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Virginia Woolf, Nabucco, wirkinderdesnetzes
Dienstag, 10. Februar 2009

Fußfrei – Theatertrips und -tipps - von Willi Hengstler

Connaisseure der Selbstentblößung,  Nahostkonflikt, Identität und sonst gar nix

Connaisseure der Selbstentblößung

Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ war eine der wenigen Stückverfilmungen, die es wirklich in die Massenkultur schafften. Mit dem heftig verheirateten Superehe- bzw. Skandalpaar Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen sprengte Regisseur Mike Nichols Film die Grenzen einer bildungsbürgerlichen Pflichtveranstaltung im Kino – ähnlich wie Albees Text die Grenzen der Belletristik sprengte und zur gruppendynamischen Referenzliteratur in Watzlawicks „Menschliche Kommunikation“ wurde.
In Albees modernem Klassiker bringt Marthe, alkoholisierte Gattin des leidlich erfolglosen Geschichteprofessors George, den neuen Biologieprofessor Nick und seine Frau Putzi mit. Was folgt sind schonungslose wechselseitige Bloßstellungen der Gastgeber und die Instrumentierung der Gäste als Stichwortgeber und Spielmaterial. Am Ende einer mörderischen, mit unglaublich viel Alkohol verrührten Eheschlacht erwartet das erschöpfte Paar den Sonntag…
Tom Kühnel, der Albees „Virginia Woolf“ auf der großen Bühne des Schauspielhauses in Szene setzt, hat ein Problem. Vor 50 Jahren war die obsessive Offenheit der Dialoge noch tief verstörend. Im Zeitalter des Privatfernsehens, wo in den Talk Shows jeder lustvoll sein Intimstes einem Millionenpublikum anvertraut, lassen sich die Connaisseure der Selbstentblößung kaum mehr erschüttern. Allenfalls fragt sich der/die ZuseherIn irritiert, was es mit der Pagode auf sich hat, die auf der Bühne von Jo Schramm gelegentlich entfaltet und wieder zusammengeklappt wird. Nachvollziehbarer ist eine Plattform und eine zur Bar umgebaute lebensgroße Venus von Willendorf, die sich wohl auf den Alkohol als die Muttermilch der westlichen Zivilisation bezieht.
Gespielt wurde ziemlich gut bis großartig. Carolin Eichhorst war eine Putzi ohne Verzierungen; Steffi Krautz als alkoholisierte Mänade hatte Gelegenheit viel Dynamik und etwas Sex zu zeigen. Der Geschichteprofessor George von Dominik Warta war cool und böse, und Julian Greis hielt sich durchaus wacker neben ihm … Wenn auch beide Herren eigentlich eine Spur zu jung waren. Neugieriger wäre ich auf Dominik Warta als Nick und beispielsweise Götz Argus als George gewesen.
Ein spannender, wenn auch nicht großer Theaterabend. Noch zu erleben am 11.2., 12.2. und am 7.3.,  17.3. und 27.3.

Nahostkonflikt

Nach der musikalisch hervorragenden Premiere von Verdis „Nabucco“ mischten sich in den verdienten Beifall einige Pfiffe, die der vermeintlich modernen Inszenierung galten. Der einspringende Nothelfer Jörg Koßdorff hatte in seiner ersten, nach oben hin gedeckelten Inszenierung das Orchester über dem Bühnengeschehen platziert. Die oben hatten das Vergnügen, dem bestens disponierten, rhythmisch präzise und sinnlich spielenden Grazer Philharmonischen Orchester unter Johannes Fritzsch bei der Arbeit zuzusehen. Dafür blieb ihnen das Gedränge der Juden und Babylonier – ein im Übrigen sicherer, kraftvoller Chor – tief hinten in der bunkerartigen Bühnenstruktur verborgen.
In Verdis Nabucco geht es um den babylonischen Kaiser Nabucco (Nebukadnezar), der grade dabei ist, Jerusalem einzunehmen, aber mit seinen beiden Töchtern, der bösen Abigail und der guten Fenena, nichts als Schwierigkeiten hat. Beide lieben Ismael, der will aber nur Fenena, weil sie ihn aus der babylonischen Gefangenschaft befreit hat. Fenena, die Befreierin, ist damit selbst zur Gefangenen der Juden geworden, die mit ihr als Geisel dem Wüten ihres Vaters Nabucco Einhalt gebieten wollen. Die von Ismael zurück gewiesene Abigail bezichtigt später die regierende Fenena des Verrates, ursupiert die Herrschaft, während Nabucco in Kriegsgeschäften abwesend ist, und nimmt die von Fenena beendete Judenverfolgung wieder auf. Der zurückkehrende Nabucco setzt sich Gott gleich, wird dafür mit Wahnsinn gestraft und zum Gefangenen im eigenen Palast. Aber schließlich kommt er wieder zu Sinnen, tritt zum mosaischen Glauben über, und sein als öde Lumpenskulptur getarnter Hausgott Baal stürzt freiwillig in sich zusammen. Abigail stirbt, und leider muss auch Fenena, die Gute, im Gegensatz zum Libretto von Temistocle Solera, dran glauben.
Eine aktuelle Deutung dieser Geschichte aus dem Nahen Osten durch das Regietheater würfe Probleme ohne Ende auf: Verwandelt sich die Hamas in Babylonier, die den Tempel in Jerusalem einnehmen? Oder treten die Israeliten an Stelle der Babylonier und die Palästinenser werden gar zu den Juden in Verdis Oper? Oder übernehmen die Amerikaner die Rolle der Babylonier und die Iraker geben die Juden?
Koßdorff legt dafür das Gewicht auf den Generationen- und Liebeskonflikt, ohne sie allerdings herauszupräparieren. Im Spannungsfeld zwischen Menschheitsgeschichte und Melodram bekommen die Sänger in ziemlich unmöglichen Kostümen wenig Chance, ihre Konflikte schauspielerisch auszudrücken. Dafür ist ihre musikalische Interpretation überzeugend. Am überzeugendsten wohl Stefan Kocán als Zacharias mit seinem unerhört machtvollen Bass, neben dem der Tenor von Taylan Memioglu als Ismael leicht abfällt. Mlada Khudoley bildet als Abigail, indem sie schwierige Passagen souverän bewältigt, ein musikalisches Zentrum der Aufführung. Ausladend und wuchtig neben ihr der Oberpriester von Konstantin Sfiris. Kateřina Jalovcová mit ihrem strahlenden Mezzosopran ist in der Rolle der Fenena auch schauspielerisch überzeugend. Und der Bariton von Mark Rucker präsentiert zwar die in der Titelrolle liegende Macht, dafür etwas weniger die ebenfalls vorhandene, abgrundtiefe Verzweiflung.
Eine musikalisch hervorragende Aufführung. Noch am 12.2., 27.2. sowie am 7.3., 13.3. und 22.3.

