Landes. Offiziell als Kulturorganisation geführt, die sich der Erhaltung des hinduistischen Kulturerbes widmet, ist sie in der Praxis eine paramilitärische Organisation, die in der gegenwärtigen Präsenz eine parastaatliche Struktur innerhalb des indischen Staates darstellt.
Ihre Schlägertrupps waren im Oktober 2008 dabei gefilmt worden, wie sie Mädchen in Lokalen in Mangalore attackiert und gewaltsam vertrieben hatten. Auch Kirchen waren Ziele ihrer Angriffe mit dem Ziel, eine Art hinduistischer Kulturerneuerung im Bundesstaat Karnataka durch die neue BJP-Regierung voranzutreiben. Traurige Berühmtheit erlangten sie in Gujarat 2002 durch gezielte Attacken gegen Muslime, die Hunderte Todesopfer und Zehntausende Vertriebene zur Folge hatten.
Als BJP-Kandidat ließ Nehrus Urenkel Varun Gandhi (Sohn von Sanjay Gandhi) im aktuellen Wahlkampf mit Hetzreden gegen Muslime aufhorchen. Der weitaus berühmtere Urenkel, Rahul Gandhi (Sohn von Rajiv Gandhi), kandidiert an prominenter Stelle für die regierende Kongress-Partei. Nehrus Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Er hätte sich wohl nicht gedacht, dass seine eigenen Nachkommen die zwei unterschiedlichen Entwicklungswege Indiens symbolisieren werden. Für welchen Gandhi werden sich die indischen WählerInnen entscheiden?

Mag.a Dr.in Margit Franz ist freie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Zeitgeschichte der KFU Graz . Margit Franz lebte von 2002 bis 2007 in Indien und arbeitete am Alternative Development Center in Jaipur, Rajasthan.

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