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„EU bedeutet für Bulgarien mehr als Europäische Union“
Archiv - Eine Welt
Montag, 10. April 2006
Image Der lange und bisweilen holprige Weg Bulgariens „zurück nach Europa" steht vor seinem Abschluss. Mitte Juni fällt die endgültige Entscheidung über den Aufnahmetermin in die Europäische Union. Wie beurteilt man den Beitritt vor Ort?

In Sofia zählt eine digitale Anzeigetafel den Countdown bis zum 1. Jänner 2007. Wie wichtig der Beitritt Bulgariens zur EU sei, betonte die zuständige Ministerin für europäische Angelegenheiten, Meglena Kuneva, im Vorjahr in Berlin: Während das „alte" Europa die EU vor allem als Wirtschaftsunion betrachte, verstünden die „neuen" Europäer die „EU als ein Instrument der Verbreitung und Durchsetzung der Demokratie". Auch der Gesandte Botschaftsrat Österreichs in Sofia, Lothar Jaschke, sieht in der Bedeutung der EU für Bulgarien „mehr als Europäische Union: Es ist auch eine geistige Orientierung der Menschen, der Eintritt in einen Raum, der Bulgarien Halt gibt."

Je nach Ergebnis des letzten Fortschrittsberichts, der am 17. Mai veröffentlicht wird, kann die EU-Kommission im Juni dem Europäischen Rat eine von zwei Optionen empfehlen: Bulgarien tritt mit 1. Jänner 2007 als Vollmitglied der EU bei oder die Aufnahme wird wegen noch ausstehender Reformen um ein Jahr verschoben. Der Aufschub erfordert allerdings einen einstimmigen Ratsbeschluss sowie den Nachweis gravierender Mängel in mehreren definierten Reformbereichen. Für Jaschke würde eine Verschiebung nicht viel bringen außer schlechter Stimmung. Zumal Bulgarien schon bei der letzten Erweiterungsrunde nur Zaungast sein durfte.

Bulgariens langer Weg in die EU. 1993 wurde ein Assoziationsabkommen mit Brüssel abgeschlossen, das 1995 in Kraft trat. Im Dezember 1995 stellte Bulgarien sein offizielles Beitrittsansuchen. Die Hoffnungen auf eine baldige Aufnahme wurden durch die Wirtschaftskrise von 1996/97 aber jäh zerstört. Der Beitritt von acht osteuropäischen Staaten am 1. Mai 2004 löste in Bulgarien einige Enttäuschung aus.

Die im März 2000 aufgenommenen offiziellen Beitrittsverhandlungen konnten im Dezember 2004 abgeschlossen werden. Am 25. April 2005 wurde der bulgarische Beitrittsvertrag – gemeinsam mit dem rumänischen – in Luxemburg unterzeichnet. Bis zum Beitrittstermin 2007 muss die Ratifizierung des Vertrags durch alle Mitgliedstaaten erfolgt sein, Österreich will dies bis zum Sommer erledigen. Auch im Fall, dass ein Mitglied den Vertrag nicht bis zum 31. Dezember 2006 ratifiziert, könnte sich der Beitritt um ein Jahr verschieben. Dies gilt aber eher als unwahrscheinlich.

Wirtschaftliche Beitrittsreife erfüllt. Schon vor dem Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung, im November 2002, bescheinigte die Europäische Kommission Bulgarien die wirtschaftliche Beitrittsreife. Das Balkanland erreichte 2005 mit 5,3% wiederum ein beträchtliches Wirtschaftswachstum. Die Prognosen für 2006 und 2007 belaufen sich auf jeweils 5,5%. Im Vorjahr betrug das BIP pro Kopf 2780 Euro, vor fünf Jahren lag es noch bei 1597 Euro. Im Februar 2006 konnte mit 11,5% die niedrigste Arbeitslosenquote der letzten 15 Jahre verzeichnet werden. Noch 2002 lag ihr Wert bei 17,4%. Die Privatisierung der Staatsbetriebe ist zu 95% abgeschlossen. Neben einigen Wärmekraftwerken und der Schwarzmeer- und Donau-Handelsflotte stehen als große Brocken Bulgartabak und Bulgaria Air weiterhin zur Disposition.

