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Der Unterschied zwischen Anpassung und Anpasslertum |
Montag, 7. Juli 2008 | |
Kreative, Stadt, Entwicklung (3) „Zucchini von einem Gelb zum Niederknien, besonders milder junger Knoblauch, wunderschöne Kornblumensträuße, die kein Florist hat“ – wir haben uns umgehört, was Grazerinnen und Grazer am Bauernmarkt im Lend lieben. Die Händler und Standlerinnen haben sich gut angepasst und wissen, was der urbane Mensch gern hat. Noch einmal Thema Lend also, und doch ganz anders. Das Lendviertel ist eine Gegend hoher urbaner Diversität, in dem nicht nur eine junge kreative Szene Einzug gehalten hat, sondern sich auch andere Wohnbevölkerung einiger Besonderheiten erfreut. Urbane Qualitäten haben sich zu einer Mischung verdichtet, die da und dort städtisches Wohnen von seiner attraktivsten Seite präsentiert. Die Nähe zur Innenstadt, der Bauernmarkt und das Flair der kleinen Lokale und Ateliers der Kreativen schaffen Atmosphäre, eine Renaissance des Urbanen. Viel Grün am Platz, in kleinen Innenhöfen, am nahen Murverlauf durchsetzt die gebaute Stadt angenehm. So entsteht ein innerstädtisches Wohngebiet, das sich durch Vielfalt, soziale Durchmischung und Offenheit von anderen Grazer Bezirken unterscheidet. Im Gegensatz zum (klein)bürgerlichen Leben in Geidorf oder Leonhard löst hier nicht jede Hinterhofgrillparty eine Bürgerinitiative gegen Geruchsbelästigung aus. Von Immobilienfirmen wurde dieses Potential längst erkannt. Fast unbemerkt wurden und werden etliche Gebäude neu gebaut: am Areal Nr. 31, am Objekt, wo das TiB war, neben der Eros-Bar, das Hotel Mercure oder das Haus, in dem das Pierre’s logiert usw. Der Insider weiß, dass andere wie der „Goldene Engel“ bereits beplant werden. Im „Hinterland“ um Neubaugasse, Grüne Gasse, Zeilergasse tut sich Ähnliches. In nur zwei, drei Jahrzehnten wurde mehr als der halbe Gebäudebestand am Lendplatz neu gebaut. Eine unglaubliche Entwicklungsgeschwindigkeit und Chance, das Wohnumfeld, den öffentlichen Raum, die Stadt mitzugestalten! Aber ojemine, was finden wir vor? Unkontrolliert und unabgestimmt wächst oder besser darbt es an allen Ecken und Enden. Es mag ja der Fußgängerbereich vor dem Hotel Mercure nach einer guten Idee ausgesehen haben. Sitzmöbel, Begrünung, alles da. Allerdings wird diese Alibigestaltung nicht angenommen. Wäre das prinzipiell noch reparierbar, so geht das bei Häusern nicht: Warum muss sich der Hotelbau an ein baufälliges Haus rechter Hand anpassen, wenn dieses bald nicht mehr steht? Oder das Haus, stolz „Admiral“ genannt: Es zitiert wohl den Hochhausturm schräg gegenüber, wäre mit seiner mickrigen Zweigeschossigkeit aber an einem kleinen Dorfplatz passender. Ja, ja, der vorstädtische Charakter und so, aber kann ein solches Haus diesen authentisch machen? Oder die gesichtslose Fassade des Neubaus Nr. 31, angepasst höchstens an den Nutzbau daneben. Wo war hier das Grazer Modell der Baukultur, beim allseits bekannten und genehmen Bauträger? Beim Wohnumfeld nicht viel besser, zeigt sich eine Gasse picobello neu betoniert. Allein, neben dem traurigen Charme dieser „Wohnstraße“ ist kaum Platz für den Kinderwagen. Rund um den Lendplatz zeigt sich ein Problem konkret, das die ganze Stadt betrifft: das schmerzhafte Fehlen einer nachhaltigen Stadtplanung und qualitativen Stadtgestaltung, einer Vorstellung von Stadt. Es fehlt eine Idee, an der man sich über partikulare Interessen, Planungssparten und legislaturperio- dische Bocksprünge der Politik hinweg orientieren kann. Und das können keine alles determinierenden und endlos moderierenden Masterpläne sein, die genauso wenig eine lebendige Stadt erzeugen wie individueller Wildwuchs. Ein urbanes Ganzes mit Charakter entsteht aus allen einzelnen Teilen, wie es schon Italo Calvino in den unsichtbaren Städten so schön beschreiben konnte. Die Stadt benötigt eine Stadtplanung, die einem Umstand gerecht wird: nämlich permanentem Stadtumbau. Dieser richtet sich weder nach den Phasen der Flächenwidmungspläne, noch nach den Wahlperioden. Stadtumbau geschieht im Alltag der Projekte, die ganze Zeit. Dass Einfluss möglich ist, zeigen die schlechten Beispiele, welche ja auch „geplant“ wurden: Angepasst an Gewohntes, Bequemes, Bekanntes – oder besser gesagt „anpasslerisch“ in einem anspruchslosen Alltag. Stattdessen gilt es die Streifzüge der Immobilienkarawane im Auge zu behalten und Trends frühzeitig zu erkennen, um bei Neubauten qualitätssichernd zu leiten. Wenn eine klare Idee von Stadt verfolgt wird und ihr permanenter Umbau nicht als Qual, sondern Potential erkannt wird, kann dies sehr wohl gelingen. Bis dahin empfiehlt sich weiterhin der Einkauf am Bauernmarkt, wie uns eine begeisterte Lendplatzlerin versicherte: „Und sowieso kann man immer sagen, darf ich kosten, und schwups, hat man schon eine Herzkirsche bekommen.“ Architekt DI Harald Saiko Geboren und aufgewachsen in Graz, Architekturstudium in Graz und Paris, Gründer von SAIKO.CC – Büro für Architektur. Stadt. Kultur in Graz und Wien. Seit 2007 Expansion nach Osteuropa mit einer Bürofiliale in Timisoara / Rumänien. Neben Architekturprojekten verantwortliche Mitarbeit bei Stadtentwicklung Graz-West, Natur-Erlebnis-Park Plabutsch oder Stadtteilentwicklung Messequadrant. Lehraufträge, Forschung, eigene Publikationen und Vortragstätigkeit. Verantwortliche Funktionen in Architekturinstitutionen und Kulturpolitik. Mara Verlic (Assistenz und Recherche), Geboren und aufgewachsen in Graz. Angehende Soziologin und sowohl in den Bereichen Kunst und Kultur als auch in der Stadtsoziologie in Graz tätig.
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