Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Alice Wenzl Superstar
Mittwoch, 12. Dezember 2007
Lang anhaltender, herzlicher Beifall für die Premiere der Bühnenadaption des Nonsens-Kinderbuches „Alice im Wunderland" durch den ungarischen Gastregisseur Viktor Bodo. Das Grazer Schauspielhaus und Intendantin Anna Badora heimsen nach einigen Anläufen verdienterweise den ersten großen Erfolg dieser Saison ein.

Der Autor Lewis Carroll alias Charles L. Dodgson hatte das Glück, im „richtigen" – nämlich dem viktorianischen – 19. Jahrhundert als Mathematikdozent und Liebhaber kleiner Mädchen in Oxford zu leben. Würde er heute leben, hätte die Welt einen Klassiker weniger und möglicherweise einen Verdächtigen mehr, der sich (wörtlich) im Netz der Kinderpornografie verfängt. Man soll die Segnungen der Sublimierung nicht gering schätzen. Zu Alice, seiner berühmtesten Gespielin, wurde dem kauzigen Genie, das seiner Kindheit nicht entwachsen konnte, von der Mutter schließlich jeder Kontakt verboten.

„Alice im Wunderland" als massentauglicher Digitalramsch 1:1 umgesetzt, ist eine Albtraumversuchung, der Viktor Bodo glücklicherweise nicht erlegen ist. Ein dunkler Bühnenraum, eine helle abgestufte Schrägbühne, im Hintergrund eine große Uhr beziehungsweise Weltmaschine sind anfangs alles, was die Regie braucht, um die Geschichte für Alice und die Zuseher zu entwerfen. Alices Traum wird als wirbelnde Abfolge von Tanz- und Steppeinlagen, Akrobatik oder zumindest deren Parodie erzählt. Bodo entwickelt gleichermaßen lichte und rätselhafte Bilder, etwa wenn Alice für ihren langen Zeitlupensturz hinab in den Schacht einfach hoch hinaufgezogen, in der Hutmacherszene wie von Wirbelstürmen umgeblasen wird oder unendlich mühsam auf einen überdimensionierten Tisch klettert.

 

 

Echtes Theater-Wunderland. Das 39-jährige Regietalent aus Budapest nimmt Carrolls Text zum Anstoß für ein Theater, das auf hohem Niveau mit der Eventkultur konkurriert. Sein Hochleistungsvaudeville bietet den Schauspielern reichlich Gelegenheit zu Glanznummern: Erik Göller als personifizierte Raupe, Carolin Eichhorst als geheimnisvolle Grins-Katze oder Steffi Krautz als blutrünstige Königin und mitreißende Sängerin. Und immer wieder Jan Thümer steppend, als Kaninchen auf und ab rennend, Hüte werfend. Das Schauspielhaus Graz verfügt derzeit über ein Ensemble – nicht nur jenes oben im „Wunderland", auch seine Kollegen im Zuschauerraum –, das Intelligenz, Engagement und Kreativität sympathisch und glanzvoll miteinander verbindet. Musikeinlagen, Theaterwitze über das Theater, rasanter Körpereinsatz, eine lustvolle Symbiose von Ausstattung und Regie: Bodo bringt alles, was derzeit jung und frech ist – nur besser. Aber diese „Alice" erinnert nicht zufällig an Kafkas „Schloss" in der vergangenen Spielzeit; perfekte Warenqualität, die sich an austauschbaren Themen immer wieder wiederholt.

 

 

Sprachlose Alice. Wenn man etwas in dieser Inszenierung vermisst, ist das absurderweise eine präsentere Andrea Wenzl, obwohl die doch fast ununterbrochen auf der Bühne steht. Aber indem Bodo die Streitgespräche Carrolls mit ihren Machtansprüchen und Aggressionen minimiert, nimmt er der Alice von Andrea Wenzl einige Chancen, sich vom umhergestoßenen Objekt wieder zum argumentierenden Subjekt zu emanzipieren. Mit einer weniger sprachlosen Alice wäre automatisch auch mehr Carroll-Touch, also Werktreue, entstanden. Dass in Bodos Theaterfeuerwerk die Mischung des Buches aus Reinheit und Grausamkeit, aus Neugier und Verworfenheit erhalten bleibt, verdankt sich der beunruhigenden Intensität, mit der Andrea Wenzl spricht, singt und tanzt. Spätestens mit dieser anrührend-schrägen „Alice" wird klar, dass die Kindfrau Andrea Wenzl, erotisch und unschuldig zugleich, eine ganz besondere Schauspielerin mit allen Anlagen zum Star ist. Christa Ricci vielleicht? Zu wenig. Wenn man schon vergleicht, wie wäre es mit der großen Giulietta Masina?

 


Pflichtbesuch für alle, die nicht auf viktorianischen Abonnentengeschmack fixiert sind. Noch am 11., 13., 19., 21. und 29.12.

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >