Karl Wimmler: Meine heimatliche Fremde„Ich war vermutlich“, begann mein jüngster Bruder nach einer längeren Pause, „nicht alt genug, um vieles zu verstehen“. Er hielt inne und fügte dann hinzu: „Ich hab auch immer wieder Probleme damit, persönliche Dinge und politische Ansichten zu verbinden. Manchmal steht das eine dem anderen im Weg.“ Das, was er „persönliche Dinge“ nannte, sind in Wirklichkeit familiäre Verstrickungen. Berührungspunkte mit Verbrechen der Vergangenheit, über denen eigentlich ein Schleier des Vergessens liegt, die aber in den Opfern fortwirken. Und in denen, die die Taten vergessen machen wollen oder leugnen.
Oder die Täter freisprechen. Oder die Täter sogar als spätere Opfer bemitleiden. Und ihren Angehörigen. Kaum jemand hat diese den intimen und persönlichen Bereich der eigenen Person betreffende Problematik hierzulande so packend und eindrucksvoll recherchiert und beschrieben wie Martin Pollack, Journalist, Übersetzer (Kapuscinski!) und Schriftsteller. Mit einer Akribie, die einer Besessenheit nahe kommt, war er seinem Vater, den er nie persönlich kennen gelernt hatte, auf die Spur gekommen. Eine Blutspur („Der Tote im Bunker“).
Von Mann zu Mann. „Ich erinnere mich“, so erzählte mein Bruder weiter, „dass ich als Bub in Gaishorn war und mit einem alten Mann auf der Hausbank gesessen bin.“ Gaishorn in der Obersteiermark, Paltental. „Der Mann hat ruhig und langsam gesprochen. Er war richtig nett zu mir. Wenn man so neben einem Menschen sitzt, der eine derartige Ruhe ausstrahlt, könnte man meinen: Alles wunderbar.“ Und ein wenig später fügte er noch hinzu: „Was bei mir übriggeblieben ist, war eigentlich ein sehr positives Bild von einem Mann, der sich Zeit genommen hat, mit einem Buben zu sprechen, so von Mann zu Mann.“ Und mein Bruder unterhielt sich mit mir über die Naivität der Jugend, und welch eigenartige Faszination manchmal Großeltern oder alte Leute auf Kinder oder Jugendliche ausüben. Allein die Bedächtigkeit vieler Alter erscheint einem als Kind manchmal als Abgeklärtheit. Alles scheint Ruhe auszustrahlen. Und tut es oft auch.
5000 in den Tod geschickt. Der alte Mann, der da mit meinem Bruder auf der Hausbank seines Bauernhofes gesessen war, hieß Franz Murer. Von überlebenden Opfern „Schlächter von Wilna“ genannt. In Gaishorn hochbetagt und unbehelligt in den Neunzigerjahren gestorben. Nach zwei Jahrzehnten des Schweigens war sein Name Mitte der Achtziger Jahre wieder ins Gespräch gekommen, als sein Sohn Gerulf in der SPÖ-FPÖ-Koalition als FPÖ-Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium fungierte. Aber die kritischen Stimmen wurden kaum gehört. Vielleicht auch, weil Murer senior als jahrzehntelanger, aber nicht mehr aktiver ÖVP-Funktionär nicht ins Schema des damals breit debattierten Konflikts zwischen dem abgedankten SP-Kanzler Kreisky und Simon Wiesenthal (der die Vergangenheit des FPÖ-Obmanns Peter angriff) passte. Und Franz Murer war, was Friedrich Peter nicht nachgewiesen werden konnte: Kriegsverbrecher. Einer, dessen Name nach 1945 erstmals bereits im Nürnberger Prozess von einem Überlebenden des jüdischen Ghettos in Wilna/Vilnius (Litauen) als einer der Hauptverantwortlichen genannt worden war. Für die Vernichtung der Juden im Wilnaer Ghetto im Allgemeinen und schikanöse Befehle im Besonderen. Von Sommer 1941 bis Sommer 1943 als Stabsleiter und Adjutant des Gebietskommissars in Wilna-Stadt. Jenem „Jerusalem Litauens“, in dem die jüdische Bevölkerung zwischen 1941 und 1945 von 80000 auf 2000 dezimiert worden war. Nachdem Franz Murer 1947 beim Landesgericht für Strafsachen Graz wegen Massenerschießungen, Selektierungen Arbeitsunfähiger, Kinder oder alter Menschen sowie Ermordung bestimmter Juden angeklagt worden war, wurde er 1948 an die Sowjetunion ausgeliefert. Im September 1948 wurde er in Vilnius vor ein Kriegstribunal gestellt und schließlich unter anderem wegen der persönlichen Selektion von Juden (wobei er über 5000 in den Tod geschickt haben soll) und wegen der Erschießung von zwei Jüdinnen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1955 wurde er in Folge des Staatsvertrages den österreichischen Behörden als Kriegsverbrecher übergeben, jedoch gesetzeswidrig von Amts wegen nicht mehr verfolgt: Das Strafverfahren wurde eingestellt. Nachdem im Zuge des Eichmannprozesses in Jerusalem der Druck auch auf Österreich zur Verfolgung von Kriegsverbrechern gestiegen war und im Justizministerium immer neue Zeugenaussagen gegen Murer eintrafen, wurde das Verfahren 1961 in Graz wiederaufgenommen.
