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stefan schmitzer: „wohin die verschwunden ist, um die es ohnehin nicht geht.“ (Auszug) |
Dienstag, 9. September 2008 | |
Ab März 2008 veröffentlicht KORSO in jeder Ausgabe einen umfangreicheren literarischen Beitrag. 1 plätze und hinterhöfe, lange vorher und das wäre dann die urszene. zwei männer sitzen auf steinstufen, auf einem öffentlichen platz, in der sonne, nahe der schattenlinie dreistöckiger altbauten. sie teilen obst, ein sandwich, tee in pappbechern und zigaretten. sie reden nicht viel, aber betrachten einander und die zahlreichen passanten, als gäbe es da etwas zu reden zwischen ihnen, etwas, das seine zeit hätte, und die wäre fast da. der eine, der gestenlose, hat die zigaretten. der andere den rest. dies ist das dritte und letzte mal, daß sie sich treffen. das erste mal war bei einer werksschließung. man war nebeneinander gestanden, unter hunderten, in der großen halle. zwei schichtarbeiter, verschiedene schichten. es hatte versuche gegeben, mit der firmenleitung zu verhandeln, dann, die halle zu besetzen. draußen an der märzluft das räumkommando der polizei, grüppchen uniformierter zwischen den wartenden abriss- und baugeräten. als die meisten arbeiter die halle verließen, war man nebeneinander losgegangen, bis zum drehtor und danach weiter. man wartete nicht aufeinander, man sah sich nicht an, man hatte den selben weg. hinter ihnen welche, die noch protestierten, und vor ihnen solche, die eilig zu den busstationen gingen, zu familien, die warteten. dann war man auf einer bank gesessen, in einer grünfläche, bei einer breiten ausfallstraße, und hatte einander biografien vorgelogen. schließlich war einer der beiden aufgestanden und gegangen. der andere, mit blick auf die tauben am straßenrand und auf die ersten frühlungsblumen in der kargen erde, war geblieben, ohne ihm nachzurufen. das zweite mal, monate später, auf einer wohnungsparty. der eine als gast der studentin, die geburtstag hatte. woher er sie kannte, war nicht mehr auszumachen. der andere kam in begleitung eines alten freundes, musiker, langsam die treppe rauf. in der tür sah man einander an. die völlige fremdartigkeit der typen, die hier feierten. es gab gelächter, knurrend, komplizenhaft. man stand in der küche und saß später auf einer couch. gespräche dann über dritte, und mit ihnen. vodka. die gemeinschaft löste sich auf. man war noch nicht um zu vieles gealtert. dies also das dritte mal. ein jahr oder so ist vergangen. der eine eben arbeitslos geworden, oder frisch aus dem knast raus. hungrig jedenfalls, gierig, still. über den platz hereingebrochen mit wiegenden schritten, hängenden armen, gesenktem kopf. von jedem im blickfeld registriert, wie ein straßenbaugerät registriert wird, das mit fünf km/h durch die zone pflügt. man wich ihm aus, mit ebenso bedächtigen bewegungen wie den seinen, ohne blickkontakt. dann sahen sie einander, nickten. der andere seit kurzem als künstler erfolgreich. er selber würde sich seine arbeiten nicht ansehen. verschlungener zufall hat dazu geführt, daß sie ihn ‚entdeckt‘ haben. er krakelt mit verschiedenen kugelschreibern auf servietten rum, ohne zu denken. das zahlt ihm, jetzt mal für ein paar monate, miete und essen. er verbringt damit fünfundvierzig stunden die woche, buchhaltung und kontaktpflege eingerechnet. der erste setzt sich zum zweiten auf die steinstufen, die zu einem bankinstitut gehören. keiner kennt den namen des anderen. man grüßt sich nicht. man breitet aus, was man hat. zigaretten, essen, tee. sogar, daß sie lächeln. (...) jemand geht auf sie zu, und sie bemerken das gleichzeitig. lehnen sich synchron zurück. schultern und hinterköpfe an kaltes glas. schnelles scharfstellen der ruhe, die ihrer falschen vertrautheit entwächst. was, so denkt der eine, der künstler, von außen wohl nach