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Simone de Beauvoir – „Wenn Frauen nichts fordern, bekommen sie nichts“
Mittwoch, 12. März 2008
Anlässlich ihres hundersten Geburtstages am 9. Januar ließ und lässt man Simone de Beauvoir, Vordenkerin der Neuen Frauenbewegung, wieder aufleben. Weitgehend aus dem Gedächtnis des philosophischen, soziologischen und politischen Diskurses verschwunden, sind ihre Schriften heute noch aktuell und diskussionswürdig, darunter vor allem „Das andere Geschlecht“, aus dem der in letzter Zeit häufig zitierte Satz „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“ („On ne naît pas femme, on le devient“) stammt. KORSO versucht ein Resümee ihres Werks aus heutiger Sicht – und hat zwei steirische Frauenaktivistinnen zur Aktualität von Beauvoir befragt.

Tochter aus gutem Hause. Simone de Beauvoir stammt aus großbürgerlichem Elternhaus. Ihr Vater Georges de Beauvoir war Anwalt am Pariser Appellationsgerichtshof, die Mutter Françoise, geborene Brasseur, war streng katholisch. Der Vater erzog Simone im Sinne einer humanistischen Bildung, die Mutter zur Tugend. „Meine gesamte Erziehung war darauf ausgerichtet, dass Tugend und Bildung mehr wert seien als Reichtum [...]“ schreibt Simone in der autobiografischen Schrift Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Aufgrund des versiegenden Familienvermögens wuchs Simone de Beauvoir in dem Bewusstsein auf, später einmal arbeiten zu müssen. Doch die relative Armut der Familie änderte nichts an Simones Gefühl der Privilegiertheit, ja Überlegenheit: „Von der Zufriedenheit zur Überlegenheit ist es eben nicht weit. Voller Genugtuung über den Platz, den ich in der Welt einnahm, hielt ich mich für privilegiert.“ (ebd.)
Mit zwölf erfuhr Simone einen, wie sie schreibt „Bruch in meinem Dasein“, der sie aus ihrem bürgerlichem Dasein wachrüttelte. Sie verlor die Zuneigung ihres Vaters, der sich aufgrund Simones physischer Erscheinung der zierlicher gebauten Schwester widmete. Und sie beginnt, an Gott und der traditionalistischen Moral ihrer Mutter zu zweifeln. Ersteres brachte ihr wohl erstmals – hatte sie bis dahin noch nie das Gefühl gehabt, aufgrund ihres Geschlechtes benachteiligt zu sein – ihre Weiblichkeit in negativer Art und Weise zu Bewusstsein. In ihr Tagebuch schreibt sie: „Ich bin allein. Man ist immer allein. Ich werde immer allein sein.“
Von da an war ihr Dasein ein bewusster Gegenentwurf zur Doppelmoral der Gesellschaft, der sie angehörte: „Die gängige sexuelle Moral schockierte mich gleichzeitig durch ihre Nachsicht und durch ihre Strenge. Mit Staunen ersah ich aus einer Notiz unter vermischten Nachrichten, dass Abtreibung ein Verbrechen sei: Was sich in meinem Körper zutrug, ging doch niemanden außer mir etwas an; kein Gegenargument brachte mich von meinem Standpunkt ab.“ (Memoiren einer Tochter aus gutem Hause)

„Doppelgänger“ Jean-Paul Sartre.
Die Beziehung zu Jean-Paul Sartre, die bis an sein Lebensende dauern sollte und die mit dem an Beauvoir gerichteten Satz „Von jetzt an werde ich mich um Sie kümmern“ in der Zeit des Abschlusses ihres Philosophiestudiums begann, war gelebtes Zeugnis de Beauvoirs Lebensentwurfes als unabhängige, erfolgreiche Frau. Zeitlebens wohnten sie getrennt, heirateten nicht und blieben kinderlos. Während Sartre und de Beauvoir die Verbindung zwischen ihnen als „notwendig“ bezeichneten, waren zeitweilige Liebschaften zu Dritten bloß „zufällig“. Zu dieser „Notwendigkeit“ gehörte auch absolute Ehrlichkeit zueinander, und so erzählten sie sich gegenseitig von ihren erotischen Abenteuern.
Unter Feministinnen, etwa von Betty Friedan und Lucy Irigaray, wurde de Beauvoirs Beziehung zu Sartre als Unterwerfung kritisiert. Die Lektüre ihrer biografischen Schriften und der Briefe an Sartre hinterlassen auch den Eindruck, dass de Beauvoir gewissermaßen in der schwächeren Position war. Mit Jean-Paul Sartre war Simone de Beauvoir aber vor allem auf philosophisch-literarischer und politischer Ebene verbunden. Sie redigierten gegenseitig ihre Werke, unterstützen ab 1945 mit der Zeitschrift Les Temps Modernes die französischen Linken und engagierten sich gegen den Vietnam- und den Algerienkrieg. 1981 veröffentlichte sie Die Zeremonie des Abschieds, ein ausführlicher Bericht über das Lebensende ihres Weggefährten.

Man wird nicht als Frau geboren.
Simone de Beauvoir hatte sich selbst lange nicht als Feministin bezeichnet. Erst die Arbeit an Das Andere Geschlecht (1949) hat ihr ihre eigene Situation, ihr (wenngleich privilegiertes) Leben von Kindheit an als von sozialen Normen und von Männern geprägten „Erzählungen“ abhängig zu Bewusstsein gebracht.
In der Einleitung zu Das Andere Geschlecht schreibt de Beauvoir: „Das Drama der Frau besteht in diesem Konflikt zwischen dem fundamentalen Anspruch jedes Subjekts, das sich immer als das Wesentliche setzt, und den Anforderungen einer Situation, die sie als unwesentlich konstituiert.“ (S. 26) Danach analysiert sie zunächst verschiedene Sichtweisen auf das Weibliche (die biologische, psychoanalytische und materialistische), in den Teilen Geschichte und Mythos zeigt sie Frauenrollen in ihrem historischen Wandel und ihrer Abhängigkeit von männlichen Mythen, die die Frau allesamt als relativ und „Das Andere“ konstitutieren auf. Im Zweiten Buch studiert sie eingehend den Werdegang und die Situation der Frau von der Kindheit bis zum Alter. Im letzten Teil (Auf dem Weg zur Befreiung) beschreibt de Beauvoir die unabhängige Frau, die ihrem Leben Sinn und Ziel geben kann, ohne sich als Relativum ansehen zu müssen.
De Beauvoirs Feminismus ist existentialphilosophisch zu verstehen. Demnach sind „Männlich“ und „Weiblich“ keine Wesenheiten, sondern soziale Konzepte und individuelle Antworten in Form von Entscheidungen. Der Mann hat sich im Laufe der Geschichte als das sich frei Entwerfende konstituiert, dem das Andere, die Frau in ihrer Abhängigkeit entspricht. „Das hängt damit zusammen, dass die Männer in unseren Gesellschaften das, was ich einen Überlegenheitskomplex nenne [...] verinnerlicht haben. Sie sind nicht bereit, ihn aufzugeben. Sie brauchen die Unterlegenheit der Frau, um sich selbst aufzuwerten. Und die Frauen selbst sind so daran gewöhnt, sich für minderwertig zu halten, dass nur ganz wenige wagen, auf dieser Eben zu kämpfen“ (De Beauvoir 1972 im Gespräch mit Alice Schwarzer).
De Beauvoir legt daher einerseits soziale Konstituierungen dar und ruft andererseits die Frauen dazu auf, sich als zur „Transzendenz“ befähigt zu betrachten, d.h. als frei, sich ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen entsprechend auf ihre Zukunft hin entwerfen zu können.
Zur Freiheit gehört de Beauvoir zufolge auch ein Leben ohne Heirat und ohne Kinder. In einem Gespräch mit Alice Schwarzer aus dem Jahr 1976 antwortet Beauvoir auf die Frage, was sie den Frauen in dieser Sache raten würde: „Ich glaube, eine Frau sollte sich vor der Falle der Mutterschaft hüten! [...] Mutterschaft ist heute eine wahre Sklaverei. Väter und Gesellschaft lassen die Mütter mit der Verantwortung für die Kinder ziemlich allein.“
Die unabhängigen Frauen würde in „gleicher Weise erzogen und ausgebildet wie die Männer“, würden ökonomisch unabhängig sein und „bei gleichem Lohn unter den gleichen Bedingungen arbeiten“, Geburtenkontrolle und Abtreibung wären erlaubt, d.h. Entscheidung der Frau und eine Partnerschaft als Ehe wäre ein „freier Zusammenschluss, den beide Partner zu jedem Zeitpunkt aufkündigen können“, so Beauvoir am Ende von Das andere Geschlecht.

Rezeption. Das Andere Geschlecht löste eine Reihe von Empörungen aus. Albert Camus fühlte sich nach der Lektüre dazu veranlasst, ihr mitzuteilen, sie habe „den französischen Mann lächerlich gemacht!“ und der erzkatholische Kritiker Francois Mauriac konstatierte gegenüber einem Mitarbeiter der Zeitschrift Les Temps Modernes: „Jetzt weiß ich alles über die Vagina Ihrer Chefin“.
Ohne zunächst öffentlich diskutiert zu werden, wurde de Beauvoirs Popularität aber stetig größer. Nicht nur durch ihre theoretische Schrift, die später zum Fundament der Neuen Frauenbewegung wurde, insbesondere durch das Leben, das sie führte, inspirierte de Beauvoir die Frauen.
Ihre Darlegung der weiblichen Biologie in Das andere Geschlecht brachte de Beauvoir den Vorwurf des Biologismus ein, den sie selbst aber vehement zurückwies: „Eine Frau hat a priori keinen besonderen Wert, nur weil sie Frau ist! Das wäre finsterer Biologismus und steht in krassem Gegensatz zu allem, was ich denke.“ (im Gespräch mit Schwarzer 1976) Weder glaubte sie, dass die Frau dem Mann von Natur aus unter- noch dass sie ihm überlegen sei.
Die mangelhafte theoretische Auseinandersetzung mit de Beauvoirs Schriften – erst 1992 erscheint in einem soziologischen Sammelband ein Kapitel von Carol Hagemann-Whites, das de Beauvoirs Standpunkt mit „Existentialistischer Feminismus“ betitelt – ist zum Teil auf ihre erzählerische Schreibweise und Bestandsaufnahme – auch Subjektivismus zählt zu den Kritikpunkten – der Situation der Frau zurückzuführen.
In der feministischen Theorie wird Simone de Beauvoir dem Gleichheitsfeminismus zugeordnet, der im deutschsprachigen Raum vor allem von Alice Schwarzer vertreten wird.
Simone de Beauvoir setzte sich also für eine Gleichstellung von Mann und Frau, und nicht für eine Überbewertung, Mystifizierung des Weiblichen oder eine Vormachtstellung der Frau ein. Auch war das, was später Judith Butler weiterführen sollte, die Dekonstruktion des (sozialen und biologischen) Geschlechts, zwar bei Beauvoir vorgedacht, aber eine Neutralisierung der Geschlechtlichkeit war nicht ihr Ziel. „Die Begriffe vom Ewigweiblichen, von der schwarzen Seele, vom jüdischen Charakter abzulehnen, bedeutet ja nicht zu verneinen, dass es heute Juden, Schwarze, Frauen gibt: Diese Verneinung wäre für die Betroffenen keine Befreiung, sondern eine Flucht ins Unauthentische.“ (Das Andere Geschlecht) Vielmehr wollte sie die Abhängigkeit der Frau von männlichen Mythen, an deren Aufrechterhaltung die gesamte Gesellschaft, also Männer wie Frauen, beteiligt war, aufzeigen, ein Bewusstsein dafür schaffen, um die Frau zur Freiheit zu ermutigen. Um dies zu erreichen, befand sie es für notwendig, sich dezidiert gegen die Ehe und die Mutterschaft auszusprechen. Nicht weil daran per se etwas Schlechtes sei, sondern weil die herrschenden Machtstrukturen es der Ehefrau und Mutter verunmöglichten, sich als frei zu betrachten und sich und ihr Leben auf ihre eigenen Möglichkeiten hin zu entwerfen.