Ein Buch, das nie erschien. Franz Murer war damals angesehener obersteirischer ÖVP-Politiker und Obmann der Bezirksbauernkammer Liezen. Es durften allerdings, so die nicht selten geheimnisvollen Wege der Justiz, nur mehr jene Verbrechen angeklagt werden, die der Staatsanwaltschaft 1955 noch nicht bekannt waren. Der folgende Prozess und die Vorgänge nach seinem Ende gerieten zum eigentlichen Skandal. Ein Grossteil der österreichischen Medien kritisierte den Prozess von Beginn an. Tenor: Völlig überflüssig! „Allein an Fahrtspesen und Verdienstentschädigung muss der österreichische Staat 75000 Schilling für jüdische Zeugen aus den USA und anderen Staaten aufbringen!“(Wiener Montag). Nach 25 Monaten Untersuchungshaft wurde Murer im Juni 1963 freigesprochen. Nachdem Beobachter unter anderem berichtet hatten, dass „die Söhne des Angeklagten jüdische Zeugen verhöhnten“.
„Durch ein Spalier jubelnder Menschen“, schrieben die Historiker Halbrainer/Karny dreissig Jahre später, „bahnte sich Murer den Weg zum Ausgang. Blumenstrauß um Blumenstrauß wurde ihm überreicht. Die Floristen in der Umgebung des Landesgerichts sollen leergekauft gewesen sein. Draußen stand ein Mercedes. Am Steuer saß Richard Hochrainer“, der kurz zuvor erst von der Anstiftung zum neunfachen Judenmord freigesprochen worden war. In einem ebenso dubiosen Prozess. – 1989 kündigte der FPÖ-Abgeordnete zum Nationalrat (und Träger des Großen Silbernen Ehrenzeichens am Bande für Verdienste um die Republik Österreich), Ing. Gerulf Murer, an, neutrale Historiker aus Deutschland würden mit einem von ihnen verfassten Buch die Unschuld seines Vaters Franz Murer beweisen. Das Buch ist bis heute nicht erschienen.