Probleme bei der Anpassung des Rechtsbestands. Während die Wirtschaftsdaten Bulgariens trotz eines stark erhöhten Leistungsbilanzdefizits 2005 durchwegs gut sind, besteht nach wie vor Aufholbedarf bei der Anpassung des Verwaltungsapparats und der Übernahme des „Acquis communautaire". Um die geforderten Anpassungen umsetzen zu können, stellt die EU im Jahr 2006 545 Mio. Euro Vorbeitrittshilfen zur Verfügung, für den Zeitraum 2007-2009 wird Bulgarien ca. 4,5 Mrd. Euro aus EU-Fonds erhalten.

Der ehemalige Vizeaußenminister und Chefunterhändler der bulgarischen EU-Verhandlungen bis Mitte 2001, Wladimir Kissjow, sieht sein Land auf gutem Reformkurs: „Bulgarien ist derzeit auf einem Niveau, das den Möglichkeiten seit der Übergangsperiode nach 1989 entspricht. Ich wäre aber noch optimistischer, wenn wir die Vollmitgliedschaft der EU bereits hätten. Denn es ist leichter, in einem Schwimmbad zu schwimmen als das Schwimmen nur in der Theorie zu lernen."

Reformeifer der großen Koalition. Bulgarien, das bezüglich der Anpassung ans EU-Recht lange Zeit vor Rumänien lag, schlitterte im Sommer letzten Jahres durch die fast zwei Monate dauernde Regierungsbildung in eine veritable Krise, während derer viele Reformen verschleppt wurden. Dass die Zeit nun mehr als drängt, zeigt der Eifer der neuen Koalition aus Sozialisten und der Zarenpartei Simeons II. „Anregungen aus Brüssel werden sehr ernst genommen, es herrscht fast schon eine submissive Haltung. So wurde Ende Februar aus den Kritikpunkten der Kommission ein Action Plan mit über 90 Maßnahmen gemacht", lobt Lothar Jaschke die Bemühungen der Regierung.

Die Koalition unter Ministerpräsident Sergej Stanischew unternimmt auch große Anstrengungen, um Investitionen zu fördern. So wurde beispielsweise das bestehende Gesetz über Ausschreibungen an geltendes EU-Recht angepasst und eine Strategie zur Förderung ausländischer Investitionen im Zeitraum 2005-2010 verabschiedet, wobei vor allem die Steuerbedingungen den Interessen der Anleger angepasst wurden.

Österreichische Investoren haben ihre Chancen in Bulgarien längst genutzt: Seit Ende 2004 hält Österreich den ersten Platz unter den Auslandsinvestoren in Bulgarien. So betreibt die OMV bereits über 70 Tankstellen im Land und bis vor kurzem war der Kauf des bulgarischen Mobilfunkbetreibers Mobiltel durch die österreichische Mobilkom um 1,6 Mrd. Euro das größte österreichische Aus- landsinvestment aller Zeiten.

Zwischen Euphorie und Euro-skepsis.
Parallel zur Durchführung der Reformen ist Bulgarien derzeit am meisten damit beschäftigt für sich selbst zu werben. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht höchstrangige PolitkerInnen Berlin, Brüssel, London oder Wien besuchen, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Was die positive Beurteilung des EU-Beitritts betrifft, sind sich die zahlreichen und teilweise stark zerstrittenen Parteien durchwegs einig. Nur die rechtspopulistische Partei „Ataka", die sich erst kurz vor den Wahlen im Juni 2005 rund um den ehemaligen Journalisten Wolen Siderow formiert hatte, opponiert dezidiert gegen den EU-Beitritt.

Kein Referendum. Die bulgarische Botschafterin in Berlin, Meglena Plugtschieva, meint, dass auch die Euroskepsis der EU-25, ausgelöst durch die gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden, den EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens überschatten könnte. Laut Meglena Kuneva liegt die Zustimmung zum EU-Beitritt bei über 70%. Die kritischen Stimmen nehmen in letzter Zeit allerdings zu: „Die EU hat auch in Bulgarien viel von ihrer Strahlkraft verloren", bedauert Lothar Jaschke. Für den österreichischen Diplomaten wäre das Ergebnis eines Referendums spannend, das es aber nicht geben wird: Da bei der Vertragsunterzeichnung im April 2005 eine überwältigende Mehrheit für den EU-Beitritt war, wollte man sich ein teures Referendum „ersparen" und ist damit außer den Gründungsstaaten und Zypern das einzige Land, das ohne Volksentscheid beitritt. Für Jaschke „ein schwerer Fehler", denn: „Ein fundamentaler demokratischer Beschluss wäre für den Beitritt sehr wichtig, da 80% der Gesetze, die unser tägliches Leben bestimmen, von der EU gemacht werden."

Laut einer im November 2005 vorgestellten Studie „Jugend in Europa", bei der 3.500 BulgarInnen zwischen 18 und 30 Jahren befragt wurden, unterstützen 30% der Jugendlichen den Beitritt voll und ganz. 13% befürchten allerdings, dass Bulgarien nach dem EU-Beitritt seine kulturelle Identität verlieren könnte. Grund zur Besorgnis ist für viele Bulgaren auch die spätestens mit Einführung des Euro – allerdings nicht vor 2014 – zu erwartende Teuerungswelle. Bereits zu Jahreswechsel verdoppelten sich die Preise von Luxusgütern wie Alkohol, Zigaretten oder Parfum, die damit für viele BulgarInnen unerschwinglich wurden. Auch die Verteuerung von Zucker, Benzin, Strom und Gas seit Anfang 2006 macht vielen bulgarischen Haushalten zu schaffen, liegt doch das monatliche Durchschnittseinkommen bei nur umgerechnet 150 Euro.

Für die Kulturwissenschaftlerin Penka Angelova, die an den Universitäten Russe und Veliko Tarnovo lehrt und schon 1994 an der Einführung des ersten bulgarischen Europäistik-Studiengangs beteiligt war, ist vor allem die mangelnde EU-Aufklärung ein Problem. „Der Großteil der Bevölkerung weiß nicht, was der EU-Beitritt bedeutet und welche Folgen er für den Einzelnen haben wird. Bis 2003 wurde die EU von den meisten Politikern nur bei Wahlen als Trumpfkarte benutzt", so Angelova.

Orientierung wichtiger als Veränderung? Trotz der zunehmenden kritischen Stimmen steht für Ex-Vizeaußenminister Kissjow außer Zweifel, dass eine Verschiebung des Beitritts „einen enorm schlechten Einfluss auf die bulgarische Bevölkerung hätte, die sich dann von Europa nicht akzeptiert fühlen würde". Die an den Beitritt geknüpften Erwartungen seien realistisch: „Die bulgarische Bevölkerung erwartet nicht, dass sich nach dem Beitritt alles schlagartig ändern wird." Wichtiger als unmittelbare Veränderungen ist für Lothar Jaschke das Signal, das mit dem EU-Beitritt verbunden ist, denn: „Bulgarien ist nach wie vor eine Transformationsgesellschaft. Und in dieser Situation eine Orientierung in der EU zu haben, ist sehr wichtig."

Iris Hipfl, Veliko Tarnovo

Image ImageFür den Gesandten Botschaftsrat Österreichs in Sofia wäre das Ergebnis eines Referendums spannend – das es nicht geben wird.

Die Kulturwissenschaftlerin Penka Angelova ist Mitbegründerin des 1994 eingeführten Studiengangs „Europäistik" in Russe, des ersten dieser Art in Bulgarien.









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