Frau und Frauenbild heute. Wie weit sind wir hier heute? „Die Frau ist auch heute noch Das Andere Geschlecht“, sagt Brigitte Hinteregger, Frauenbeauftragte der Stadt Graz.
Etwa 3% der Männer/Väter gehen heute in Karenz – das Argument des Mehrverdienens ist ein Eigentor. Die Anzahl der Frauen in Führungspositionen ist in Österreich rückläufig und betrug im Jahr 2006 28,7%. Im Rahmen des „Global Gender Gap Report 2007“ landete Österreich insgesamt zwar auf Platz 27 (von 128 Staaten weltweit, Siegerland war Schweden), ist aber in allen bewerteten Bereichen mit Ausnahme des Gesundheitsbereiches im Vergleich zum Jahr davor zurückgefallen. Im Bereich „Wirtschaftliche Partizipation“ lag Österreich sogar nur auf Platz 89, was durch die unterschiedliche Bezahlung erklärt wird: Laut einer Studie der EU-Kommission verdienen Frauen bezogen auf den Stundenlohn durchschnittlich 20% weniger als Männer.
„Feminismus ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Antwort auf Statistiken“, definierte die Journalistin Ingrid Kolb, ein Zitat, auf das mich Dr. Elke Lujansky-Lammer, Regionalanwältin für die Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der Arbeitswelt, verweist. „Was sich jedoch seit dem Erscheinen von Das Andere Geschlecht geändert hat, ist die Möglichkeit zur Ausbildung“, so Lujansky-Lammer.
Wenn auch der Begriff der Gleichstellung implizit meint: Gleichstellung dem Mann gegenüber, was wiederum eine Relativierung der Frau bedeuten würde, so ist er de facto ein Instrument, um etwa die Verdienste der Frauen im Unterschied zu den Männern und damit ihre Unterdrückung aufzuzeigen. Daneben müsse man heute „in Richtung Toleranz arbeiten: Ich kann unterschiedlich sein, und trotzdem bin ich gleichwertig“, sagt Lujansky-Lammer: „Die Unterschiede selbst sind nicht das Problem. Das Problem ist, wenn die Unterschiede herangezogen werden, um Dominanz auszuüben.“
Einmal abgesehen von den objektiven Zahlen spielt sich die Aufrechterhaltung männlicher Mythen und Normen heute auf einer subtileren Ebene ab, die Frau erst lernen muss erstens zu erkennen und zweitens dagegen anzukämpfen. „Niemand würde heute öffentlich diskriminieren“, so Hinteregger, die Sprache habe sich zwar geändert, aber nur oberflächlich, so dass das dahinter liegende Denksystem nicht aus den Fugen gerät: „Wir benutzen heute eine neutralisierende Sprache: wir sagen nicht mehr „Mütter“, sondern „Eltern“, meinen aber Mütter, sagen Alleinerziehende, Krankenpflegepersonal, Reinigungspersonal, ehrenamtlich Tätige, denken dabei aber an weibliche Personen.“
Frauen haben heute keine Vorbilder, konstatiert Hinteregger, „Wir brauchen keine neuen Gesetze, sondern die Einhaltung derer, die wir schon haben, und eine starke Politik“. Dann, wenn etwa der Gemeinderat paritätisch besetzt wäre, könnten Frauen sehen, dass sie sich für ihre Rechte einsetzen können und müssen; denn – so das Lieblings-Beauvoir-Zitat von Elke Lujansky-Lammer – „Wenn Frauen nichts fordern, werden sie beim Wort genommen. Sie bekommen nichts“.

Annekatrin Kessler

Literatur
Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Paris 1949, Hamburg 2007.
Simone de Beauvoir, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, Hamburg 2005.
Claudia Gather, Simone de Beauvoir, eine Klassikerin der feministischen Soziologie? in: Labyrinth, 1, 1, Winter 1999.
Susanne Nadolny (Hg.), Simone de Beauvoir „Ich will vom Leben alles“. Ein Lesebuch, Berlin 2007.
Monika Pelz, Simone de Beauvoir. Leben Werk Wirkung, Frankfurt/Mn. 2007.
Alice Schwarzer, Simone de Beauvoir. Weggefährtinnen im Gespräch, Köln 2008.

Simone de Beauvoir (1908 – 1986)

Geboren am 9. Januar 1908 in Paris
1925/26 Studium der Philologie und Mathematik
1926-1929 Philosophiestudium an der Sorbonne, Freundschaft mit Maurice Merleau-Ponty, Beginn der Beziehung zu Jean-Paul Sartre
1931-1943 Philosophielehrerin in Marseile, Rouen, Paris
1940-1944 Freundschaft mit Albert Camus, Jean Genet, Alberto Giacometti, Pablo Picasso
1944 Erste philosophische Veröffentlichung: Pyrrhus und Cineas
ab 1945 Mitarbeiterin bei, später Leiterin von Sartres politisch-literarischen Zeitschrift Les Temps Modernes
1947 erster USA-Aufenthalt und Begegnung mit dem Schriftsteller Nelson Algren
1949 Veröffentlichung von Das Andere Geschlecht
1954 Prix Goncourt für Die Mandarins von Paris
1958-1972 Autobiographische Schriften: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, In den besten Jahren, Der Lauf der Dinge, Alles in allem. 1970: Veröffentlichung von Das Alter
1967 Mitglied des Russell-Tribunal gegen Kriegsverbrechen in Vietnam
1971 Öffentliche Erklärung („Ich habe abgetrieben“) im Kampf gegen ein neues Abtreibungsgesetz
1974 Präsidentin der „Liga für Frauenrechte“
1980 Tod Sartres
Simone de Beauvoir stirbt am 14. April 1986 in Paris

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