Väter. Von diesem Franz Murer, den er einmal als Freund betrachtet hatte, sprach mein Bruder, als er schließlich kopfschüttelnd eingestand: „Er hat einen starken Eindruck gemacht – selten überheblich, immer bestimmt.“ Als ich vorsichtig einwerfe: „Und kein Anflug von Zweifel?“ – „ Das Wort Zweifel passt nicht zu seiner Person. Dieses Wort kannte sein Wortschatz nicht.“ – Wie solchem Grauen entkommen? – Meinen Bruder zog es vor fast zwei Jahrzehnten nach Australien, wo er heute lebt. – Die deutsche Filmemacherin Carla Knapp andererseits ließ für ihren vor rund zehn Jahren entstandenen Dokumentarfilm „Wir leben ewig“ (erstmals gezeigt bei der Diagonale in Graz im Jahr 2000) Überlebende des Wilnaer Ghettos zu Wort kommen. Sechs Frauen, die zur Zeit der deutschen Besatzung Kinder oder bereits junge Erwachsene waren, zum Zeitpunkt der Aufnahmen in Jerusalem, Wien, Vilnius, St. Petersburg und Tel Aviv lebend. Die Rahmenhandlung bildet ein Mitschnitt eines Konzerts der Musikgruppe gojim im Wilna-Haus in Tel Aviv, in dem diese nichtjüdischen Musiker Ghetto-Lieder vor Überlebenden und ihren Angehörigen darbieten. In einem Interview zu diesem Film erwähnte Carla Knapp beiläufig: „Da ich von meinem Vater, der Funker bei der deutschen Wehrmacht gewesen war, keine Antworten erhielt, war für mich die Beschäftigung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus sowohl ein persönliches Bedürfnis wie auch politische Notwendigkeit.“ – Als mein eigener Vater kürzlich zu Grabe getragen wurde, wurde der Sarg unter anderem gesäumt von einem charakteristischen Kranz. Auf der Schleife stand: „Letzte Grüße vom Funktrupp Edelweiss“. Vilnius-Partisaninnen heute Die Geschichte schlägt manchmal komische, traurige, absurde oder perverse Purzelbäume. Fania Branstovsky, eine der jüdischen Frauen aus dem in der Geschichte erwähnten Film Wir leben ewig, wurde in Vilnius heuer wegen angeblicher Kriegsverbrechen von den Behörden zu Verhören geladen. Landesweite und lokale litauische Medien brandmarkten sie als „Terroristin“ und Mörderin. Vorwurf: Kooperation mit der einzigen militärischen Kraft, die damals in Litauen nicht gegen die Juden vorging, der Roten Armee. Die Tageszeitung Lietuvos aidas sprach in diesem Zusammenhang von dem „in Israel geborenen Juden Adolf Eichmann“ und machte die Zionisten für den Genozid an den Juden verantwortlich. Rachel Margolis, eine derzeit in Israel lebende weitere Frau aus dem Film, Partisanin während der Nazibesatzung und Gründerin des Jüdischen Museums in Vilnius, war in Sorge, bei einer Rückkehr für Zeugenaussagen nach Vilnius verhaftet zu werden. Zumal gegen Yitzhak Arad, Historiker und früherer Präsident von Isreals Holocoust-Gedenkstätte Yad Vashem, ebenfalls wegen angeblicher „Partisanenverbrechen“ ermittelt wurde. (Quelle: Jewish Chronicles, London, 6.6.08) Die litauische Botschaft in London dementierte zwar offiziell Pläne einer gerichtlichen Strafverfolgung der Genannten. Davon unbeeindruckt beschuldigte allerdings das Jerusalemer Büro des Simon Wiesenthal Centers in einem Brief an den litauischen Botschafter in Israel die litauischen Behörden und Medien, „eine Kampagne zur Diskreditierung jüdischer Widerstandskämpfer zu führen, indem diesen fälschlicherweise Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, um damit von der weitverbreiteten litauischen Beteiligung am Massenmord von Juden während des Holocausts abzulenken.“
Warum nur hört man hierzulande von solchen Dingen im „Neuen Osteuropa“ so wenig? Etwa weil es nur ungebetene Misstöne bei der geschäftlichen Expansion wären? Und so unnötigerweise auf die Vergangenheit mancher Hiesiger ein unschöner Lichtstrahl fiele?
» 1 Kommentar
1Kommentar am Donnerstag, 8. April 2010 18:54
Ein sehr gut recherchierter und vor allem notwendiger Bericht! Sie schaffen es, viele verschiedene problematische Vorgänge in Litauen im Umgang mit diesem dunkelsten aller Kapiteln der Geschichte zusammenzubringen. Wie wenig man im Westen, speziell Österreich, an zeitgeschichtlicher Bildung und Bewusstsein hat, ist mehr als tragisch. Ich bin selber öfters in Vilnius und habe auch Kontakt zu Fania Brantsovsky und Rachel Kostanian, der Leiterin des Green House, das schwer auffindbare, unterbudgetierte und erschreckend ehrliche Holocaust Museum. Ein Muss für jeden Besucher in diesem ehemaligen Juwel des osteuropäischen Judentums! Und noch zum Schluss eine Reisewarnung für das unsägliche sogenannte \\\"Genozidmuseum\\\", das KGB-Museum, das ganz auf Regierungslinie, den Begriff \\\"Genozid\\\" verwässert und die Theorie des \\\"Doppelgenozid\\\" füttert. Liebe Grüße aus Vilnius!
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