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Warum Graz nicht Manhattan ist
Dienstag, 11. September 2007
Binsenweisheiten kann man nicht widerlegen und eine Birne nicht mit dem „Big Apple“ vergleichen. Trotzdem könnte Graz einiges von Manhattan lernen.

Über 600 Songtitel listet „Wikipedia“ auf, in denen es um New York geht – von Art Garfunkels „A Heart in New York“ bis zu „You’ve seen Harlem at its best“ von Ethel Waters. Kein Wunder, dass kaum eine andere Stadt der Welt mit so vielen Mythen, Klischees und fixen Vorstellungen verbunden ist wie die Metropole an der amerikanischen Ostküste.
Insbesondere die Halbinsel Manhattan mit über 50.000 Einwohnern pro Quadratkilometer gilt bekanntermaßen als Fokus des so genannten „amerikanischen Traums“ – frei nach Frank Sinatras „If I can make it there, I’d make it anywhere“ vom Tellerwäscher zum Millionär oder so ähnlich. Dem erstmaligen Besucher, egal ob geschäftlich oder als Tourist, öffnet sich in seiner Vorstellung eine neue Welt, die sich jedoch schnell relativiert.

Gut, selbstverständlich sind die unzähligen Hochhäuser beeindruckend, genauso wie die zahllosen Museen, in denen man mehr und wertvollere Kunstwerke an einem Fleck zu Gesicht bekommt als irgendwo sonst auf der Welt. Und das Tempo, das die Stadt und ihre Bewohner vorgeben, wirkt tatsächlich einzigartig – wer sich zumindest ein paar Tage in Manhattan aufhält, bekommt das Gefühl, dass hier tatsächlich jeder denkmögliche Hype seinen Ausgangspunkt findet: Ob ein spontanes Gratis-Konzert von „American Idol“-Gewinnerin Kelly Clarkson am einen Tag, die iPhone-Präsentation im superstylishen „Apple“-Store am nächsten oder ein Model-Shooting mit Heidi Klum – hier vergeht kein Tag, ohne den Wind des Zeitgeists um die eigenen Ohren wehen zu spüren.
Vielleicht sind es die vielen „H&M“-Shops – sie gleichen von der Auslage bis zum Reklameschild jenen in Graz –, die den steirischen Besucher rasch auf den Boden der Tatsachen zurückholen: New York ist eine Großstadt – aber nicht viel mehr oder weniger als andere auch. Und New York plagen ähnliche Probleme wie die meisten Städte auch: 60.000 Menschen sind hier obdachlos – und die Zahl befindet sich im Steigen –, historische Highlights wie die Brooklyn Bridge gelten als einsturzgefährdet, weil zu wenig Geld in Renovierung und Instandhaltung gesteckt wird, das Niveau der New Yorker Schulen gilt im US-Vergleich als äußerst niedrig und bei den knapp zwei Millionen Afroamerikanern, die im Schmelztiegel der Kulturen und Völker leben, gilt Mord als häufigste nicht natürliche Todesursache.

Freilich: Dem Touristen offenbart sich davon wenig in seiner „Heile Welt“-Sicht, mit der sich ihm die Stadt präsentiert. Und insbesondere der Grazer, der noch orange „Säuberungs“-Inserate wegen angeblicher Bettlerkriminalität, afrikanischer Drogendealer-Welle und dergleichen in Erinnerung hat, wundert sich: Es ist schwer vorstellbar, dass im Grazer Stadtpark eine Jungfamilie gemütlich picknicken würde – nur eine Armlänge von einem Obdachlosen entfernt, der daneben sein Tag- und Nachtquartier aufgeschlagen hat. Die Homeless-Fußball-Weltmeisterschaft im Rahmen von „Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas“ bei uns ist ja auch schon eine Weile her – heute sieht man nicht einmal mehr, dass sich jemand die Parkbank mit „so jemandem“ teilen würde. In Graz, wohlgemerkt, nicht in einem der zahlreichen Parks in Manhattan.

Apropos Parks: Trotz der unvorstellbar hohen Bevölkerungsdichte von Manhattan gelang es, zahlreiche Grünflächen in so ziemlich jedem Stadtteil zu bewahren, die von der Stadtverwaltung perfekt gepflegt und instand gehalten werden. Die New Yorker Parks sind tatsächlich Erholungsoasen für alle – Hundebesitzer, Freizeitsportler oder einfach nur Erholungssuchende finden hier genügend Platz, der auch ausreichend genützt wird. Ab Mittag sind die zahlreichen Parkbänke größtenteils besetzt – was bei uns unter die viel zu selten erfüllte Forderung nach so genannten konsumfreien Räumen fällt, ist in Manhattan längst Realität.

Genauso wie im Übrigen Ansätze zur Bekämpfung des täglichen Verkehrschaos. Bürgermeister Michael Bloomberg führt die City-Maut ein – acht Dollar kostet dann eine Fahrt nach Manhattan. Und sollte New Yorks Mayor das auch nur tun, um der kalifornischen Klimaschutz-PR-Lawine von Arnold Schwarzenegger etwas entgegenzusetzen, so gehört er mit dieser Entscheidung zumindest zu jenen Politikern, die anlässlich des drohenden Klimawandels tatsächlich wirkungsvolle Maßnahmen setzen – laut dem ehemaligen Weltbank-Präsidenten James D. Wolfensohn verursacht New York zur Zeit allein mehr CO2-Emissionen als beispielsweise ganz Norwegen.

Um beim Thema Verkehr zu bleiben: Eine New Yorker U-Bahn-Karte, die zwei Stunden für das komplette 400 Kilometer lange Netz gültig ist, kostet mickrige 1,50 Dollar – und ist damit umgerechnet um einiges billiger als die Stundenkarte der Grazer Verkehrsbetriebe. Auch hierbei sollte sich Graz gerade in Zeiten wie diesen ein Beispiel an der Millionenmetropole nehmen.

Zwiespältiger zu betrachten als die Preise für den öffentlichen Verkehr sind hingegen die auffallende Freundlichkeit und Zuvorkommenheit der New Yorker Besuchern gegenüber. Denn egal ob in Restaurants, Geschäften oder auf der Straße – sieht man auch nur im Entferntesten so aus, als ob man Hilfe benötigen könnte, steht sofort jemand da und bietet ebendiese an. „Customer care“ beziehungsweise Service-
orientiertheit im Blut quasi – oder eben die „perfekte Dienstleistungsgesellschaft“, die auch nach Arbeitsschluss nicht zu Ende ist. Freilich basiert diese gerade für Europäer oft mehr als auffällige Hilfsbereitschaft zu großen Teilen auf der nicht geringen Anzahl jener Jobs, die bei uns als „prekäre Dienstverhältnisse“ beschrieben werden. Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich in New York noch weiter als anderswo; während man in Manhattan in guten Vierteln für ansprechende Wohnungen 3000 Dollar aufwärts pro Monat Miete zahlen muss, haben viele andere zwei bis drei Billigjobs gleichzeitig, um überhaupt überleben zu können. Deshalb wird dem Besucher für einen visierten Trinkgeld-Dollar eben überall die Tür aufgehalten – ein System, das zumindest in Manhattan zu funktionieren scheint. Die Arbeitslosigkeit wird in Grenzen gehalten, die Billigarbeitskräfte werden in mehr oder weniger schicke Uniformen gesteckt, um ihr Selbstwertgefühl nicht sinken zu lassen, und diejenigen, die das Geld haben, können ihren Reichtum noch mehr genießen.

Manhattan lässt auch die ärmeren New York-Bewohner den anfangs bereits erwähnten „amerikanischen Traum“ träumen – und daran glauben. Selbst die guten Universitäten der Halbinsel zwischen Hudson-, East- und Harlemriver sind mittlerweile von allen Volksgruppen frequentiert – Einwandererkinder der zweiten, dritten oder vierten Generation, die es „geschafft“ haben. Denn Integration läuft hier nach einem einfachen Muster ab: Jede Volksgruppe hat ihr eigenes Viertel – von Chinatown bis zu Little Italy. Die Netzwerke innerhalb dieser Stadtteile scheinen zu funktionieren – und alle haben anscheinend das nicht nur auf Vorurteilen basierende Egomanentum vieler New Yorker bereits von Anbeginn inhaliert. Denn, und das beweist New York City tatsächlich, die typisch amerikanische Hilfsbereitschaft und das den New Yorkern nachgesagte Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste-Motto können nebeneinander funktionieren – oder besser miteinander, wie man widersprüchlich eigentlich formulieren müsste.

