Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Serbien: Halbzeitsieg für die EU
Sonntag, 8. Juni 2008
Der überraschende Sieg des pro-europäischen Lagers bei den serbischen Parlamentswahlen lässt die EU vorerst aufatmen. Ob der Wahlsieger Boris Tadić eine Regierung bilden kann, steht aber noch in Belgrads Sternen, ebenso wie der anvisierte EU-Beitritt des Landes.

Parlamentswahl und Song-Contest in einem Monat: Unter so hellem-europäischen Scheinwerferlicht wie im Mai stand Serbien schon lange nicht mehr. Während sich auf der als „unpolitisch“ deklarierten Schlagerbühne der Eurovision der Favorit Russland klar durchsetzte, wurde der Favorit der serbischen Parlamentswahlen von seinem „Publikum“ im Stich gelassen. Tomislav Nikolić, der von allen Meinungsumfrageinstituten favorisierte Spitzenkandidat der Radikalen Partei Serbiens (SRS), musste sich zur großen Überraschung aller Beobachter dem pro-europäischen Lager (DS) von Präsident Boris Tadić geschlagen geben. Damit sandten die serbischen WählerInnen ein klares Signal in Richtung Brüssel aus und erteilten der von den Radikalen angekündigten näheren Bindung an Moskau eine klare Absage. Aus Sicht der EU ist dieses unerwartete Ergebnis umso erleichternder, als die Parlamentswahlen des „europäischen Sorgenkindes“ Serbien im Vorfeld als richtungsweisend erachtet wurden. Der deutsche Außenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) brachte die erfreuten Reaktion europäischer PolitikerInnen auf den Punkt: „Die Mehrheit der Menschen in Serbien will nach Europa“.

It’s the economy, bukvan! Wenngleich die Schlagwörter „EU“ und „Kosovo“ den emotional geführten Wahlkampf prägten, liegt eine Erklärung für das überraschende Ergebnis auch darin, dass sich die Mehrheit der serbischen Bevölkerung statt geopolitischen Überlegungen zuallererst absehbare Verbesserungen der schwächelnden Wirtschaft wünscht – diesen Wunsch sieht man in Brüssel besser aufgehoben als in Moskau. In Serbien ist nach wie vor jede/-er fünfte Bürgerin/-er ohne Arbeit – ein Thema, das vor allem die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) erfolgreich zum Kern ihres Wahlkampfes auserkoren hatte. „Es ist interessant, dass die SRS mit ihrem Kandidaten Nikolić im Vergleich zu den letzten Wahlen die serbische Wirtschaft nicht stärker in den Mittelpunkt gerückt hat“, erklärt Mladen Lazić, Professor der Soziologie in Belgrad. Das dürfte sich gerächt haben, der nationalistische Wahlkampf der SRS ging nach hinten los, und dabei half auch die Unterstützung von Heinz-Christian Strache (FPÖ) nichts – er hatte Rechtsaußen Nikolić mehrere Male im Wahlkampf in Belgrad besucht. Auch die national-konservative Partei (DSS) des bisherigen Premier Vojislav Koštunica musste empfindliche Stimmeinbußen hinnehmen, auch sie war mit nationalistischer Rhetorik in die Wahl gezogen. Große Teile der serbischen Bevölkerung standen bei den Parlamentswahlen anscheinend vor einem Dilemma: „Die Mehrheit der Serben will das Kosovo nicht aufgeben, befürwortet aber einen EU-Beitritt. Das hat dazu geführt, dass viele potentielle Koštunica- und Nikolić-Wähler aus Entscheidungsnot überhaupt nicht zur Wahl gegangen sind“, sagt Lazić.
Voreilige EUphorie? Doch der Sieg des pro-europäischen Lagers ist nicht nur hausgemacht, auch der aktive Wahlkampf der EU unter slowenischer Ratspräsidentschaft half Tadić zum Erfolg. Mitentscheidend war hierbei das kurz vor der Wahl unterzeichnete Stabilisierungs-  und Assoziierungsabkommens (SAA) mit Serbien, eine erste formelle Anbindung an die EU. „Vor allem die Andeutung einer baldigen Visa-Freiheit im SAA hat sicher schwankende Wähler in das Tadić-Lager geholt, denn das bestehende Visa-Regime ist für alle Reisewilligen peinigend und erniedrigend“, sagt  Karl Kaser, Südosteuropa-Experte an der Universität Graz.
Trotzdem scheint übermäßige Euphorie unangebracht. Slowenische Medienstimmen machten unmittelbar nach der Wahl treffend und mit einem im EM-Jahr passenden Jargon darauf aufmerksam, dass Tadić zwar die „erste Halbzeit“ gewonnen hätte, die „zweite Halbzeit“ jedoch den Ausgang des Spieles entscheide. Und so könnte sich der Triumph der Pro-Europäer schnell als Pyrrhussieg herausstellen: Die Wahlarithmetik beschert nämlich weder Tadić DS im Bündnis mit den knapp ins Parlament gerutschten Liberaldemokraten (LDP) noch der SRS im Verband mit der DSS eine Parlamentsmehrheit. Beide Lager benötigen einen dritten Koalitionspartner. Der Sozialistischen Partei Serbien (SPS) ist mit 7,5 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis seit der Wende gelungen. Sie ist damit das neue Zünglein an der Waage, ihr Parteichef Ivica Dačić der neue Königsmacher.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der „kleine Sloba“, wie der ehemals enge Vertraute des langjährigen Parteichefs Slobodan Milošević oft genannt wird, lässt sich seither von den beiden großen politischen Lagern umwerben. Dabei wirkt es wie eine Ironie der Geschichte, dass nun just die von Milošević gegründete Partei das Land auf EU-Kurs bringen könnte. Parteichef Dačić hat vor wie nach der Wahl eine Zusammenarbeit mit beiden Lagern nicht ausgeschlossen – jetzt wird verhandelt. Eine Regierungszusammenarbeit mit dem Tadić-Lager wäre nicht einfach, unmöglich ist sie aber nicht.
Viele in der DS zweifeln jedoch daran, dass die Sozialisten ihr nationalistisches Erbe wirklich abgelegt haben. Umgekehrt haben die meisten SPS-WählerInnen der DS nie verziehen, dass deren damaliger Parteichef Zoran Đjinđjić im Jahr 2001 Milošević an den Haager Strafgerichtshof ausgeliefert hatte. Dačić gibt sich als jugendlicher Pragmatiker, scheint aber gleichzeitig zwischen Zukunft und Vergangenheit hin- und hergerissen. Im Wahlkampf sandte er widersprüchliche Signale aus. Wiederholt deutete er an, dass er der Annullierung des kürzlich unterzeichneten Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der EU, wie von SRS und DSS angekündigt, nicht zugeneigt sei und für Serbien nur ein „europäischer Weg“ in Frage käme. Trotzdem reiste er nach Moskau, um Milošević’ Witwe die straffreie Rückkehr nach Serbien für ihre Unterstützung im Wahlkampf anzubieten. „Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Sozialisten nicht im Stande, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, geschweige denn, diese aufzuarbeiten“, sagt Universitätsprofessor Lazić. Durch eine Zusammenarbeit mit den pro-europäischen Kräften könnte sich die SPS vom schlechten Image der 90er Jahre zwar befreien und wieder salonfähig werden, dennoch ist man dem rechten Lager inhaltlich in vielen Punkten näher, ein sich abzeichnender Koalitionspakt auf Länderebene – auch die Hauptstadt Belgrad ist betroffen – könnte ein Vorgeschmack auf solch einen „patriotischen Block“ sein.

