Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark
Paris – Graz, Mai 2007
Archiv - SONDERTEIL: Die ersten zehn Jahre
Imagevon Karl Wimmler

Nein, kein Wort über den Mai 68 selig. Die Druckerpressen für die Reminiszenzen der Veteranen da und dort, der Besinnungsaufsätze über Kameradschaftsabende, sind schon angelaufen. Fürs nächste runde Jubiläum 2008. Nicht mit mir. Seit sich ein Salzburger Ex-Landeshauptmann und der steirische Bischof der Katholiken als „Angehörige der 68er-Generation" bezeichnet haben, ist mir endgültig die Lust vergangen.

Eigentlich war ich fast gar nicht in Paris in dieser ersten Maiwoche des heurigen Jahres. Zumindest kaum dort, wo man als Auswärtiger in der Regel hinstrebt. „Warst du im Café de Flore?", wurde ich vor dem Rückflug gefragt. Dem Kultlokal am Boulevard Saint Germain, seit es Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir und unzähligen anderen Künstlern und Intellektuellen als Stammcafe diente. Zugegeben, auch wenn man schon öfter in Paris war, die mit Touristen überschwemmte Innenstadt lässt sich nicht völlig Imagevermeiden. Irgendwann sieht man unweigerlich den Eiffelturm. Oder erhascht einen Blick auf Notre Dame. Vielleicht auch das Centre Pompidou. Mir wiederum ist Danton ganz recht. Von dem ich fast alles vergessen habe, außer der Strophe eines Biermann-Liedes:

Am nächsten Mittag schlenderte ich
Übern Saint-Germain-Boulevard
Und als ich an unsre Stelle kam
Da traf ich ihn wieder – na klar:
Groß, oben auf seinem Sockel stand
Danton – der Kerl! Danton
Und auf seinem Haupt, zwei Ratten der Luft
Die flatterten auf und davon.

Schönes Lied, wie nicht wenige von Biermann. Auch wenn er in den letzten Jahren manchmal etwas abwegige Thesen in die Welt setzte. Auf diesem steinernen Sockel des Danton-Denkmals am Eingang zur Metro-Station Odeon lese ich (zum wievielten Mal?): „Nach dem Brot ist die Erziehung das erste Bedürfnis des Volkes". – Gut und schön. Aber welche? Diese etwa? – „Ganz besonders wurde ich immer wieder darauf hingewiesen, dass ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw., ja aller Erwachsenen bis zum Dienstpersonal unverzüglich durchzuführen und zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfe. Was diese sagten, sei immer recht. Diese Erziehungsgrundsätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen." Sagte Rudolf Höss, Kommandant in Auschwitz, bevor er gehenkt wurde.

Ich habe keine Aufmärsche gesucht am ersten Mai. Irgendwo musste es welche gegeben haben: So viele Flics in entleerten (Neben-)Straßen waren an den anderen Tagen nie zu sehen. Dafür waren die Museen gesperrt. Worüber die Touristen lästerten. Ich nicht. Unterwegs mit Freunden, auf deren Wiedersehen ich mich gefreut hatte, lässt sich’s auch ohne Museen ganz gut leben. Und ich bin nicht schlecht eingestimmt auf diese Stadt. Unter anderem durch eine Geschichte über den Eiffelturm von Sébastien Lapaque, einem der jüngeren französischen Schriftsteller, die in dem neuen, roten Bändchen „Paris. Eine literarische Einladung" aus dem Wagenbach-Verlag versammelt sind: „Dieses Eisenbabel, dieser Schrotthaufen… Der geht mir schon viel zu lange auf die Nerven… Raubt mir den Schlaf, wenn er nachts blinkt. (…) Das wäre ein genialer Coup. Eine Plastikbombe an alle vier Füße und Wumm!" – Keine Sorge, die deklassierten Vorstadtkinder lesen das nicht. Wohl auch nicht ihre älteren Geschwister. Die Experten für brennende Autos, wie hierzulande gerne mit leicht schauerlichem Unterton berichtet wird. Und die Herr Sarkozy mit dem Kärcher wegfegen möchte. Er wird’s noch billiger geben.

