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Annäherungen an die Steiermark 1997 bis 2007 |
Archiv - SONDERTEIL: Die ersten zehn Jahre | |
von Hedwig Wingler
1997 Es ist 30 Jahre her, dass ich als Arbeitsmigrantin von Graz nach Deutschland gegangen war. Gerade 1997 oft von meinem Wohnort Berlin nach Köflach gereist, um die Mutter zu besuchen. Im Frühjahr, beim Warten auf den Anschlusszug, im Grazer Bahnhofsrestaurant „Rosenkavalier" jene Pepi aus Ehrenhausen, etwas älter als ich, am Nebentisch, die den Satz herausschob: „Jo beim Hitler woa net olles schlecht." Hätte ich mich abhalten lassen sollen, den Umzug in die Steiermark vorzubereiten?
Im selben Jahr wird der KORSO gegründet. 1998 Durch den Roman „Die Schrift des Freundes" von Barbara Frischmuth lerne ich, dass nicht nur Deutschland, sondern auch Österreich ein Einwanderungsland ist. Frischmuth beschreibt die Konflikte zwischen verschiedenen islamischen Gruppen in Wien, stattet den Text mit einer spannenden Handlung aus und vermittelt eine Ahnung von der Spiritualität der islamischen Religion. Unsere Mutter ist 1997 im Oktober gestorben, ich fahre zum Aufräumen des Nachlasses öfters nach Köflach. In Rosenthal an der Kainach, meinem Geburtsort, geht die Rekultivierung des aufgelassenen Braunkohle-Tagebaues voran. Mein und meiner Mutter Geburtshaus musste, weil es auf Kohle stand, im Jahr 1943 dem Bergbau weichen. Das Regime versuchte noch in den letzten zwei Kriegsjahren aus der „Ostmark" alles an Kohle und Eisen herauszuholen, was möglich war. Die Waffenproduktion im „Altreich" war damals durch den Bombenkrieg der Alliierten schon stark reduziert. 1999 Klaus Voigt, Berliner Historiker, erzählt mir von Josef Schleich. Voigt forscht zum Thema Exil in Italien in der NS-Zeit. Er entdeckte bei Recherchen im Steiermärkischen Landesarchiv am Karmeliterplatz, dass eine Gruppe jüdischer Kinder, die sich 1943 über Slowenien und Italien in die Schweiz retten konnte, ihr Leben einem Grazer Geflügelzüchter verdankt: Schleich Josef hat vermutlich Tausende von Flüchtlingen jüdischer Herkunft über die Steiermark nach Slowenien geschleust. Ich kann es erst überhaupt nicht glauben – wir hätten doch in Graz davon hören müssen. Voigt meint, Schindlers Liste würde, was die Anzahl der Geretteten betrifft, von Schleichs Menschenschmuggel bei weitem übertroffen.Voigt wird dazu 2006 ein Buch herausgeben: „Josef Indig, ‚Joškos Kinder’", und 2007 werde ich es im Februar-Heft des KORSO vorstellen können. 2000 Noch von Berlin aus verfolge ich die Reaktionen der anderen EU-Länder auf die schwarz-blaue Regierungsbildung in Österreich. Ich freue mich, dass mein Neffe und seine Frau zu den „Donnerstags-Demonstranten" in Wien zählen. Seit einiger Zeit durfte ich bei Nationalratswahlen per Briefwahl mitmachen, in der österreichischen Botschaft in Berlin-Mitte, in einem Haus, wo sich auch die japanische Botschaft befand und daneben die syrische, typischer DDR-Bau in der Hermann-Matern-Straße, die bald nach 1990 in Wilhelmstraße rückbenannt wird. – Im Sommer ziehe ich von Berlin-Charlottenburg nach Köflach um, ich werde nie mehr als „Auslandsösterreicherin" für eine Passverlängerung oder Briefwahl jenen Neubau betreten, den Hans Hollein am Rand des Tiergartens für die Botschaft errichten wird. „Sans vun Deitschland?" fragt mich die weststeirische Standlfrau. – Ja, doch nicht so, wie Sie meinen. In „Deitschland" wurde ich 35 Jahre lang für eine Schweizerin gehalten oder bestenfalls für eine Bayerin. Der KORSO geht ins vierte Jahr, und ich kenne ihn noch nicht. 