Der Weg nach Brüssel führt über Den Haag.
Selbst wenn die Koalitionsverhandlungen in Belgrad das von der EU gewünschte Ergebnis bringen würden, bleibt Serbiens Weg zum Beitritt voller Hindernisse. Vor allem der bis jetzt anhaltende Unwillen des Landes, mit dem Haager Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zu kooperieren, stellt eine Hürde für die Beitrittsbestrebungen Serbiens dar. Konkret verlangt Brüssel die bedingungslose Auslieferung der beiden mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladić und Radovan Karađžić. Erst dann könne das unterzeichnete Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen auch wirklich in Kraft treten. Für nahezu alle politischen Entscheidungsträger Belgrads bleibt der ICTY ein völkerrechtswidriges Siegertribunal, das Serbien unfair behandelt. Verstärkt wurde der schlechte Ruf des Gerichtshofs dadurch, dass der eigentliche Parteichef der Radikalen Partei (SRS), Vojislav Šešelj, nachdem er sich 2003 freiwillig gestellt hatte, mehre Jahre ohne Anklage in Untersuchungshaft saß, ehe sein Prozess Ende 2007 begann. Umgekehrt – so die Meinung vieler SerbInnen – seien viele kosovo-albanische Kriegsverbrecher ohne Verurteilung aus Den Haag zurückgekehrt beziehungsweise nie dorthin gekommen. „Der ICTY war vom Beginn an nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein politisches Instrument. Ein Tribunal ohne politischen Einfluss hätte sicherlich mehr zu einem produktiveren Umgang Serbiens mit seiner Vergangenheit beitragen können“, sagt Vedran Dzihić vom Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Das „gestohlene Kind“. Sowohl innenpolitisch als auch in Hinblick auf einen EU-Beitritt gestaltet sich die Frage der zukünftigen Beziehungen Serbiens zum Kosovo als schwierig. Der bisherige Premier Koštunica (DSS) sprengte bekanntlich im Februar dieses Jahres die Koalition mit Tadić (DS), nachdem das Kosovo einseitig die Unabhängigkeit erklärt hatte. Die Standpunkte beider Koalitionsparteien divergierten daraufhin in der Frage der Konsequenzen: Koštunica forderte, die Gespräche mit der EU abzubrechen, da deren Mitglieder den Kosovo mehrheitlich anerkannt hatten. Tadić  DS verurteilte die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ebenfalls, sprach sich aber für weitere Verhandlungen mit Brüssel aus. Lediglich die Liberaldemokratische Partei von Cedomir Jovanović, die mit 5,24 Prozent der Stimmen erneut den Einzug ins Parlament schaffte, sorgte für die Ausnahme und erkannte als einzige Partei ein unabhängiges Kosovo an.
In der Frage, wie die Beziehungen zum Kosovo zukünftig aussehen sollen, wird sich die Vorgehensweise der beiden großen Lager trotzdem nur in Nuancen unterscheiden. „Eine Regierung unter der Führung der Radikalen Partei würde wohl im Ton rauer agieren, aber mehr politische Mittel als die Verweigerung der Anerkennung hätte sie auch nicht in der Hand“, sagt Historiker Karl Kaser. Besonders problematisch ist die Situation im Nord-Kosovo rund um die geteilte Stadt Mitrovica, wo ein Großteil der serbischen Minderheit im Kosovo lebt. Die hier ansässigen SerbeInnen haben bis jetzt jegliche politische Mitbestimmung im international verwalteten Kosovo abgelehnt, aber bei den serbischen Parlamentswahlen mitgestimmt. Die Souveränität des jungen Staates Kosovo sah die EU durch die Tatsache gefährdet, dass die SerbInnen beim diesjährigen Urnengang auch an den gleichzeitig durchgeführten Kommunalwahlen teilnahmen. Diese Mitbestimmung wurde von der UN-Verwaltung des Kosovo zwar toleriert, aber als „illegal“ bezeichnet. „Die Kommunalwahlen haben demonstriert, dass die Serben im Kosovo und vor allem jene in Nord-Mitrovica de facto vollkommen unabhängig von Pristina leben und sich komplett in Richtung Belgrad orientieren“, sagt Politologe Vedran Dzihić.
Eine Anerkennung des Kosovo durch den ehemaligen Mutterstaat Serbien scheint derzeit ausgeschlossen. Gerade deshalb stellt sich die Frage, ob das Land tatsächlich Teil der Europäischen Union werden kann, wenngleich die Mehrheit der EU-Mitglieder mit der Anerkennung des Kosovo einen Staatsakt gesetzt hat, der für Belgrad aus heutiger Sicht unmöglich realisierbar ist. „Bis sich die Frage des tatsächlichen EU-Beitritts Serbiens konkret stellt, wird noch viel Wasser die Donau und den Ibar runterfliessen“, so Dzihić. „Rechtlich und auch realpolitisch wird ein Beitritt ohne Regelung der Beziehungen zum Kosovo sicherlich nicht möglich sein. Die EU spielt auf Zeit und stellt sich diese Frage einfach – noch – nicht“.

