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Lend-Gries – vom Arbeiterquartier zum multikulturellen Viertel
Sonntag, 10. Februar 2008
Anfang Dezember war ein ganztägiges Symposium einem transdisziplinären Projekt gewidmet, dessen Teilnehmer sich einer multiperspektivischen Analyse urbaner Räume in Graz gewidmet haben. Hervorgegangen ist dieses Projekt aus einer Kooperation der KF-Universität Graz (Inst. für Geschichte), der TU Graz (Inst. für Raumgestaltung) und dem „Büro der Erinnerungen“ – als Organisatoren zeichneten Nikolaus Reisinger, Gottfried Prasenc und Elke Murlasits.

Im Space04 des Grazer Kunsthauses präsentierten die Referenten aus den Bereichen Geschichte, Architektur und Kulturwissenschaften sowie Medientheoretiker ihre Forschungsergebnisse in Bezug auf Raum, Geschichte und Identität der Bezirke Lend und Gries, der historischen Murvorstadt. Im Foyer des Kunsthauses wurde parallel eine Ausstellung der Projektgruppe sowie der Studierenden der Raumwahrnehmungsklasse der TU Graz eröffnet: In den Objekten – darunter riesige Puzzles, die die Bezirke als Fleckerlteppiche zeigen oder kleine Skizzen im Stil von Reiseführern – spiegeln sich die vielfältigen Welten der Bezirke Lend und Gries.

Straßenmärkte als historische Keimzellen. Ein erster Block steckte mit Beiträgen von Gottfried Prasenc und Franziska Klug (Architektur) sowie Gerhard Dienes und Gerhard Kubinzky (Geschichte) die räumlichen und architektonischen Grenzen der Thematik ab. Die beiden Architekten setzten sich mit den topografischen Voraussetzungen, wie der Infrastruktur bzw. den Besonderheiten des Wohnbaus, auseinander.
Sandra Brugger machte in ihrem auf der Gedächtnisforschung fußenden Referat darauf aufmerksam, dass sich die an der alten, von Norden nach Süden verlaufenden Kommerzialstraße gelegenen Straßenmärkte erst im 19. Jahrhundert zu Plätzen im klassischen Sinn entwickelt haben, die durch Denkmäler und markante Gebäude in ihrer Charakteristik verstärkt wurden. In seinem Input gab Medienphilosoph Erwin Fiala zu bedenken, dass Architektur ihre Bedeutung erst durch die sie benutzenden bzw. rezipierenden Menschen erhalte.

Annenstraße als „Zwischenraum“. Der zweite Teil der Tagung, moderiert von Architekt Harald Saiko, setzte sich mit der Erfahrung von Urbanität auseinander. Von historischer Seite analysierte Claudia Friedrich die Annenstraße als „Zwischenraum“, die nicht nur die Grenze zwischen den Bezirken bildet, sondern auch lange Zeit als der typische Ort eines großstädtischen Graz gelten sollte bzw. auch als „Judenstraße“ gebrandmarkt wurde, bevor sie zu einer „Ramschladen-Straße“ wurde. Mit dem Phänomen der sich ausbreitenden „ethnischen Ökonomien“ setzte sich Michael Hauer auseinander: In den beiden Bezirken waren traditionell ökonomisch schwächere Gruppen ansässig, heute beträgt der Anteil von MigrantInnen zwischen 23 und Prozent. Hauer betonte, dass die oft erwünschte soziale Stabilisierung hier nicht durch Assimilation, sondern durch Bewahrung der eigenen Identität von ethnischen Gruppen erreicht werden kann, wozu das Angebot an vertrauten Waren einen Beitrag leistet.

Urbane Narrative. Drei Mitarbeiterinnen von „Freigangproduktionen“ stellten das interkulturelle Projekt „Floßlend“ vor, das durch Techniken wie Verschiebung (vom privaten in den öffentlichen Raum), Narration und die Videodokumentationen von Alltagswegen die konkrete Lebenserfahrung in diesen Bezirken performativ aufzeigen wollen. Mit ähnlichen Methoden arbeitet Elke Krasny, deren „Narrativer Urbanismus“ mittels der Erzählungen von Bewohnern neue Blicke auf den städtischen Raum produziert.
In ähnlicher Themenstellung widmeten sich die beiden Beiträge von Alexander Verdnik und Christoph Hartner bzw. Walther Moser, den „Gesichtern und Geschichten“ der unterschiedlichsten Menschen, deren Alltagsleben durch Fotos, Video- und Tonaufnahmen medial, aber doch unmittelbar berührend, erfahrbar gemacht wird.

Perspektiven für die Zukunft? In der abendlichen Podiumsdiskussion, an der sich neben den Referenten Margarethe Makovec (rotor), Irmgard Frank (TU Graz), Friedrich Bouvier (Landeskonservator), Hansjörg Luser („Zeit für Graz“) und Bau-Stadtrat Gerhard Rüsch beteiligten, wurden die gesellschaftlichen Prozesse und Perspektiven der rechten Murseite erörtert. Die Stigmatisierung in der Sicht der Bewohner des Ostufers hat sich vom ehemaligen Arbeiterviertel auf die die nunmehrigen Wohnquartiere von MigrantInnen übertragen, so der allgemeine Tenor. Das Projekt eines Naschmarktes am Griesplatz konnte leider nicht verwirklicht werden, trotzdem sei „die Gegend zum Einkaufen interessant“, bekannte Rüsch, und „nicht so langweilig wie die Siedlungen in anderen Bezirken“. Makovec vermerkte vor allem die zunehmende Konzentration von kulturellen Aktivitäten, zuletzt des HDA (Palais Thinnfeld), in den beiden Bezirken, die Hoffnung für die Zukunft gebe. Dessen ungeachtet werde aber eine zunehmende Reglementierung von Seiten der Behörden als negativ für die Entwicklung kreativer urbaner Freiräume empfunden.
Die Publikation der Projektergebnisse sollte für die städtische Politik Anlass genug sein, bei einer Neuorientierung ihrer Stadtplanungskonzepte auch die Potenziale und Chancen für Lend-Gries nicht aus den Augen zu verlieren.

Josef Schiffer

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