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steirischer herbst: Festival des Als Ob
Montag, 10. November 2008
Keine Frage, Veronica Kaup-Hasler hat es jedenfalls geschafft, das gelegentlich sperrige Traditionsfestival „steirischer herbst“  absolut jugendtauglich und ablehnungsresistent zu machen. Aber inwieweit lässt sich der „herbst“ auch mit seinem Motto „Strategien zur Unglückvermeidung“ beim Wort nehmen? Der Philosoph Hans Vaihinger geht in seiner „Philosophie des Als Ob“, davon aus, dass man ziemlich häufig Richtiges mit bewusst falschen Annahmen erreicht. Gilt das auch für den herbst 08, der behauptet, dass Strategien zur Unglücksvermeidung zielführender wären, als „the pursuit of happiness“. Und sind Strategien wie „im Bett bleiben“, „Abdunkeln“, „Berauschen“, „Listen aufstellen“ nicht eher „als ob“ denn „wirklich“ gemeint?

Anlässlich der Eröffnung empfiehlt die Intendantin sich in der Explosion einzurichten. Und mit seiner Skulptur an der Front des Joanneums hat das Architektenduo Steinbrenner/Dempf dann auch getan, „als ob“ es sich um das Abbild einer Explosion handelte. In Wirklichkeit war es bloß eine zugige Kugel aus Sperrmüll. Sich vielleicht doch Antonionis viel zitierten Film „Zabriskie Point“ ansehen?
Die Eröffnung in der Listhalle (Volksbad Wagner-Biro-Straße) wurde dann inszeniert, „als ob“ noch die alte Geschlechterordnung bestünde. Männer und Frauen bewegten sich durch getrennte Gartenlabyrinthe in die große Halle, wo sie sich auf den gegenüberliegenden Seiten eines Wassergrabens fanden. Taue boten den Herren Gelegenheit übers Wasser hin und wieder zurück zu schwingen, „als ob“ sie Könige des Dschungels wären. Tatsächlich ging es darum, an die Frauen bzw. Getränke und Meeresfrüchte zu kommen. Diese Arbeit von Steinbrenner/Dempf sah genial gut aus und war der Höhepunkt herbstlicher Feelgood-Kultur.
Auf den Theatern wird ja gespielt, „als ob“ ihre Bretter die Welt bedeuteten. Auch das Künstlerduo SIGNA, das unter dem Titel „Die Komplex-Nord-Methode“ im Joanneum eine „Nonstop Performance-Installation“ anbot, bediente sich des Als Ob. Die Besucher? Mitspieler?  Opfer? konnten sich – keinesfalls weniger als 6 Stunden – gegen Voranmeldung auf eine fiktive Amnesie (Gedächtnisverlust) behandeln lassen. Aber was macht man mit einem Gedächtnis, das man bei der Aufnahme leider nicht mit abgeben kann? Ansätze der Ethnomethodologie, der Soziologie des Absurden wollen einem nicht aus dem Sinn gehen; ganz zu schweigen von Basaglia, gleich nebenan in Triest, der – konträr zu jedem Als Ob – für die Öffnung der Anstalten für wirklich Kranke kämpfte. Die SIGNA-Therapie wirkt da doch ziemlich … verspielt, als ob eben.

Beinah noch radikaler als SIGNA agierten die „Damaged Gods“ (toller Name), indem sie zwar so taten „als ob“ sie Theater spielten, tatsächlich aber eine Zeitreise in die Hippie- und Selbsterfahrungsära organisierten. Dabei hatte „alltogethernow“ (project 08) von Meg Stuart mit der Frauengruppe, die schweigend und präraffaelistisch um einen Brunnen saß, so schön begonnen. Leider ging es dann mit charakteristischer US-Naivität an die ekstatischen, parareligiösen und gruppentherapeutischen Erfahrungen, die dem gequälten Publikum desto besser gefielen, je jünger es war. Nachdem meine kindliche Reisebegleiterin die verbalen Initiationsschweinereien in der durch ein Hirschgeweih gefüllten Kammer überstanden hatte, beteiligte es sich mit viel Freude am kollektiv-spirituellem Verzehr einer Sachertorte (eine Gabel für alle) und dem ekstatischen Ringelreihen bzw. freien Tanz. Wie „Als Ob“ nicht funktioniert, demonstrierten die Tänzer dann, als sie über ihre fleischfarbenen Ganzkörpertrikots bunte Tangas aus Omas Strickkorb anlegten. Nacktheit kann eben, ganz wie Butter, durch nichts ersetzt werden. Auch wenn einer aus dem Team tut, „als ob“ er über den Hippiescheiß wütet, dann bleibt es eben trotzdem ein Hippie…

Drei sehr solide konventionelle Arbeiten wären auch ohne das Als Ob ausgekommen. Die belgische Gruppe „Berlin“ präsentierte mit „Bonanza“ eine Videodokumentation über die ehemals boomende, nun zur vermutlich kleinsten offiziell eingetragenen Stadt mutierten „silber mining town“. So sehr auch die Handvoll interviewter Einwohner die Vorzüge selbst gewählter Einsamkeit preist – bald erweist sich Bonanza unter der harmonischen Oberfläche ironischerweise als Ansammlung einander beargwöhnender, verleumdender, ja sogar bis zur Gefährdung der Stadt gegeneinander prozessierender Spinner. Die opulente Präsentation mit einem maßstabsgetreuen Stadtmodell und mehreren Videobildern in einer Reihe ist so perfekt wie konventionell. Über ihre wahren Beweggründe für den Rückzug schweigen die Protagonisten aber meist – das klassische Scheitern des Dokumentaristen.
Virtuose Tiefstapelei als Unglücksvermeidung betrieben Kelly Cooper und Pavol Liska mit ihrem „Nature Theatre of Oklahoma“. Ihr „Poetics: A Ballet Brut“, beginnt backstage am Vorhang mit freundlichen Gesten und banalen Haltungen, entwickelt daraus rhythmisierte Parallelchoreografien und schließlich sausen die Herrschaften auf Drehstühlen über die Bühne. Dann ruht sich die Truppe aus, wechselt verschwitzte T-Shirts, trinkt und isst, bis die kunstvolle Dekonstruktion des Tanztheaters durch den Alltag klar macht: man befindet sich gegenüber dem leeren Zuseherraum des Schauspielhauses. Die Tänzer schnappen nach versprühten Parfumes, eine irrwitzig rosa Primaballerina tänzelt vorbei, etwas wie eine sehr freie Variante von „Chorusline“ füllt fröhlich die Bühne. Das kluge „Nature Theatre of Oklahoma“ vertanzt den Alltag „als ob“ eine subversive, verkehrte Welt möglich wäre.

Technisch furiose Bauchrednerei bot das Puppenspiel „Jerk“. Ein Lebenslanger erzählt von den über 20 Morden an Jugendlichen, bei denen er mit einem zweiten Jugendlichen als Helfer des homosexuellen Serienmörders Dean Corill (Candyman) in Texas beteiligt war. Die düstere Arbeit von Gisèle Vienne fügte sich nach all den „Hannibals“ oder David Finchers „Zodiac“ nur mühsam in das Sub-Thema Natur (Wolf) und Zivilisation (Mensch) ein, das auch in anderen Arbeiten auftauchte.

Konsequent verlagert Michel Schweizer Hundesportliches ins Feld der Kunst. Unter dem Logo des Davoser Weltwirtschaftsforums 2001 legen (meist unsichtbare) Hundeführer ihre fünf Schäfer ab, lassen sie sitzen und schließlich „auf den Mann gehen“. In einem extrem einfachen Bühnenbild, wie man es nur für sehr viel Geld bekommt, arrangiert Schweizer eine Art Diskurschoreografie zum Dialog zweier französischer Intellektueller. Michel Schweizer  bedient sich des „dummen, dressierten“ Haushundes als Metapher für eine condition humaine der Gegenwart. Dahinter steckt der Argwohn gegen einen „Prozess der Zivilisation“, dessen befriedende Wirkung längst zur unsichtbaren, strukturellen Gewalt geworden ist. Man muss den philosophierenden Herren angesichts der eleganten, stummen Vierbeiner nicht vorwerfen, dass sie kaum Neues zu sagen haben. Vielleicht lässt sich die Macho-Truppe auch so auffassen, „als ob“ sie weniger als Künstler, denn als originelle Vertreter des Prekariats agieren: ein ehemaliger Legionär, ein Psychoanalytiker und Philosoph, die gerade nichts Besseres zu tun haben, fünf Hundesportler, die allesamt eine Marktlücke im feudalistischen Theatersystem nützen: Jedenfalls ein besonderer, in seinem exquisiten Purismus magischer Abend.

Auffallend war der starke Einfluss des Filmes, weniger als parasitenhaftes Nachspielen von Drehbüchern denn als Recycling beinah revolutionärer, zumindest gesellschaftskritischer Gesten. Die drei Kurzdramen unter dem Titel „Welt retten“ wurden dann, wenn Kritik an den herrschenden Verhältnissen als Strategie zur Unglücksvermeidung definiert wird, dem Generalmotto durchaus gerecht. Wie Michel Schweizer bedient sich auch der Erfolgsdramatiker Lukas Bärfuss der Hundemetapher, um die Zurichtung einer Unterdrückungsgesellschaft durch zunehmend systematische Dressur zu schildern. Monika Klengel und Rupert Lehofer vom Theater im Bahnhof spielen das Hundepärchen Biffy und Wutz, dessen weibliche Hälfte mit einem eher vagen, hormongesteuerten Revolutionskonzept liebäugelt, diesmal eher schlampig. Natürlich taucht ein dritter Hund, noch dazu mit rotem Halstuch, auf und initiiert einen vergeblichen, letztlich letalen Aufstand der armen Hunde. Bärfuss‘ Text hat gelegentlich durchaus Wucht, aber trotzdem: Hundekot vor der Haustür als revolutionärer Akt? Und indem der Regisseur Noel Dernesch zusätzlich zwei bzw. drei „wirkliche“ Hunde in einer Art Spieldokumentation zeigt, vermenschelt er die fremden Kreaturen und verflacht die metaphorischen der Schauspieler.
Sehr viel gelungener war „A Rose is a Rose…“, eine Arbeit der Theatergruppe „Wunderbaum“ (NL/B) nach einem Text von Ivana Sajko. Auch „Wunderbaum“ nimmt, zusätzlich zur Anspielung auf Gertrude Stein, filmische Anleihen. Diesmal bei Sidney Pollacks Film „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ mit Jane Fonda, in dem es um Tanzpaare geht, auf deren Ausdauer während der amerikanischen Depression gewettet wurde. Die vergnügliche Tanzveranstaltung, die zur nicht enden wollenden Qual mutiert, ist ein archetypisches Bild für die unerträgliche Monotonie (oder monotone Unerträglichkeit) einer Gesellschaft des Spektakels. Der sich zwischen szenischen Miniaturen und Kommentar, zwischen Gewalt und Poesie bewegende Reigen der zwei intensiv spielenden Paare umfasst das ganze romantische Inventar der Revolution... Straßenkrawalle, die Liebe, brennende Busse. Bedauerlich nur, dass der Abend ab dem zweiten Drittel jedes Timing einbüßt und langatmig wird.

Johann Schrettle, der Grazer Diskursvirtuose, ist seinem Ruf gerecht geworden und überschreibt in „kollege von niemand“ „La Chinoise“, einen Godardfilm aus dem Jahr 1967. Untersucht wird das Verhältnis von Kunst und Politik in einem Film über das Entstehen eines Films; fünf Studenten ziehen sich dazu mit Maos kleinem, roten Buch in eine bürgerliche Wohnung zurück. Schrettle ergänzt ein Motto aus „La Chinoise“: „Wir müssen verschwommenen Gedanken klare Bilder entgegenstellen“ durch eine eher kokette Sehnsucht nach Politischem. Unter der Regie von Mariano Pensotti spielen vier Argentinier Godards Protagonisten nach, „als ob“ sie dadurch zu politischem Durchblick gelangten. Performiert werden ausgewählte Ohrfeigen und Textstellen in einem trashigen Ambiente nach der Vorlage von Godards Bildern. Aber was bedeutete die kommentarlos eingefügte Sequenz aus der romantischen Gangsterballade „Die Außenseiterbande“? Und ist „kollege von niemand“ nicht auch ein „Remake“ von Bertoluccis „Die Träumer“, in dem ein Trio während des Mai 68 in einer elternlosen Wohnung Szenen aus der Filmgeschichte und andere Spielchen spielt? …alles sehr amüsant, nicht recht fassbar im ironischen Selbstmitleid über die eigene politische Irrelevanz.

Eine weitere filmische Rekonstruktion, aber ohne jedes „Als Ob“, präsentierte die kroatische Gruppe BADco aus Zagreb. In ihrem „1 poor and one 0“ werden die 45 Sekunden von Lumières Klassiker „Arbeiter verlassen die Fabrik Lumière in Lyon“ in kleinste Einheiten zerlegt und diese minutiös nachgespielt. An Hand dieses archetypischen Filmes entfaltet sich die Geschichte fordistischer Zurichtung und deren getanzte Kritik, hinaufgeführt bis zur Filmgruppe „Dziga Vertow“ von Godard/Gorin und weiter. Tatsächlich spart die an Themen so reiche Filmgeschichte bis auf wenige Ausnahmen die Arbeitswelt aus. Die glasklare, in der methodischen Unerbittlichkeit an die Analysen des Dokumentarfilmers Harun Farocki erinnernde Theaterarbeit, die tänzerische und inszenatorische Perfektion machten „1 plus 0“ zu einem der Höhepunkte dieses „herbstes“.

Der „herbst 08“ punktete auch mit seinem Werkstattcharakter, der durch die zahlreichen Workshops verstärkt wurde. Die Adaption des Joanneum als Festivalzentrum war eine tolle Entscheidung. Dass aber auf jede Reflexion dieser Institution verzichtet wurde, verstärkt ein wenig den Eindruck „jugendlicher Selbstbezogenheit“. Und diese Kritik, die sich erst lesen sollte, „als ob“ das Programm allzu gefällig gewesen wäre…liest sie sich am Ende nicht „so, als ob“ das Gegenteil der Fall wäre?
Womöglich gab dieser feelgood-herbst nur vor „so, als ob“ es ihm um die nette Atmosphäre ginge, und in Wahrheit zielt Veronica Kaup-Hasler auf den Umsturz bestehender Verhältnisse? Crash!

Willi Hengstler
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