alter freundschaft oder eingespielter arbeitsgemeinschaft aussieht. verhält sich entsprechend: versteift sich. kaum bewegliches genick. verkrampfter handballen. der andere atmet schneller als nötig. eben: das nikotin. wer da kommt, ist ein mädchen mit jungem gesicht, stumpfem blick und zu grossen brüsten. ein dünner rosa pullover. hastige bewegung. angoraimitat. sie geht auf die beiden männer zu, nicht bloß in ihre richtung. sie baut sich vor ihnen auf, wirft kontrollblicke. nervös. die männer sehen sich an, verständigen sich stumm, nein, man kennt das mädchen nicht. dann wieder synchron die köpfe in ihre richtung. sie überwindet die restdistanz, geht in die hocke, auf die augenhöhe der beiden, sieht sie abwechselnd an, immer hin und her mit dem ganzen oberkörper. als wären die augen starr eingeschraubt in den kopf, der starr den schultern aufgesetzt wäre, denkt der, der zuerst hier war und nur kurz eine zigarette rauchen wollte, bevor er weitergegangen wäre. in schnellen, undeutlich artikulierten sätzen spricht sie, und ihr puls ist dabei, zu beschleunigen. drüben, auf der anderen seite des platzes, in der eisdiele, sei ein mann. der große mit der jeansjacke, den kurzgeschorenen haaren, der pferdeledernen herrenhandtasche. käme gleich wieder raus, mit zwei tüten eis in der hand. noch steckte er in der menschentraube, aber nicht mehr lange. die bitte des mädchens ist: daß die beiden ihn aufhalten, um dem mädchen zu ermöglichen wegzulaufen. sie spricht ohne emotion. nichts lässt vermuten, wie ernst sie es meint, oder welcher natur ihre beziehung zu dem mann in der eisdiele ist. so, aus der nähe, ist nicht mehr klar, ob sie sehr jung und mit frühreifem wuchs geschlagen ist, oder älter, vielleicht fünfundzwanzig, und geistig zurückgeblieben, oder auf droge. ihre augen sind ohne regung. sie hat gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt steht sie wieder auf. bittet noch einmal. infantil, bohrend. dann geht sie los, auf die gasse zu, die am weitesten von der eisdiele entfernt ist. nicht mehr ganz so hastig, aber immer noch schnell. die beiden männer könnten sitzenbleiben und warten, bis der mann aus der menschentraube tritt, sich umschaut, das mädchen entdeckt, ihr nachrennt, sie stellt. dann wüssten sie, ob er ihr bruder ist, oder ihr vater, oder ihr freund, oder etwas anderes. vielleicht auch, weshalb sie weglaufen will. dann könnten sie entscheiden, ob die bitte des mädchens gerechtfertigt war. bloß der bitte entsprechen könnten sie dann nicht mehr. der mann kommt aus der eisdiele. eindeutig. sie hat ihn gut beschrieben. er ist noch mit sich selbst beschäftigt. zuerst erhebt sich der künstler, ein wenig schwerfällig, drückt seine zigarette mit der hand an der steinstufe aus, wartet. der schafhirt folgt ihm. sie überqueren den platz langsam, und es kommt ihnen viel zu schnell vor. herzschlag rauscht. der mann mit der jeansjacke verzieht das gesicht. er tritt zurück in die diele, stellt die eistüten ab, leckt sich ein rötliches rinnsal vom handrücken, als er wieder rauskommt, und will loslaufen: er hat das mädchen in der gasse auf der anderen seite des platzes verschwinden gesehen, eben noch. sein gesicht verrät resignation, gut kontrollierten zorn, keine überraschung. der schafhirt und der, der schon auf dem platz war, als der schafhirt über ihn hereinbrach, sind jetzt bei ihm. sie packen den mann, kaum, daß er einen laufschritt getan hat, bei den armen. jeder an einer seite. der mann verliert das gleichgewicht. was ihn hindert, zu fallen, sind die vier hände, die ihn halten. jetzt ist er überrascht. lässt einen gutturalen schrei los. steht wieder da. seine arme entspannen sich. die hände, die um seine arme geschlossen sind, auch. die beiden männer sagen nichts, sehen einander oder dem kerl in der jeansjacke nicht in die augen. passanten werden aufmerksam. in der eisdiele verstummen die gespräche. man dreht sich um, beobachtet. etwas entfernt kreischt metall auf metall. eine baustelle, dem blick entzogen. der künstler zählt von zehn auf null, stumm. mit zusammengebissenen zähnen. bei sieben, bei fünf, zwischen vier und drei, versucht der typ in der jeansjacke, sich zu befreien. macht einen ruck mit dem ganzen körper. holt dann mit den unterarmen aus, um mit der faust einen der beiden männer zu treffen. es gelingt ihm nicht. solange er die situation nicht versteht, und solange sie ihn halten, ist er ungefährlich. höchstens, daß sie einige ausfallschritte mitvollziehen müssen. alle drei gesichter hochkonzentriert. bei null sind sie fast in der mitte des platzes, gut von überall zu sehen. in den augen des mannes mit der jeansjacke ist panik. er beginnt zu schreien. worte. die beiden, die ihn halten, hören nicht zu. der künstler lässt los. der schafhirt noch nicht. die nun freie hand des mannes schnappt nach dem schafhirten, hält seine kehle, presst. beide männer fallen um, der in der jeansjacke obenauf. der künstler holt aus und tritt dem, den er eben losgelassen hat, in den bauch. der krümmt sich, hustet, sein gesicht quillt auf. er rollt zur seite. schon steht der schafhirte aufrecht, dreht sich einmal um sich selbst, fängt die szenerie ein. etwa hundert beobachter. die bedienung in der diele an einem telefon, spricht leise, hastig. der künstler packt ihn an der schulter. sie laufen los. nach jacke und pullover greifen sie, ohne stehenzubleiben. die zigaretten, den tee, das halbe sandwich lassen sie liegen. ehe der mann sich aufrichten und orientieren kann, sind der schafhirt und der künstler in derselben gasse verschwunden wie das mädchen mit den zu großen brüsten vor ihnen. das sonnenlicht ist jetzt ganz von dem platz gewichen. der tee in den pappbechern wird schnell kalt. drei tauben nähern sich und picken nach krumen. der mann in der mitte des platzes, auf allen vieren, ruft etwas, das vielleicht der name des mädchens ist, vielleicht bloß eine verwünschung. einige passanten treten zu ihm. man ist sich nicht sicher, ob man ihm aufhelfen oder ihn mit sanftem druck zum sitzenbleiben zwingen soll. leise ergeben einander rede und gegenrede. anderswo würde das geflüster gehässig klingen. der mann steht auf und macht keine anstalten, den beiden schlägern hinterherzurennen. langsam beruhigt sich sein atem. er blickt von einem der passanten zum nächsten. der kerl, der drei tage auf einer schafweide gearbeitet hat, und der andere, der zur zeit von sinnlosem gekritzel leben kann, das in gut ausgeleuchteten räumen für ein gut verdienendes publikum aufgehängt wird, holen das mädchen ein, drei wegbiegungen weiter. sie haben die richtung erraten, in die es will, und die route obendrein. der künstler spürt stolz in sich, ganz kurz, auf seine instinktsicherheit, die ebensogut die des anderen, des schafhirten, des ausgehungerten sein könnte, und dann, ebenso kurz, stolz auf eine plötzliche gemeinschaft, die solches verwischen der instinkte mit sich bringt. als sie links und rechts von dem mädchen anlangen und mit ihr in gleichschritt fallen, lächelt er dünn. (...) irgendwann, viel später, ohne langsamer zu werden oder sonst außer tritt zu kommen, hat das mädchen die arme von sich gestreckt und die rücken der beiden berührt. jetzt liegen ihre hände um die hüften der männer, und deren arme wandern über ihre schultern. jetzt: in einer gasse mit alter pflasterung, die von grünzeug gesprengt wird, irgendwo in umittelbarer nähe jener ausfallstraße, über die der schafhirt vor drei tagen in die stadt gekommen ist. noch immer ist kein wort gesprochen worden. die panik, gewalt ausgeübt zu haben, ist aus den gesten der männer verschwunden. man atmet ruhig. man fühlt sich sicher. in einem weitläufigen innenhof ficken sie