2001 Langsame Eingewöhnung. Alte Freunde aus der Kinderzeit laden mich zu einer Wanderung ein. Es geht in die Gößnitz zu einer Almwirtschaft. Wir sitzen im Freien, von der Mittagssonne beschienen, zwischen wildem Wacholder, Kranabett genannt. Ich trinke zwei Viertel Mineralwasser, denn für Bier oder Wein ist es noch zu früh am Tag. Als ich zahlen will, sagt der Kellner: „I woaß net, wos des kost, wal normal trinkt des koana." Lag es daran, dass er „eigentlich" nur eine Aushilfe war und „uneigentlich" der Vizebürgermeister von Lankowitz? Am Nachmittag des „9/11" 2001 waren meine Berliner Freunde Frida, Esther und Oliver Schmoll zu Besuch, und als die Köflacher Freunde Romy und Mathis Kager voller Aufregung angerannt kamen und von einstürzenden Wolkenkratzern in Neffjork erzählten, dachten wir erst, sie wären übergeschnappt. 2002 Bei Inge und Franz Z. in St. Veit am Vogau zu Besuch. Franz erklärt den Namen Vogau aus dem Slowenischen, „mugan" oder „mogan" heißt so viel wie Biegung, weil die Mur hier nach Osten abbiegt. – Die wunderschöne Barockkirche des Baumeisters Joseph Hueber besuchte ich schon 1974 mit Hans und unserem Sohn Johannes, damals wegen einer Aufführung der Caecilien-Messe von Haydn. Inge erzählt, dass hierher einmal das DDR-Fernsehen kam, in den 70er-Jahren, um zu filmen. Was? Das Deckenfresko von Franz Barazzutti, 1914 bis 1922 angefertigt. Warum? Es stellt – neben anderen wichtigen „Persönlichkeiten" (ein beliebter DDR-Terminus) auch einen gewissen Karl Marx dar, gleich neben Kaiser und Papst, alle hoch oben beisammen. Darunter „das Volk". 2003 Im Februar nehme ich teil an der Friedensdemonstration in Köflach, vor dem neuen Rathaus, bevor ich nach Berlin zu Besuch fahre. Auch dort reihe ich mich, einige Tage später, mit Johannes und Freunden ein in die 34 Kilometer lange Schlange von Menschen, „Lichterkette", die mit Kerzen in den Händen eine Stunde lang die große West-Ost-Achse besetzen. Nicht weit von unserer alten Wohnung stehen wir am S-Bahnhof Heerstraße und hoffen, mit hunderttausend anderen ein Zeichen gegen den Krieg zu setzen. Es ist Winter und kalt. 2004 „Gemma meditiern!" sagt Emanuel, genannt Manu, vier Jahre alt. Seine Mutter Sonu ist Inderin, sein Vater Dan ist Rumäne und arbeitet als Musiker in Graz. Sie besuchen seit kurzem unsere Yoga-Gruppe in Köflach. Manu und sein kleiner Bruder Valentin sprechen deutsch, die Eltern sprechen miteinander englisch. Mein Urgroßvater Hochhauser hieß Emanuel (1822 bis 1908). Als meine Eltern heirateten, am 10. April 1938, war der Vorname des Ahnen verdächtig. Ein Auszug aus dem Taufbuch der Grazer Stadtpfarrkirche musste vorgelegt werden. Emanuel war zwar „ledig", also außerehelich geboren, aber nicht jüdisch, sondern 1822 getauft worden. 