Apropos widersprüchlich: Auch aus politischer Sicht ist New York ein spannendes Umfeld. Die letzten beiden Bürgermeister, Bloomfeld und sein Vorgänger Rudolph Giuliani, waren bekanntermaßen Republikaner – in einer Stadt, die grundsätzlich als liberal gilt. Vielleicht hat Bloomfeld ja auch deshalb heuer die Republikanische Partei aus Protest gegen die Bush-Politik verlassen – er hofft jedenfalls, als „unabhängiger Kandidat“ seine Wiederwahlchancen im Jahr 2009 zu steigern. Im Wahlkampf 2001 war er übrigens noch für die Demokraten angetreten – der Milliardär, der seine Bürgermeisterarbeit für einen symbolischen Dollar Monatsgehalt betreibt, ist ideologisch von jener bereits angedeuteten Flexibilität offensichtlich gezeichnet. Und diese Flexibilität zeigt sich auch in der Stadt, die von der Freiheitsstatue geziert wird: So ist New York beispielsweise Vorreiter in Sachen strenger Nichtraucherschutz – in Manhattan ein Restaurant oder Lokal zu finden, in dem man noch rauchen darf, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Selbst in den Gastgärten ist „no smoking“ angesagt – dafür wird nun auf den Straßen und in den Parks mehr geraucht denn je. New York ist eben auch die City der Widersprüchlichkeiten und offenbart sich den Besuchern als jene Stadt, in der man sich trotz republikanischer Law-and-Order-Politik demokratisch-liberal fühlen kann.

Ein weiteres Beispiel gefällig? In Manhattan sind sogar die Hundewiesen gesetzlich geregelt – und eingeteilt: Es gibt eigene Hundewiesen für große und für kleine Hunde – Separation für Vierbeiner, die unübersehbar zu den beliebtesten Hausgenossen in der Single-Metropole Manhattan zählen. Am Eingang jeder Hundewiese wird genau darauf hingewiesen, was innerhalb des Zaunes erlaubt ist und was nicht: „In einen Kampf involvierte Hunde müssen die Wiese verlassen, bis sich alle wieder beruhigt haben“, steht da beispielsweise. Oder: „Wenn Ihr Hund ein Loch gräbt, schaufeln Sie  es wieder zu, bevor Sie mit Ihrem Hund die Hundewiese verlassen.“
Doch die zahlreichen Warn- und Verbotsschilder an allen Ecken sowie die vielen Videoüberwachungseinrichtungen geben den „Visitors“ trotzdem nicht das Gefühl, in einem gläsernen Käfig zwischen Wall Street und Museum of Modern Arts herumzulaufen. Und schon gar nicht bekommt man den Eindruck, es mit einer durch die Terroranschläge auf das World Trade Center traumatisierten Bevölkerung zu tun zu haben – sechs Jahre nach 9/11 erinnert nur mehr eine relativ streng abgeschirmte Baustelle an das Ereignis, das weltpolitisch viel größere Auswirkungen hatte als auf das Leben jener Menschen, die eigentlich davon betroffen waren. Besucher können mit ihren Digitalkameras Fotos von Kränen und Maschinen durch den löchrigen Baustellenzaun schießen – und wer wirklich großes Interesse an den Geschehnissen hat, kann auch eine Führung durch einen Feuerwehrmann buchen. Der Andrang dazu hält sich aber in Grenzen – für die New Yorker selbst ist 9/11 längst Geschichte und Vergangenheit. Nicht einmal ein Souvenirstand (was auch immer dieser verkaufen könnte) findet sich an jenem Platz – und ringsum geht das Leben längst wieder seinen Lauf.

Auf den New Yorker Tourismus sollen die Anschläge jedoch trotzdem Auswirkungen gehabt haben, wie man hört. Um fast zehn Prozent sind die Besucherzahlen seit  2001 zurückgegangen – trotzdem kommen noch immer über 35 Millionen Menschen Jahr für Jahr in die „Stadt, die niemals schläft“. Vermutlich ist der Hauptgrund für den doch finanzrelevanten Besucherrückgang in den (mit der Terrorgefahr begründeten) verschärften Einreisebestimmungen in die Vereinigten Staaten zu finden – und auch im außeramerikanischen Protest gegen George Bush, denn der Satz „Ich fahre erst wieder in die USA, wenn Bush nicht mehr Präsident ist“ ist gerade in Europa ein viel gehörter. Da nützen auch die „Anti-Bush“-Nadeln, die an manchen Ständen beim Central Park verkauft werden, nichts.

Fazit eines Grazers in New York: NY ist selbstverständlich eine Reise wert – nicht nur aus touristischen Impulsen und auch nicht nur deshalb, um einmal echtes „Großstadtfeeling“ zu spüren, denn das gibt es auch in vielen anderen Städten. New York lässt sich auch nicht mit plumpen anti-amerikanischen Reflexen beschreiben, dazu sind die Stadt beziehungsweise ihre Bewohner viel zu stark durch ihre unvergleichliche Vielfalt geprägt. Und gerade dieser bunte Strauß des Miteinanders lässt selbst für eine vergleichsweise provinzielle Stadt wie Graz Punkte finden, die durchaus Vorbildcharakter haben.

Bernd Hadler

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