schließlich. rund um sie, nicht genau rechteckig angeordnet: neubauten. büros, lichte wohnungen wohlhabender, mehrheitlich wohl junger menschen. die trittpfade im lehmboden, der geräteschuppen, die wenigen bäume und sträucher zwischen den neuaufgeschütteten beeten, um vieles älter als die gebäude. es ist ihnen egal, ob man sie sieht. das mädchen hätte gefahr signalisiert, wenn da gefahr wäre. sie kennt alle orte, und inzwischen ist es abend. (...) daß niemand den garten betritt. daß niemand von den fenstern und arkaden hinunterschaut, oder wenn doch, daß niemand die respektlosigkeit besitzt, die drei zu stören. daß das mädchen diesen ort gefunden hat. daß es nacht geworden ist. einer der beiden kerle fragt sie schließlich: was es mit dem mann bei der eisdiele auf sich gehabt habe. ihr lachen kommt stoßweise, ihre zähne sind zu sehen, ihre stimme ist rau und angenehm: „ach nichts.“ sie habe bloß sehen wollen, was passiert. der typ, den sie zurückgehalten haben, habe sie seinerseits vor zwei wochen bei einer partie pool-billiard gewonnen, zumindest, soweit er fähig gewesen sei, zu verstehen. sie greift beiden männern ins haar, zieht ihre schädel an ihre brüste, dann aneinander, spricht weiter, während sie zusieht, wie sie sich küssen. spricht, und die männer hören nicht. spricht von früher, von schule und familie, und von den kämpfen, in die sie ihre kerle treibt. der boden ist trocken. ihre kleidungstücke sind nicht völlig verdreckt. als der künstler aufsteht, seine sachen aufsammelt, von sich streckt und ausschüttelt, hin und her blickt zwischen den beiden noch daliegenden körpern, den fassaden und seinen händen, als er dann langsam und mit unsicheren bewegungen in seine hose schlüpft, schnaubt der andere, der hirte, der möglicherweise sogar obdachlose. wie zufällig. spasmen auf einem ausgezehrten schönen körper. der künstler geht zurück in die hocke, wartet ab. lichter, weit hinter ihnen, gehen an und aus. rascheln in den bäumen, und zucken zwischen den fingergliedern des mädchens. sie sieht ihn an, die arme auf dem brustkorb des hirten verschränkt, jetzt zum ersten mal die augen lebendig. bewegt, ohne daß der ganze kopf jedes flackern mitmachen müsste. aufmerksam. dann: es wäre doch wohl in ordnung, was sie getan habe, oder? der mann, der von gekritzel lebt, und das wohl nicht für ewig, lächelt breit, schluckt, lächelt wieder, nickt. doch. dann beugt er sich vor, küsst sie heftig, beißt ihr dabei die unterlippe blutig, berührt, schon halb stehend, die wange des schafhirten, des namenlosen, des kerls aus der anderen schicht, dreht sich um und geht, ohne zu wissen, warum. (...) am morgen, während er mit der ungelenken linken und goldstift politikernamen auf küchenrollenblätter schreibt, wird ihm die idee kommen, ein lehramt anzustreben, solange das gekrakel noch die miete zahlt. er wird versuchen, die zeit zu schätzen, die so eine ausbildung dauert, und auf vier jahre kommen. das gesicht des schafhirten wird sich ihm eingeprägt haben, und die stimme des mädchens, und einige der wege, auf denen sie ihn durch die dämmerung geführt hat. „wohin die verschwunden ist, um die es ohnehin nicht geht.“ roman von stefan schmitzer. erscheint anfang 2009 bei droschl. stefan schmitzer *1979 in graz, studium (germanistik, gender studies, philosophie) in graz und wien, mag. phil seit 2006; kritiken, feuilletons, rezensionen und literarische texte in diversen zeitschriften (macguffin, schreibkraft, perspektive, manuskripte...) und anthologien on- und off-line; mitglied des programmforums im FORUM STADTPARK, veranstalterei und kuratiererei ebendort; „moonlight on clichy. gedichte“ (droschl 2007), „vier schuss. erzählung“ (leykam 2007), „wohin die verschwunden ist, um die es ohnehin nicht geht. roman“ (droschl 2009, in vorbereitung)
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