2005 „Toni, bist narrisch." Ohne Ausrufungszeichen sagte es der Mann. Im Schaukasten am Eingang zum Friedhof hing eine Todesanzeige für einen gewissen Anton Sowieso. Der Mann stand davor und der Tote war offensichtlich sein Freund, mit 46 Jahren gestorben. Ich stand daneben. Dieser Dialekt hat etwas Entlastendes, fast Therapeutisches. Neulich im Radio Hans Moser in einem Filmausschnitt, er sagt mit hoher Stimme: „Also sammas?", aufgeregt, emotional; und dann, ins fast Hochdeutsche gewendet, die Stimme ein wenig tiefer, versachlicht sozusagen: „Sind mir soweit?" Eine reiche Welt, wenn die Sprache seine Welt ist. 2006 (Aus meinem Tagebuch) Vor einer Grazer Volksschule, 25. Oktober, vor dem Nationalfeiertag: Meine Schwester Gudrun holt einen Erstklässler von der Schule ab. Ein ihr unbekannter Bub stürzt freudig aus dem Schultor, ein selbst gebasteltes rot-weiß-rotes Fähnchen in der Hand. Sein Freund folgt ihm, gar nicht beschwingt, ohne Fähnchen, und offenbart sich ihm irgendwie besorgt: „Meine Mama ist aber eine Deutsche." Sagt ihm der andere beruhigend: „Macht nix, Deutschland gehört eh zu uns." – Ist sein Vater ein Gasthausbesitzer mit vielen netten deutschen Gästen oder ein Lodenproduzent mit guten Abnehmern für Trachtenkleidung in Rosenheim oder Landshut? Oder sieht er ARD-Fernsehen? Am selben Abend: Joe Zawinul sagt im Nationalfeiertags-Radio-Interview, „Österreich ist I A, und USA ist II A.". Ein sehr ottakringisches, undeutsches Interview. Sehr bunt. 2007 Es wird steirisch-patriotisch. Ich gerate zufällig in eine Hochzeitsgesellschaft in einem Bauernwirtshaus auf dem Reinischkogel. Die Musik spielt im Freien, bunte Luftballons werden aufgeblasen und steigen in die Luft. Ein Bub mit Zahnlücke kommt auf mich zu, sechs, sieben Jahre alt, er nestelt an einem Zettel herum, der am unteren Ende seiner Ballonschnur befestigt ist. „Schau, ich möchte dir gerne zeigen, was ich denen wünsche!", sagt er zu mir. Auf dem Stück Papier stand von erwachsener Hand: „Mein Wunsch an das Brautpaar", und auf der Rückseite stand, in Bleistift-Krikelkrakel von Kinderhand: „Meisterschaft GAK" – Und der Ballon stieg in den Himmel. Und der KORSO wird 2007 zehn Jahre alt. Auch eine Meisterschaft! Hedwig Wingler, 1939 als Hedwig Tax in Rosenthal geboren. Dr. phil., wiss. Mitarbeiterin an der Universität Graz (1964 – 1967) und der Technischen Hochschule Darmstadt (1967–1975), 1973 – 2000 in Berlin, u. a. am Regional-Museum Charlottenburg (Ausstellungen zur Zeitgeschichte). Ein Sohn (Johannes) aus der Ehe mit dem deutschen Kunsthistoriker Hans Maria Wingler (1920 – 1984). Seit 2000 in Köflach wohnhaft, Verfasserin der Informationstafeln des „Köflacher Stadtrundganges". Seit 40 Jahren regelmäßig Essays in der Grazer Literaturzeitschrift manuskripte. Seit etwa zehn Jahren schreibt Hedwig Wingler tagebuchartige Texte, die sie „Briefe vom Land" nennt. Die „Annäherungen" sind Auszüge aus einigen dieser Schilderungen der Befindlichkeit, an zwei voneinander entfernten Orten daheim zu sein.
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