Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Die Leiden einer Kassiererin
Freitag, 10. April 2009

WoWagners Gartenlaube fortschrittlichen Schrifttums - von Wolfgang Wagner

Here we go again (leise und melodisch gesummt). „Jobs gefährdet, zu wenige Jobs, Wirtschaftskrise frisst Jobs, neue Jobs, Jobs, Jobs, …“

Ich nehme meine Schwarz- und Weißstifte zur Hand, um ein möglichst scharfes Bild hinzubekommen: Wenn Parteien, Gewerkschaften und Co. sich nicht von ihrer quasi-religiösen Fantasie von dem Himmelreich der Vollbeschäftigung verabschieden und das Arbeitsmarktservice seine teilweise grotesken Zumutbarkeitsbestimmungen nicht kritisch reflektiert, werden immer mehr Menschen in absurden Arbeitskonstellationen landen. Es werden sich nicht nur mehr Kommunikationswissenschaftler unter den Kellnern und Taxifahrern, sondern auch mehr Vegetarier im Schlachthof, Pazifisten in der Waffenfertigung und religiöse AsketInnen in der Sexindustrie wiederfinden. Solche und ähnliche Gedanken gingen mir gestern durch den Kopf, als ich in meinem
Laden gemütlich, die Beine ausgestreckt (nicht auf dem Tisch) in dem - fast zu - leichtfüßig geschriebenen Buch von Anna Sam las. Ich wollte mich gerade aufraffen, ein paar Notizen aufs Papier zu werfen, als ein Kunde den Laden betrat und mich in ein Gespräch über die Absurdität des gegenwärtigen Lebens hinter der glänzenden und brüchigen Fassade der virtuellen Wirklichkeiten verwickelte. Das Gespräch passte gut (besser als ich es hier wiedergebe) zu dem Thema, wenngleich ich darüber meine Formulierungen vergessen hatte, die ich eben hatte niederschreiben wollen. Nun gut – werfen wir einen kurzen Blick auf das vergnügliche Leben der Kassierin (Pardon, soll heißen „Servicemitarbeiterin Kasse“) Anna Sam: „Stellen sie sich einmal folgende Situation vor: Der Supermarkt ist brechend voll. Sie sitzen seit zwei Stunden an der Kassa und warten vergeblich darauf, dass sich der Drang, sich zu erleichtern, verflüchtigen möge,... Unglücklicherweise vergeht der Drang nicht, und plötzlich wird ihnen klar: Wenn sie jetzt nicht fragen, ob sie zur Toilette gehen können, geschieht ein Unglück. Sie greifen zum Telefonhörer und versuchen, so diskret wie möglich zu sein, damit der Kunde vor ihnen nicht erfährt, dass ihre Blase voll ist. Währenddessen schieben sie weiter Toilettenpapier und Schinkenscheiben über den Scanner.“ (Vgl. S. 105 f.) Die Kassiererin muss nicht nur – wie ein Kind in einer autoritären Schule – fragen, ob sie aufs Klo darf, sondern ist auch noch einer großen Zahl von anderen Anfechtungen ausgesetzt. Eine davon ist die, dass die Kunden dazu neigen, die Kassiererin mit ihrer Kasse zu verwechseln, also sie für eine Maschine halten („Haben sie offen?“). Das ist diese natürlich nicht, wenngleich ihr Arbeitstag von einer erschütternden Anzahl von Wiederholungen gekennzeichnet ist. Während die Kassiererin 15 bis 20 Artikel pro Minute (Mittelwert) einscannt – Biep! Biep! Biep!... usw. – natürlich auch davor und danach – hat sie Zeit pro Tag 250-mal „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“, 500-mal „Danke“, 200-mal „Haben sie eine Kundenkarte?“, 70-mal „Können sie ihre Karte wieder einstecken?“ und 30-mal „Die Toiletten sind da drüben“ zu sagen (Vgl. S. 32). Die Heldin des Buches erlebt eine ganze Reihe von typischen und zum Teil vergnüglichen Szenen. Stellvertretend sei ein appetitliches Beispiel angeführt: Eines Tages überträgt sich eine klebrige Masse von einer Chips-Packung auf die  Hand der Kassiererin. Als sie Zeit findet, die Konsistenz der feuchten Klebrigkeit zu überprüfen, entpuppt sich die Zeug als Rotz des Kunden (Vgl. S. 136). Ich erinnere mich einmal eine Kassiererin angetroffen zu haben, die hektisch und mit erstickt würgenden Lauten mit einem Wischfetzen herumhandierte. Ich vermute, es dürfte ihr etwas Ähnliches zugestoßen sein. An dieser Stelle deponiere ich eine Warnung: Das Buch könnte bewirken, dass sie ihre Kassierin  als Mensch wahrnehmen. Es könnte ihnen allerdings auch passieren, dass sie sich in dem einen oder anderen der in dem Buch beschriebenen schrulligen oder gar unangenehmen Kunden wiedererkennen. Unter Umständen könnte sogar ihr Weltbild ins Wanken geraten, wie das der Mutter, die ihrem Kind erklärt: „Lern brav, sonst geht es dir so wie der Dame da!“ und damit eine Kassiererin meint, die daraufhin sagt: „Ich habe mein Studium im Vorjahr mit Bestnote abgeschlossen!“ (Vgl. S. 100)

Sam, Anna: Die Leiden einer jungen Kassiererin (Riemann Verlag/2009). Preis: 12,90 Euro
Anna Sam (28) ist Frankreichs bekannteste Supermarkt-Kassierin. Während und nach Abschluss ihres Literaturstudiums jobbte sie in Rennes bei einer Großmarktkette. Sie begann ihre Erfahrungen in einem Web-Log zu veröffentlichen, der zu einem Überraschungshit wurde.

Wolfgang Wagner ist Inhaber der Buchhandlung „Wendepunkt“ in Graz.
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