Brennende Autos hab ich keine gesehen. Obwohl ich diesmal in St. Denis absteigen konnte, dieser uralten Vorstadt im Norden. Allerdings nicht in einer der berüchtigten Wohnsilowüsten, sondern – auch alles andere als vornehm – nicht weit entfernt von der zweitältesten gotischen Kathedrale der Welt. Grabstelle der französischen Könige bis zur Revolution. Im Jahre 754 ließ sich hier, in dem der Kathedrale vorangegangenen Kloster, Pippin der Kurze zusammen mit seinen Söhnen Karlmann und dem späteren Karl dem Großen vom Papst zum König weihen. – Karl der Große, der „Begründer Europas", der vor allem als Verbrecher und Schlächter groß war. Das allerdings wird auch hierzulande weder in einer Hauptschule noch in einem Gymnasium noch – ich bin mir ziemlich sicher – an einer Uni gelehrt. Und Gesamtschulen werden daran wenig ändern. Ach, Europas Vorbilder und Ideale. Zwanzig Minuten Spaziergang von der Kathedrale entfernt findet man was davon. Eine Tafel auf der Brücke des Seine-Kanals macht darauf aufmerksam: „Zum Gedenken an die Algerier, die hier am 17. Oktober 1961 friedlich für ihre Rechte und ihre Freiheit demonstrierten und im Zuge einer blutigen Unterdrückung ermordet wurden. Gegen das Vergessen und Verschweigen. Die Gemeinde von St. Denis." Die Tafel ist sichtlich neu. Und etwas abseits, an der seitlichen Mauer des Kanals, dann eine weitere mit folgendem Text: „Am 17. Oktober 1961 demonstrierten dreißigtausend Algerierinnen und Algerier aus der Region Paris friedlich gegen die gegen sie verhängte Ausgangssperre. Diese Demonstration wurde auf Befehl des Pariser Polizeipräsidenten brutal niedergeschlagen. Zahlreiche Manifestanten wurden durch Kugeln getötet, Hunderte Männer und Frauen wurden in die Seine geworfen und Tausende wurden geschlagen und verhaftet. Im Kanal von St. Denis fand man danach die Leichen.
Gegen den Rassismus und das Vergessen, für die Demokratie und die Menschenrechte wurde diese Tafel vom Bürgermeister von St. Denis, Didier Paillard, am 21. März 2007 enthüllt."

Avenue de Stalingrad. Hier, wo vor einem halben Jahrhundert Flüchtlinge und Einwanderer aus Algerien und anderen Maghreb-Staaten ihr Haupt zu erheben wagten, drückt heute das schwarze Afrika dem Straßenbild seinen Stempel auf. Manchmal bin ich fast der einzige Weiße. Und erkenne nur noch an den Straßennamen, dass St. Denis einmal auch eine kommunistische Hochburg gewesen sein muss: Gleich hinter der Kathedrale die „rue de la Commune de Paris", die „avenue Lenine", die sich mit der „avenue de Stalingrad" kreuzt, die „rue Maurice Thorez", „rue des victimes du Franquisme" (Straße der Opfer des Franco-Regimes) und so weiter. Mit dem Untergang der alten Industrien wurde hier auch die KP eine zu vernachlässigende Größe. Und noch orientierungsloser als sie ohnehin schon war. Die Deklassierten geben stattdessen ein praktisches Reservoir ab als Auszubeutende und Konsumenten. Unorganisiert und vereinzelt, wie sie den anonymen Herrschaftsmächten gegenüberstehen, denen sie sich irgendwann ausliefern, um zu überleben. Und für viel mehr als zum Überleben reicht es selten. Die Bausubstanz zwischen fünfzig, hundert und mehr Jahre alt, ohne dass Wesentliches investiert wurde. Nicht wenige der neueren Bauten stehen leer, Büros, die erst vor wenigen Jahren errichtet wurden – leer oder behelfsmäßig zu Wohnungen umfunktioniert.
Und nicht wenig Dreck. Doch, die Müllentsorgung funktioniert noch. Mülltrennung allerdings scheint exotisch. Und in einer Straße, die ich täglich entlang schlendere, verschwinden die lange vor meiner Ankunft am Gehsteig lagernden Berge von Hundekot erst am Morgen des Wahlsonntags. Ein Wahllokal liegt um die Ecke.
Ungern fahre ich nicht zurück. Sonst wäre nicht am letzten Tag noch dieses Gedicht entstanden:

Nie mehr Paris!
Der Gare de Monparnasse um sechs Uhr abends
Die umsteigenden hetzenden Massen.
Die halbe Bier um neun Euro
In einem Allerweltswirtshaus
Nicht auf dem Eiffelturm
Der von Sébastien Lapaque
Noch nicht gesprengt wurde.
Dafür die Berge von Hundescheiße
Außer am Champs Elysées.
Die Metro nach St. Denis um acht Uhr abends
Die Sardinen nun schwärzer.
Die schreienden irre Gewordenen
Am Gare de l’Est der eine
Am Place de Clichy der andere
Beide schwarz
Und man kann sie verstehen.
Die martialischen Flics
Am Place Victor Hugo
Vor der uralten gotischen Basilika
Zur Vertreibung der fliegenden Obsthändler
Am Tag der Wahl des Herrn
Sarkozy
Zum Präsidenten
Gefährlich wie andere Holzköpfe
Die den honorigen Patrioten
Zu spielen sich mühen.
Adieu, Paris!

Da ich – zum ersten Mal – billig fliege, stehe ich in der Abflughalle in der längsten Schlange. Als Letzter. Vor mir Robert Schindel, Autor nicht nur von „Gebürtig". Er war es, der nach dem „Café de Flore" gefragt hat. In dem ich unter Verweis auf die Touristenmassen nicht war. – „Naja", wendet er ein, „soll ich wegen der Touristen mein Stammcafe aufgeben, in das ich seit 1964 immer wieder geh’, wenn ich hier bin?" Und das Gespräch verkürzt die Wartezeit. Wechselseitige Erinnerungen. Er, der fast zehn Jahre Ältere, 1972 auf einer Versammlung der marxistisch-leninistischen Studenten in Wien. Von mir sprachlos bestaunt. Lieber höre ich von seinen – er sagt: nur sporadischen – Graz-Kontakten Geschichten erzählen. Unter anderem: 1968 gab es im Stefaniensaal ein Weihnachtskonzert. Keines mit „Stille Nacht" und Waggerl. Sondern eines der US-Air-Force. Am Höhepunkt des Vietnamkrieges. Mit einer Million toten vietnamesischen Kämpfern und vier Millionen getöteten Zivilisten. Und einer Million heute noch an den Spätfolgen des Dioxins leidenden Vietnamesen, lese ich im Netz. Und Robert Schindel erzählt: „Da sind die revolutionären Massen natürlich aus Wien nach Graz gefahren. Wir zehn Hanseln haben den in Graz organisierten Protest unterstützt." Aber nur kurz. Mit „harmlosen" Flugzetteln von der Galerie. „Ich bin ordentlich verprügelt worden. Auch weil die Polizisten mich zuerst aufgrund meines Äußeren für einen iranischen Studenten gehalten haben. Davon gab es damals ja viele in Graz. Nachdem ich ihnen eine wienerische Goschen ang’hängt hab, waren sie etwas zurückhaltender. Aber eine Nacht im Knast am Paulustor war uns trotzdem sicher."

Verdammt, jetzt bin ich doch noch bei 1968 angelangt.

Karl Wimmler geboren 1953, grazer, multipler dilettant - u.a. als angestellter, gärtner, historiker, gelegenheitsschriftsteller, kaum noch als alleinerzieher zweier kinder.

» Keine Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.
» Kommentar schreiben
Nur registrierte Benutzer können Kommentare schreiben.
Bitte melden Sie sich an oder registrieren Sie sich.
 
< zurück   weiter >