Ausländisches Geld. Serbiens Eingliederung in die EU und den gemeinsamen europäischen Markt liegt momentan noch in weiter Ferne, dennoch machen europäische Investoren am Balkan längst lukrative Geschäfte. Mit einem seit mehreren Jahren jenseits der magischen Fünf-Prozent-Marke liegenden Wirtschaftswachstum (Prognose 2008: 6%), bietet Serbien gute Voraussetzungen für die Vermehrung von westeuropäischem Geld. Bei den Direktinvestments liegt Österreich mit einem Volumen von 1,6 Mrd. Euro für das Jahr 2007 an der Spitze ausländischer Investoren. Neben „Big-Players“ wie der Telekom Austria, der Raiffeisen Zentralbank und der Uniqua-Versicherung sind mehr als 280 österreichische Unternehmen am serbischen Markt vertreten. In einem Bericht der österreichischen Wirtschaftskammer rühmt man sich damit, mit besonderem Verständnis für die Mentalität und die Kultur Serbiens komparative Vorteile auf dem neuen Markt zu haben.

Busek: Der EU mangelt es an konsistenter Strategie.
„Auch im Falle einer pro-europäischen Regierung wird die EU im Umgang mit Serbien viel Geduld zeigen müssen“ sagt Erhard Busek, Sonderkoordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa im KORSO-Gespräch. „Was bis jetzt gefehlt hat, ist eine konsistente Strategie der Union und ihrer Mitgliedsländer sowie eine wirkliche Auseinandersetzung mit Serbien und seinem Selbstbild als Opfer des jugoslawischen Zerfalls“. Glaubt man den jüngsten Meldungen zu den Koalitionsverhandlungen, scheint eine nationalistische Regierung immer wahrscheinlicher. Aber egal welcher Block an die Macht kommt, an der Gespaltenheit des Landes wird sich so schnell nichts ändern. Und so lässt sich heute noch nicht sagen, ob die nächsten serbischen Wahlen nicht schon vor dem nächsten Song-Contest über die Bühne gehen.

David Kriegleder,
Gregor I. Stuhlpfarrer

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >