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„Ich ersuche höflich um Übersendung des Geldes“. Entrechtung und Raub – Ein Fallbeispiel
Dienstag, 11. November 2008
Im November 1944 schreibt die 47-jährige Amalia Riemer in bitterer Verzweiflung an die Vermögensverkehrsstelle Graz.

Inhalt dieses knapp zweiseitigen Briefes ist die Bitte, man möge ihr doch Geld, das aus dem Inkasso der Außenstände ihres liquidierten Betriebes angefallen ist, überweisen. Denn „ich benötige dies dringend, da ich seit fast einem Jahr im Krankenstand bin. Infolge meiner Krankheit und durch den Umstand, dass mein Kind freiwillig in den Tod ging, bin ich nicht mehr im Stande zu arbeiten. Ich glaube Ihnen nicht versichern zu müssen, dass mir von meiner 20jährigen Arbeit nicht mehr blieb als mein Bett und ein Kasten.“

Amalia Riemer ist kein Einzelschicksal, sondern eine von Vielen, die nach dem März 1938 als Jüdinnen und Juden ihrer Würde, Familien, Existenz und nicht selten auch ihres Lebens beraubt wurden. Dafür verantwortlich waren all jene „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“, die sich mit großem Eifer am Raub beteiligten, wie auch die von Riemer kontaktierten Behörden und deren Beamte. Denn seit August 1938 lenkte und administrierte die in der Schmiedgasse 34 beheimatete Vermögensverkehrsstelle, Zweigstelle Graz, als „Arisierungsbehörde“ den Prozess der Existenzvernichtung und des Raubes. Dieser durchlief mehrere Phasen: Von der „wilden Arisierung“, dem willkürlichen Raub durch Nationalsozialisten im Zuge des „Anschlusses“ über die Phase der „Scheinlegalität“ durch eigene „Arisierungsgesetze“ über die Radikalisierung durch den Novemberpogrom bis zur völligen Beraubung durch die elfte Verordnung des Reichsbürgergesetzes von 1941, als man alle geflohenen und deportierten Jüdinnen und Juden ausbürgerte und ihr noch im Deutschen Reichs befindliches Vermögen zu Gunsten des Staates einzog.

Die „Lösung der Judenfrage“ als Kernthema. Das Wissen um die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung blieb jedoch nicht nur auf die „kühlen“ Bürokraten beschränkt, sondern war ein gesamtgesellschaftliches. Denn die Nationalsozialisten machten zu keinem Zeitpunkt ein Hehl aus ihren Plänen und Zielen. Vor allem der Antisemitismus und die damit einhergehende so genannte „Lösung der Judenfrage“ waren Kernthemen nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda. Und so genügt bereits ein kurzer Blick in die steirische Presse des Jahres 1938, um festzustellen, dass die Diskriminierung, Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ein öffentlicher Vorgang inmitten der Gesellschaft war.
Im Fall von Amalia Riemer geht diese Form der Öffentlichkeit sogar über die in der Regel allgemeine Berichterstattung über die Grundzüge der „Arisierung“ und deren Fortschritte hinaus, denn der „Fall Riemer“ wurde in der Tagespost gleichsam als Exempel, öffentlich verhandelt. Amalia Riemer, die nach den Nürnberger Rassengesetzen als „Arierin“ galt, war seit 1932 mit dem „Juden“ Karl Riemer verheiratet. Gemeinsam betrieben sie in Gösting eine Strickwarenmanufaktur mit einer Geschäftsstelle am Joanneumring 8. Die unmittelbar mit März 1938 einsetzende Diskriminierung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden ließ das Ehepaar Riemer nach einem Ausweg suchen, den sie in einer Scheidung sahen. Nach der Trennung wurden die Geschäftsteile von Karl auf Amalia überschrieben und Karl, der die tschechoslowakische Staatbürgerschaft inne hatte, floh im Juni 1938 in die Tschechoslowakei.


Mittellose Bittstellerin. Dieser Versuch, das gemeinsame Geschäft und die damit verbundene Existenz zu retten schlug allerdings fehl, und so wurde im August 1938 von der Vermögensverkehrstelle ein kommissarischer Verwalter mit der Liquidation des Betriebes betraut. Dieser kommissarische Verwalter, der aus dem Betriebskapital entlohnt wurde, ging sogleich dazu über, sich durch Verkauf von Lagerbeständen zu bereichern und zudem einen „Ariseur“ für die Maschinen zu suchen. Ebenso schloss er die Zweigstelle am Joanneumring. Die aus der „Arisierung“ der Maschinen und den übrig gebliebenen Lagerbestände eingenommenen Geldbeträge wurden schließlich auf ein Sperrkonto, auf das lediglich die Vermögensverkehrsstelle zugreifen konnte, einbezahlt und Amalia Riemer fortan zur mittellosen Bittstellerin degradiert. Zudem wurde sie mit 2. September 1938 wegen des Vergehens gegen die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938 von der Gestapo verhaftet und im November zu drei Monaten Haft und einer Geldstrafe von 5.000 RM verurteilt. Zwar wurde diese Strafe im Jänner 1939 reduziert, an der Existenzvernichtung änderte dies allerdings nichts mehr. Ohne Einkommen und auf das Wohlwollen der Vermögensverkehrsstelle angewiesen war sie vor allem um das Wohlergehen ihrer Tochter, die seit März 1938 als „Halbjüdin“ der unmittelbaren Verfolgung ausgesetzt war und in Graz auch keinen Unterschlupf mehr fand, besorgt. Diesbezüglich schrieb sie im April 1939:
„Ich ersuche nun nochmals höflichst, meinem Kinde, das in Wien bei fremden Leuten sich aufhalten muß, da sie meine Verwandten wegen seiner jüdischen Abstammung nicht behalten, Geld zu senden. Das Kind ist mittellos und ohnehin ganz unterernährt. Ich besitze nichts, um sie unterstützen zu können. Ich bitte Sie daher, ihr doch sobald wie möglich Geld zu senden, oder mir einen Ausweg bekannt zu geben, wie man einem Kinde beibringen soll, dass es jetzt nichts mehr essen darf.“
G.L.

Dazu: Heimo Halbrainer / Gerald Lamprecht / Ursula Mindler, unsichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, 314 Seiten mit zahlr. Farbfotos., 25,00 Euro
Die Ausstellung „unsichtbar. NS Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark“ ist noch bis 29. März 2009 im stadtmuseumgraz zu sehen

 

1848 – 1918 – 1933 – 1938 – 1948 – 1968 – 1978
Im heurigen Jahr gibt es zahlreiche historische Ereignisse, derer Österreich aus Anlass des 160., 90. des 75. oder 30. Jahrestags gedenkt. Im November geht KORSO zwei historischen Ereignissen und deren Auswirkungen auf die Steiermark nach. Vor 70 Jahren kam es im November anlässlich des Pogroms zu einer Radikalisierung der „Judenpolitik“ der Nazis. Vor 30 Jahren stimmte Österreich gegen die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorfs. Beide Ereignisse sind derzeit in Ausstellungen in Graz (Stadtmuseum und Büro der Erinnerungen) zu sehen und in Büchern nachzulesen.

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