Identität und sonst gar nix

Ein überdimensionierter Hochtöner auf Stelzen dient als Guckkasten, als Wohnzimmer und natürlich als auch als Metapher – ähnlich wie die von allen vier Spielern getragenen T-Shirts mit der Aufschrift „Ich bin’s“ oder später die abgelöste Gesichtshaut, die dasselbe Gesicht darunter freigibt. Während das Publikum die Plätze einnimmt, tanzt einer (langsam) zu einem hypnotischen Sound, dabei umspielt von Milchstraßenprojektion. Dann beginnt, während drei Typen zu ebener Erde hektisch auf ihren Tatstaturen klappern, Sebastian Reiß (toller Einstieg) epileptisch ruckend von polnischen Typen zu erzählen, die irgendwie von den Amis via Rückenmark infiziert und ferngesteuert würden … Aber dann handelt es sich doch nur um eine, wenn auch ziemlich gekonnte Textfläche, die Dorota Maslowska aus dem „Kultblog“ einer polnischen Bloggerin mit dem Pseudonym @linka (Alinka) destillierte. Und dieser Blog heißt eben „wirkinderdesnetzes“.
Dabei ist die Inszenierung von „wirkinderdesnetzes“ durch Christina Rast hinsichtlich der einzelnen Elemente außerordentlich gelungen. Das gilt für das Bühnenbild ebenso wie für die Kostüme (beides Franziska Rast), und das mitreißende Spiel der vier Blogger Thomas Frank, Alexander Rossi, Sebastian Reiß und Franz Solar. Vor allem Franz Solar stattet seine Blogger-Frauenidentität mit sparsamen, naturalistischen Details von stiller Komik aus. Das Ende von „wirkinderdesnetzes“ ist genial: Die Spieler werden ihre Blogsucht nicht los, und während sie in ihrem Hochtöner sitzen bleiben, werden sie statt vom freien Weltraum von einem Spinnwebenetzprojektion umfangen: Altern, Gefangenschaft und Internet in einem Bild.
Und wer ist jetzt @linka? „Eine der braun gebrannten Vertreterinnen der xxy Generation, die verrückt sind nach heruntergeladenen Handy-Hintergrundbildern? Ein dünner Junge mit asymmetrischem Pony und bloßen Füßen in weißen Tennisschuhen, der Independent-Musik hört? Ein Kinderschänder? Eine Post-Lacan-Feministin, noch außer Atem von einem H&M ...“
Was dem Text Dorota Maslowskas, einer der erfolgreichsten Vertreterinnen der jungen polnischen Literaturszene, und auch der Aufführung abgeht, ist ein Verhältnis zu sich, ein Reflexionsrahmen. Christine Rast, die schon mit Stasiuks „Ostmark“ und später mit Othello reiche Theaterentwürfe auf die Bühne brachte, hatte mit „wirkinderdesnetzes“ zwar keine Chance, nutzte sie aber überzeugend. Gespannter wäre ich auf eine Arbeit von ihr endlich auf der großen Bühne.
Wunderbarer, aber anstrengender Abend, noch am 25.2., sowie am 6.3., 17. 3. und am 30.3.

 

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